Ganz schön eindringlich

Der Kampf Kapitän Ahabs gegen Moby Dick ist nichts gegen den Feldzug, den mein Vater jahrelang gegen einen Marder und andere Tiere führte – und der sein Leben veränderte. Eine wahre Fabel

Von Kolja Haaf; Fotos: Ania Sudbin

Für den Steinmarder, Martes foina, gibt es leider keinen Fabelnamen wie Isegrim für den Wolf oder Reineke für den Fuchs. Weil es sich hier aber um eine Geschichte handelt, die mit ziemlicher Sicherheit in den Fabelkanon aufgenommen werden wird, habe ich Chat-GPT gebeten, einen Fabelnamen für den Marder zu generieren. Unter reichlich Schund wie „Marlo der Schattenstrolch“ oder „Mardilo“ war der brauchbarste, ja eigentlich sehr passende: „Herr Dämmerpelz“.

Herr Dämmerpelz kreuzte das Leben meines Vaters zu einem Zeitpunkt, den er dramaturgisch nicht besser hätte wählen können. Der Mann war gerade in Rente gegangen und hatte Zeit. Zeit, sich mit Haut und Haar einem einzigen Daseinsgrund zu verschreiben – dem letzten großen Kampf im Herbst seines Lebens. Einem monumentalen Ringen mit Wildnis und Dunkelheit. Einer einsamen Götterdämmerung. Mann gegen Marder. 

Meine Mutter war die Erste, die das Vieh bemerkte. Herr Dämmerpelz trapste nachts irgendwo durchs Gebälk über ihrem Schlafzimmer und schickte ihr närrische Träume. Meine Mutter wollte keine närrischen Träume. Sie sprach bei ihrem Mann vor und meldete ihr Ungemach. In seinen Augen flammte ein dämonischer Funke auf, weil er ahnte, dass ihn hier das Schicksal rief. Und er verkündete, dass er nicht eher ruhen werde, bis sein Weib wieder schlafen könne, weil es ja – anders als er – rechtzeitig aufstehen müsse, um mit dem E-Bike zum Herzzentrum im Nachbarort, ihrem Arbeitgeber, zu fahren. 

Die erste Maßnahme war ein Radio. Radios sollen Marder fernhalten, stand im Internet. Das Radio hielt den Marder nicht fern. Und weil meine Mutter wegen des ununterbrochenen Geklimpers von „Radio Pure Bach“ – mein Vater duldet keine Musik außer Bach – erst recht nicht mehr schlafen konnte, kaufte mein Vater viele, viele Meter Stacheldraht und ließ sie unter Mithilfe eines Handwerkers verlegen. Damit war eine Schwelle überschritten. Es sollte eine Heldenreise folgen, reich an Schweiß, Blut und unerwartet zarten Gefühlen.

Herr Dämmerpelz bei einem Nachtspaziergang

Hier aber erst ein paar nötige Fakten über meinen Vater und unser Haus: Das Haus befindet sich in einem süddeutschen Städtchen und wird seit über 400 Jahren von unserer Familie bewohnt. Und darin liegt ein Schlüssel zur ausgeprägten Schrulligkeit meines Vaters und seines archaischen Marderhasses. Unsere Vorfahren waren nämlich alle Gerber. Und Gerber stanken. Und weil sie stanken, mussten sie außerhalb der Stadtmauer leben. Sie waren stinkende Außenseiter, und obwohl das Haus mittlerweile mitten in der Stadt steht, wurde sowohl ihr Groll auf die innerhalb der Mauer Lebenden als auch ihre Kauzigkeit, die sie draußen vor der Mauer ungestört kultivierten, über Generationen hinweg weitergegeben. 

Bei meinem Vater ist beides vollendet ausgeprägt. Als er mit Mitte dreißig seine vielversprechende internationale Karriere als Physiker für seine junge Familie abbrach, zurück ins Stammhaus zog und einen popeligen Computerladen aufmachte, war er nicht wenig verbittert. Es war seine Heimat, und gleichzeitig fühlte er sich zu groß für die als kleingeistig empfundene Umgebung. Von Anfang an pflegte er eine gewisse Distanz zur konservativen Bürgerschaft des Städtchens und rühmte sich zum Beispiel, als einziger Bürger die PDS statt der CDU zu wählen. Den wenigen Gästen in unserem Haus erzählte er immer ungefragt von seinen Physiker-Abenteuern in Spanien, Saudi-Arabien oder Grönland. Als er dann in Rente ging, versuchte er noch einmal, wissenschaftliche Artikel zu veröffentlichen, was aber nicht gelang. Er gab auf. Ein Leben, gelebt unterhalb seiner Möglichkeiten.

