„Die einen kennen mich, die anderen können mich“
Arbeit? Nee, lass mal stecken. Uli macht den ganzen Tag gar nichts
Von Hilka Dirks
„Ick sach immer, wenn dem dit Essen nich jeschmeckt hat, dit hätt’ der einfach sagen können. Stattdessen legt der sich hin und wacht nich mehr uff. Aber is ja nu ooch schon lange her …“ Das war 2007, da starb Ulis Mann. Danach hat sie ein paar Jahre als Hausmeisterin gearbeitet. Natürlich schwarz. Und auch nur wegen des Führerscheins für den ältesten Sohn.
Wenn man Ulis Erdgeschosswohnung betritt, wird es erst mal kurz dunkel. Ein schwerer grüner Stoff hängt vor der Eingangstür, gegen die Zugluft. Es riecht intensiv. Nach Waschmittel und Filterzigarettenasche, nach Frittiertem, Haustieren und nach lange nicht gelüftet. Dabei ist immer ein Fenster auf, zumindest im Sommer. Dann lehnt Uli auf einem Kissen, die tätowierten Unterarme aufgestützt, immer für ein Schwätzchen zu haben, mindestens einen flapsigen Spruch, beobachtet, kommentiert, kontrolliert.
Uli ist 56 Jahre alt. Sie könnte auch Mitte vierzig sein. Oder Mitte sechzig. Seit 39 Jahren wohnt sie in der Straße, seit 1989 im Haus, seit 2007 in dieser Wohnung direkt an den Treppen, wo die Postboten immer alles abgeben. Manchmal klingeln die Nachbarskinder, „einfach nur, weil die jerne Knöpfchen drücken“. Das macht Uli wütend. „Hätte es früher nich jejeben. Da wurde noch richtich erzogen. Aber so is dit halt, wenn man unten wohnt – Doppelarschkarte.“
Jahreszahlen weiß sie aus dem Kopf wie keine andere: „Da musste dir einfach ’ne Eselsbrücke bauen, janz einfach, dann kannste dir allet vonner Welt behalten.“ Ein ganz wichtiges Datum ist 1984, da kam Ulis erster Sohn, seitdem hat sie nicht mehr gearbeitet. Damit ist sie eine von 70.438 Personen, die die Arbeitsagentur in Berlin im März 2022 als „Langzeitarbeitslose“ führt.
Uli sucht gar keinen Job mehr. Wie es dazu kam? Nach der Mittleren Reife absolviert sie eine Lehre zur Konditoreifachangestellten; Bäcker Goldhase am Ku’damm. Sie fängt an zu arbeiten, lernt ihren Mann kennen, wird schwanger und zieht von Spandau zu ihm nach Neukölln. Der erste Sohn kommt, der Mann arbeitet bei der Dresdner Bank, Uli bleibt zu Hause. Fünf Jahre später der zweite Sohn. Immer sind Kinder im Haus, meist wesentlich mehr als die eigenen zwei, Uli kümmert sich um alle. „Pommes, Pommes, Pommes, Fischstäbchen und drei Jrößen Buletten; kleen, janz kleen und Riesendinger. Dit gab’s immer. Haben alle jeliebt. Aber ick ess am liebsten nur Süßes.“
Die Söhne werden größer, Uli bleibt trotzdem zu Hause, hilft in der Nachbarschaft, wo sie kann und will, mal als Altenpflegerin, mal in der Kneipe. Zurück in den Backshop will sie nicht, lange hält sie es nirgends aus.
Die Söhne kommen in die Pubertät, mit ihr kommt der Streit. „Zum Sechzehnten haben wir dem Jroßen die Zweizimmerwohnung nebenan gemietet. Schlüssel rein, bitte sehr, tschüss. War ja nich mehr auszuhalten. Nur dass er da gleich zu zweet einjezogen is, dit hat er uns erst mal schön verheimlicht.“ Die Söhne werden selbstständiger, die Haustiere – zwischendurch ein halber Zoo – werden abgeschafft. Uli bleibt trotzdem zu Hause. „Arbeit, die mir Spaß macht? Dit kann ja niemand ernst meinen. Nee, echt nicht. Ich mach lieber nichts.“
Wenn Uli spricht, sprudeln die Worte aus ihrem Mund. Ihr Oberkörper schwankt, erzählt mit, die Augen leuchten. Eloquent, mit starkem Berliner Dialekt erzählt sie ihr Leben, spricht von den Söhnen, dem Mann, der Hausbesitzerin, den anderen Mietern, dem Kiez, der Stadt, von Veränderung und Stillstand.
