Als Abiy Ahmed vor zwei Jahren neuer Ministerpräsident von Äthiopien wurde, da kündigte sich der rasche Wandel im Internet an. Nicht dass dort irgendein Regierungsprogramm vorgestellt worden wäre, die Sensation war, dass es wieder Internet gab – nachdem die Vorgängerregierung es zuvor fünf Monate lang abgestellt hatte.
Es war die Zeit der Überraschungen, und die größte war, dass die autoritäre Staatspartei EPRDF im Frühjahr 2018 den jungen und charismatischen Oromo-Politiker Abiy Ahmed überhaupt als Ministerpräsidenten einsetzte. Man hoffte wohl, dass er die zunehmend unzufriedeneren Oromo beruhigen, zugleich aber das äthiopische Unterdrückungssystem unangetastet lassen werde. Denn seit jeher wurden die Oromo, die mit 25,5 Millionen ein Drittel der Bevölkerung ausmachen, politisch marginalisiert: im 19. Jahrhundert als Sklaven verkauft, später von der kleineren, aber politisch mächtigeren Volksgruppe der Amharen regiert.
Obwohl Abiy Angehöriger der aufbegehrenden Oromo ist, galt er den Parteigranden als treuer Parteisoldat, der in der Armee Karriere gemacht hatte und am Aufbau des äthiopischen Internetgeheimdienstes beteiligt war.
Doch kaum im Amt, setzte Abiy zu einer Art Staatsstreich von oben an. Anstatt ihn zu stützen, baute er den Unterdrückungsapparat zügig ab. Er kippte das Verbot von kritischen Zeitungen und sicherte der Opposition freie Betätigung zu. Als Abiy dann noch Tausende politische Gefangene entließ, schöpften Menschenrechtler Hoffnung. Einer davon war Yared Hailemariam, Direktor der in Brüssel ansässigen Association for Human Rights in Ethiopia. Nach seinem 2005 erzwungenen Gang ins Exil dokumentierte Hailemariam die Menschenrechtsverbrechen in Äthiopien. Ungläubig verfolgte er 2018 den Wandel in seinem Heimatland. Der neue Ministerpräsident schloss sogar Frieden mit Äthiopiens Erzfeind Eritrea, wofür er im vergangenen Jahr den Friedensnobelpreis erhielt. Und er besetzte sein Kabinett zur Hälfte mit Frauen.
In der Hauptstadt Addis Abeba strömten die Äthiopier zu Tausenden auf die Straßen, um ihren neuen Helden zu feiern, der dem Hundert-Millionen-Einwohner-Land endlich Hoffnung machte. Zur Unterstützung seiner Politik rief Abiy unzählige Auslandsäthiopier auf, zurückzukehren und die Demokratie mit aufzubauen. Auch Hailemariam folgte diesem Ruf und betrat zum ersten Mal seit dreizehn Jahren wieder äthiopischen Boden. Das Büro seiner NGO verlegte er von Brüssel nach Addis Abeba – nicht ahnend, wie notwendig es schon bald wieder sein würde.
„Die Menschenrechtslage hat sich in den letzten beiden Jahren sogar noch verschlechtert“, sagt Hailemariam heute beim Besuch in einem schmucklosen Bürogebäude mitten in Addis Abebas Szenebezirk Bole. Von der Regierung hätten er und andere Menschenrechtler zwar nichts mehr zu befürchten, dennoch habe sich die Lage nicht nachhaltig verbessert.
Wie aber kann das sein, dass ein Politiker, der von der Welt für seine Reformen gefeiert wird, für viele Menschen in Äthiopien zur Enttäuschung wird und die Gewalt im Land außer Kontrolle gerät?
Ethnische Konflikte gab es in dem Vielvölkerstaat schon immer, doch wurden sie über Jahrzehnte von der autoritären EPRDF unterdrückt, oft auch gewaltsam. Etliche Aktivisten, darunter auch einige Radikale, gingen ins Gefängnis. Als Abiy 2018 die politische Bühne betrat und viele Inhaftierte begnadigte, da schlug auch die Stunde der politischen Scharfmacher, die jahrelang schweigen mussten. Einer von ihnen war der Aktivist Jawar Mohammed.
Genau wie Abiy gehört auch Jawar der Oromo-Volksgruppe an. Vom alten Regime wurde er als Terrorist verfolgt und schließlich ins amerikanische Exil verjagt. Von Minnesota aus wiegelte Jawar die Oromo in Äthiopien über die sozialen Medien und seinen eigenen Fernsehkanal zu Protesten auf, die mit dazu beitrugen, Abiy ins Amt zu bringen . Nach der Amnestie kam auch der Oromo-Aktivist Jawar zurück in sein Heimatland – zusammen mit der Hoffnung, der erste Oromo-Ministerpräsident Abiy würde seiner Volksgruppe nun zu mehr Posten und Macht verhelfen.