Jetzt brütete er in den Ecken des großen alten Hauses vor sich hin, hörte Bach und trank zu teuren Wein, während seine Augenbrauen wild wucherten. Der Typus des grantelnden Alten, der seinen Frust über verpasste Chancen und Bedeutungslosigkeit an Gendersternchen und Ausländern rauslässt, fiel für ihn aus politischen Gründen weg. Als dann der Marder kam, sah er ihn deshalb nicht nur als Eindringling, sondern auch als letzte Prüfung, mit der er seinen ganzen Groll sublimieren und dem Leben noch einmal ins Gesicht spucken konnte. Und nicht zuletzt kochte in ihm das Gerberblut, das dem Dämmerpelz instinktiv den Dämmerpelz gerben wollte.

Der Stacheldraht kümmerte den Marder nicht. Vielmehr schien er bald an mehreren Orten gleichzeitig aufzutauchen. Das Haus ist so groß, dass noch vier Mietparteien darin wohnen. Alle begannen nach und nach, sich wegen des Gekratzes und Gestanks zu beschweren. Die Mutter eines Neugeborenen kam aufgelöst zu meinen Eltern, weil Herr Dämmerpelz vor ihrem Wohnzimmerfenster vorbeigehuscht war und sie Angst hatte, er könne ihr Kind fressen.

Als Nächstes verteilte mein Vater überall im Haus Klosteine mit verschiedenen Düften und Farben, dazu Hundehaare, deren Geruch Herrn Dämmerpelz vertreiben sollte. Besonders viele legte er auf den großen alten Speicher, auf dem er die Brutstätte des Marders wähnte. In der Dämmung einiger Wände fand er Nester, die er vernichtete, um die Zwischenräume dann mit Bauschaum auszufüllen. Doch Herr Dämmerpelz blieb. Mein Vater bestellte einen riesigen Marderkäfig, der ihn lebend fangen sollte, weil er unter Naturschutz steht und eigentlich nicht gejagt werden darf. Als Köder versuchte er auf Empfehlung von obskuren Internet-Marder-Gurus nacheinander rohe Eier, gekochte Eier, Schokolade, Trockenpflaumen und schließlich ein sündhaft teures Marderlockmittel. Herr Dämmerpelz ließ sich davon nicht beeindrucken. Mein Vater kaufte zwölf Überwachungskameras mit Infrarotfunktion, die rund um die Uhr aufzeichneten. Er installierte sie im ganzen Haus, innen und außen, über seinen Computer hatte er Zugriff auf alle Kameras. Der stand in seinem Zimmer hoch oben über Haus und Garten – meine Brüder und ich nannten es „die Schaltzentrale“ –, wo dieser Kapitän Ahab bis tief in die Nacht französische Schwarz-Weiß-Filme schaute, gleichzeitig über die Kameras sein Erb und Eigen überwachte und strengen Blickes Ausschau hielt nach seinem weißen Wal.

In einer lauen Sommernacht saßen meine beiden Brüder und ich bei Kerzenschein auf der Terrasse und plauderten. Als aus der Dunkelheit des Gartens eine Stimme kam. Eine meckernd hohe Stimme: „Biiitte etwas leiiiser!“ Es grauste uns. Wir waren ganz still und schauten uns entsetzt an. Dann noch mal: „Biiitte etwas leiiiser!“ Die Stimme schien aus dem Fahrradschuppen zu kommen. Plötzlich ging zwei Stockwerke über uns ein Fenster auf, und unser Vater rief vergnügt herunter, dass er das sei, über die Sprachfunktion der Kamera im Fahrradschuppen. Ob er wohl nächtens auch zu Herrn Dämmerpelz sprach, wenn der im Infrarotlicht auftauchte? Und wenn ja, welche dunklen Worte mochte er dann in sein Headset raunen?