Sie hofft, die Küche sei in Ordnung für die Unterhaltung. „Viele finden’s ja zu dreckig, mir reicht dit so. Man muss sich ja nur zurechtfinden, und wer’s nicht aushält, muss ja nich kommen. Die einen kennen mich, die anderen können mich.“ Uli liebt Aphorismen.
Der Tisch klebt ein wenig. Der PVC-Bodenbelag auch, viel steht nicht herum. Drei Regalreihen voller Kaffeebecher, billige Städtesouvenirs. Alles Geschenke. Sammeln aus Pragmatismus statt Leidenschaft. „Müssen ja irgendwohin. Passen ja nich mehr in den Schrank.“ Städtereisen macht Uli keine. Zu teuer. Und wofür? Sieht doch überall gleich aus in den Städten, und zu Hause schläft es sich eh am besten. Unterwegs ist Uli trotzdem viel. Eigentlich immer, sagt sie. Mit dem Flixbus. Tagesausflüge an die Ostsee funktionieren prima. Da muss man nur morgens ganz früh raus und ab an den Strand. Lernt man auch immer neue Leute kennen. Oder einfach nur raus in den Kiez, den Park. Da lernt man natürlich auch andauernd Leute kennen. Allerdings verschwinden die meisten nach ein paar Jahren wieder. Das Grüßen auf der Straße, das hat abgenommen. Klar, da gibt es die paar Alten wie sie, oder Herrn Krafft aus dem Seitenflügel – der wohnt noch länger im Haus als sie. Klar, Wolfgang und Claudi, denen die Kneipe im Haus gehört (einen Sommer lang war Uli immer da. Ist aber eigentlich langweilig, immer das Gleiche. Da kann man besser im eigenen Wohnzimmer trinken), Susanne, die Friseurin nebenan (bei der darf man sogar noch im Salon rauchen, aber ihre letzte Zigarette hat Uli am 12. Februar 2013 geraucht), und ein paar andere Gestalten. Aber insgesamt kennt man dann doch immer weniger.
Die Söhne sind oft zu Besuch. Vor allem der ältere, zum Waschen. Der raucht dann in der Küche.
Der ist auch arbeitslos, aber mit Behindertenausweis. „Dem jeht’s jut“, sagt Uli, der wolle es ja auch nicht anders. Der Ausweis ist eine prima Ausrede. So hat er auch mehr Zeit für die Kinder. Zwei Töchter. Der andere Sohn hat auch zwei. War erst Polizist, jetzt Ordnungsamt. Weniger Arbeit.
Vier Enkelkinder, ist das nicht sehr erfüllend? Uli zuckt mit den Schultern. Klar sieht sie die gern, aber das Thema Kinder hat sie ja nun auch schon lange durch.
Arbeit schaffe Selbstbewusstsein, das Gebrauchtwerden wirke sinnstiftend, so heißt es, der Mythos von Arbeit gleich Würde. Aber Ulis Würde ist auch ohne Arbeit unantastbar. „Ick hab halt so viel Neugier und so wenig Geduld. Da hält man keenen Job durch – wozu auch? Dit Geld liegt ja uffer Straße. Muss man einfach nur einsammeln. Haste mal in die Zu-verschenken-Kisten jeguckt?“ „Was die Leute nich alles wegjeben“, sagt sie, das sei ja alles noch gut. Schwups, Handyfoto und Ebay-Kleinanzeige, und schon ist wieder ein bisschen Geld verdient.
Am 1. September 2019 hat sie einen Zettel aufgehängt. „Pfandflaschen hier —>“, steht drauf. Nach einem Jahr hatte sie 127 Euro Pfandgeld. Davon hat sie sich den Massagesessel gekauft. Im nächsten Jahr waren es schon 160 Euro. Das dritte Jahr läuft. Bis heute sind es 137 Euro, und Ulis Jahr des Pfands geht noch bis zum 31. August.
Alles wird gespart – für ihren großen Traum. Einmal nach Australien reisen. Im Wohnzimmer, wo der Massagesessel leise brummt, hängt ein Kängurufell an einer bemalten Wand. Darauf ein Kontinent, Aborigines, Papageien und Koalas. Alles selbst gemalt. Davor lehnt ein Didgeridoo an einer riesigen Holzschildkröte. Australien sei das Land Gottes, findet Uli. Nirgendwo sonst gebe es so viel Natur, so viele Korallen und Wälder, Tiere und Pflanzen. „Hab ’nen Internetjutschein fürn Flug jewonnen“, sagt Uli, „mit dem und noch zwei Jahre Pfand, dann jeht’s los.“