Doch ähnlich wie US-Präsident Barack Obama, der sich explizit nicht als Präsident der Schwarzen verstand, betonte auch Abiy, ein Landesvater für alle sein zu wollen. Wobei seine Unterstützer gern darauf verwiesen, dass nur Abiys Vater Oromo sei, seine Mutter wiederum der Volksgruppe der Amharen angehöre. Aufwiegler wie Jawar aber lassen es heute so aussehen, als habe Abiy ein Versprechen gebrochen, das er in Wahrheit nie gegeben hat – sich nämlich besonders für die Oromo einzusetzen.
Eine Propaganda, die besonders auf dem Land und bei den Armen verfängt. „Als Abiy kam, haben wir gedacht, jetzt würde sich etwas verändern“, sagt Bamud, ein 25-Jähriger aus einem kleinen Dorf zwei Autostunden südlich von Addis Abeba. „Aber mittlerweile sind wir nur noch enttäuscht.“ Mit seinen beiden Geschwistern wuchs Bamud bei den Großeltern auf, weil sein Vater früh starb. Um dem harten Leben auf dem Land zu entkommen, studierte er Betriebswirtschaft in der nächstgelegenen Stadt, doch nach seinem Abschluss suchte er vergeblich nach einem Job. Denn auch unter Abiy hat sich bisher noch kein Wirtschaftsaufschwung eingestellt, selbst bei den Absolventen der renommierten Addis Abeba University liegt die Arbeitslosigkeit im ersten Jahr nach dem Abschluss bei sechzig Prozent.
Der Aktivist Jawar Mohammed nutzt die Enttäuschung der jungen und oft perspektivlosen Bevölkerung aus, um Anhänger zu sammeln. Für ihn ist Abiy schuld an ihrem Elend, zusammen mit den anderen Ethnien im Land. Mittlerweile ist die Lage so angespannt, dass ein einziger Facebook-Post von Jawar genügt, damit Äthiopien wieder in Flammen steht. So behauptete er im vergangenen Oktober in den sozialen Medien, die Polizei würde sein Haus umstellen (was die Regierung als Gerücht zurückwies), woraufhin seine Anhänger zu Hunderten auf die Straße strömten, um zu demonstrieren. Wie so oft mündeten die Demonstrationen in blutige Unruhen, bei denen mindestens siebzig Menschen starben.
Jawar, dem Ambitionen auf das Ministerpräsidentenamt nachgesagt werden, ist nicht der einzige Demagoge im Land. In diesen Tagen gibt es viele Jawar Mohammeds in Äthiopien, nicht nur bei den Oromo, sondern bei fast jeder der über achtzig Ethnien. In der Amhara-Region wurde der Regionalpräsident ermordet, in der Oromo-Region Amhara-Studierende entführt, im christlichen Nordwesten brennen Moscheen, im muslimischen Osten brennen Kirchen. Demonstrationen verwandeln sich in wütende Lynchmobs, wenn sich ihnen keine Sicherheitskräfte in den Weg stellen. Im ganzen Land werden regelmäßig ganze Dörfer von Kämpfern verfeindeter Ethnien überfallen. Äthiopien zählt über drei Millionen Binnenflüchtlinge, mehr als in jedem anderen Land auf der Welt. Die zuständige UN-Organisation OCHA räumt ein, man habe diese humanitäre Katastrophe nicht kommen sehen.
Dennoch glaubt Abiy weiter fest an Demokratie und Meinungsfreiheit. Er will weder Oppositionelle aus dem Land jagen noch ihnen verbieten, auf Facebook zu posten. „Abiy hat Liberalität mit Passivität verwechselt“, klagt der Menschenrechtsaktivist Yared Hailemariam, „und jetzt ist die Lage schlimmer denn je.“
Diesen August sollen eigentlich die ersten demokratischen Wahlen in der Geschichte Äthiopiens stattfinden, aufgrund der Corona-Krise wurden sie verschoben. Vielleicht ergibt sich dadurch für Abiy die Chance, ein Abrutschen des Landes in den Bürgerkrieg zu verhindern. Doch manchmal scheint es, als sei Abiy der Einzige in seinem Land, der noch Hoffnung hat.
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So lala Land
Es sah so gut aus in Äthiopien – doch nun explodiert die Gewalt
Von Yves Bellinghausen