Trautes Miteinander zwischen Igel und Waschbär

Die Kameras hatten keine Bewegungsmelder, was heißt, dass unser Vater Hunderte Stunden Videomaterial sichten musste. Anschließend schickte er dann immer wieder Stellungnahmen und Screenshots in den Familienchat. Herr Dämmerpelz stünde nur lange sinnierend vor den Trockenpflaumen auf der großen Marderfalle und ginge dann wieder. Die Mäuse fraßen stattdessen alles, und der wilde Ritt ging weiter: Er verlegte 220-Volt-Leitungen auf die Dächer, an denen er zwei Hochfrequenz-Abschreckanlagen anschloss. Er verlegte spezielle Mardergitter auf den beiden Speichern. Er handelte einen Sonderpreis für ebenso spezielle Marder-Plastikmatten aus, gedacht für Motorräume von Autos: 600 Euro für sechzig Quadratmeter.

Verschwand Herr Dämmerpelz? Nicht doch: Herr Dämmerpelz blieb.

Und mein Vater blühte erstaunlicherweise auf. Er baute eine Gartenlaube, pflanzte Pflanzen, werkelte an allen Ecken. Und je mehr er werkelte, desto eifriger verteidigte er auch sein Reich gegen jede Fremdfauna. Als ein Graureiher die Goldfische im Teich fraß, spannte er ein engmaschiges Netz aus Angelschnüren über dem Tümpel und stellte einen lebensgroßen Plastikreiher ans Ufer. Der echte Reiher kam wieder, starrte den falschen an und schnappte sich dann weitere Goldfische. Wenig später entfernte mein Vater die Schnüre und kaufte regelmäßig neue Goldfische für den Reiher. 

Ein weiteres Monument der Schrulligkeit war, als der alte Zausel frühmorgens im Pyjama mit dem Luftgewehr aus seinem Fenster auf die Krähen in der großen Tanne schoss, die ihn aufgeweckt hatten, während im Hintergrund die Arie aus dem Bach-Werke-Verzeichnis Nr. 57 dröhnte: „Ich wünschte mir den Tod. Den Tooood …“

Aber nach und nach mischten sich unerwartet milde Töne in den Familienchat. Er schickte nicht mehr grimmig kommentierte Screenshots von Mardersichtungen, sondern von all den anderen Tierlein, die die Kameras festhielten, teilweise mit wunderlichen Zeilen versehen:

Es grüßt in grauer Morgenstund

Ein Vögelchen mit grauem Schlund

… doch halt, im Schein der Morgensonn’

Erhebt’s den Schwanz in güld’ner Wonn’!

Etwas war geschehen. Es sei ein langsamer, sanfter Wandel gewesen, sagte mir mein Vater später. Die putzige Vielfalt der Schöpfung, die er über seine Kameras beobachten konnte, ja, die habe was mit ihm gemacht. 

Dennoch jagte er den Marder vorerst weiter. Ein indonesischer Junge sei es gewesen, der die Lösung zu haben schien. Auf YouTube habe der Tausende Klicks bekommen für eine komplizierte Apparatur zum Rattenfang. Mein Vater baute das Ding nach, mit Schwarzwälder Schinken als Köder, und installierte eine Kamera davor. Eine Ratte lief vor laufender Kamera in eine Rattenfalle neben der Tonne und verendete. Wenig später tapste Herr Dämmerpelz ins Bild, schaute die tote Ratte an, dann in die Kamera. So ein unendlich müder Blick sei das gewesen, erinnert sich mein Vater an diese Nacht vor seinem Computer. Da schauten sich also zwei gealterte Recken an, die sich beide mehr vom Leben versprochen hatten und die nicht mehr kämpfen wollten. Es freut mich, dass mein Papa nicht wie Kapitän Ahab in unversöhnlichem Hass auf das Schicksal im direkten Zweikampf mit seiner Nemesis in den Tod gegangen ist. Er konnte loslassen. Und wer aus dieser Fabel etwas lernen kann – nur zu. Ich selbst befürchte, dass der Fluch des schmollenden Stinke-Gerbers, der sich zu Höherem berufen fühlt, nicht an mir vorüberziehen wird. Meine Augenbrauen beginnen zu wuchern. Ich habe kürzlich Bach gehört. Wenn nicht bald der große Durchbruch kommt, dann, Herr Dämmerpelz, bist du fällig!

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