Was für ein Fight!
Als Britin fühle ich mich in Deutschland oft sehr englisch. Aber das ist nichts dagegen, wie deutsch ich mich inzwischen in England fühle. Bekenntnisse einer Zerrissenen
Von Jacinta Nandi
Einer Ex-Schwiegermama, die von mir nie Schwiegermama genannt werden wollte, ging es wie mir – nur andersrum. Sie wurde in Deutschland geboren, zog später nach England und bekam dort zwei Kinder. Sie unterrichtete Deutsch an der Uni in Manchester, ging in eine deutsche Kirche, kaufte deutsches Brot, all ihre Freundinnen waren aus Deutschland. Wenn mein damaliger Freund und ich ihre kleine deutsche Welt in einem Vorort von Manchester besuchten, sprachen wir an einem einzigen Wochenende mehr Deutsch als in einem ganzen Jahr in unser Neuköllner Expat-Bubble.
Meiner Ex-Schwiegermama blieb England immer suspekt. Sie hasste es nicht, nein, sie staunte einfach nur die ganze Zeit – und fragte viel.
„Warum mögen die Engländer Heinrich den Achten so gern?“, fragte sie mich eines Tages, als eine Dokumentation über ihn im Fernsehen lief. Sie sagte „Engländer“, nicht Briten.
„Ich weiß es nicht“, antwortete ich. „Aber er ist doch auch faszinierend, oder? Und sehr männlich und glamourös. Außerdem hat er uns von den Römern befreit.“
„Du findest ihn also gut?“, setzte sie nach. Ihre Augen glänzten, sie wollte es unbedingt verstehen.
„Nicht unbedingt gut, aber schon interessant. Ich habe neulich eine Biografie über ihn gelesen.“
„Ich verstehe nicht, was ihr an ihm findet“, sagte sie kopfschüttelnd. „Er war so brutal! Und ein Diktator!“
Ein anderes Mal beobachtete sie meinen halb deutschen, halb britischen Sohn, als er eine Tafel Cadbury-Schokolade aß.
„Mag er die?“, fragte sie mich ungläubig – und ihn: „Schmeckt es dir?“
Mein Sohn antwortete mit vollem Mund: „Total.“
Eindringlich schaute sie mich an. „Glaubst du, sie schmeckt ihm wirklich, oder will er nur höflich sein? Als deutsches Kind kennt er ja Ritter Sport und weiß, wie Schokolade eigentlich schmecken sollte.“
„Ich glaube, wir Briten denken, dass Schokolade wie Cadbury schmecken soll!“, sagte ich.
Sie guckte mich an und schwieg. Schließlich sagte sie: „Ich werde euch nie verstehen!“
Wie meiner Ex-Schwiegermama geht es mir manchmal in Deutschland. Es gibt vieles, was ich nicht verstehe. Was hatten denn zum Beispiel alle gegen Christian Wulff? Oder warum hassen plötzlich alle Thomas Gottschalk, der schon sexistisch war, als ihn noch alle mochten? Und warum glauben hier nette, freundliche, sympathische Menschen, dass es zum sozialistischen Klassenkampf gehört, dass die Leute, die in Supermärkten und Drogerien arbeiten, total unfreundlich sein müssen? Würde deren Arbeit nicht mehr Spaß machen, wenn sie zu ein wenig Small Talk bereit wären – oder wenn sie uns zumindest respektvoll behandeln würden?
Es gibt auch Dinge, bei denen ich total bicultural bin. Dieses Wort habe ich gerade erfunden, und es meint Folgendes: Ich kann beide Kulturen verstehen und genau deswegen meine Meinung schnell ändern. Je nachdem, wo ich mich gerade aufhalte. Wenn ich in Deutschland bin, finde ich zum Beispiel, dass kleine Kinder nicht an eine Leine gehören.
„Es ist schon krass“, echauffierte ich mich mal gegenüber einer Freundin, „dass man in England Kinder an die Leine nimmt.“
„Ja, das ist so unmenschlich!“, pflichtete sie mir bei, und ich nickte.
Doch sobald ich in England bin, vergesse ich, was ich in Deutschland gesagt habe. Schon nach zwanzig Minuten in London sehen die Kinder, die über einen langen Gurt an ihrem kleinen Rucksack mit ihren Eltern verbunden sind, nicht mehr so schlimm aus. „Die Deutschen müssen immer übertreiben“, sage ich zu meinem ältesten Sohn, als ein Vater vorbeiläuft, der sein Kind glückliche zwei Meter von sich entfernt hält, während mein kleiner Sohn wie ein Besessener an meiner Hand zieht. „Wenn Berlin so hektisch wie London wäre“, erkläre ich, „würden auch deutsche Eltern ihre Kinder an die Leine nehmen!“
Aber dann gibt es auch Situationen, die mich wirklich schockieren. Situationen, in denen mir mein Herkunftsland wie eine fremde Welt vorkommt.
Kurz vor der Corona-Pandemie klopfte es an der Haustür – ich war gerade zu Besuch bei meiner Familie in der Ostlondoner Vorstadt Seven Kings. Ein Nachbar wollte uns ein paar geklaute Handys verkaufen. Natürlich sagte er nicht, dass sie geklaut waren, sondern sprach davon, dass sie vom Lkw gefallen seien.
„Nein danke“, lehnte ich freundlich ab.
„Wir sollten sie uns zumindest mal anschauen“, intervenierte meine Tante, eine nette englische Dame, die nicht so aussieht, als kaufe sie geklaute Telefone.
„Warum?“, fragte ich.
„Vielleicht ist ja ein gutes dabei“, erklärte sie.
Ich flüsterte: „Du willst geklaute Handys kaufen?“
Sie sagte sehr höflich: „Ich will sie doch nur anschauen, aus Neugier.“
In diesem Moment fühlte ich mich sehr, sehr deutsch. Denn diese Art englischer Neugier kann ich nicht mehr nachempfinden.
Wochen später, wieder bei meiner englischen Familie, zu Pandemie-Zeiten, klingelte eine kleine indische Dame bei uns.
„Es gibt einen Fight auf der Straße nebenan“, sagte sie. „Wir sollten uns das anschauen!“
„Oh, ich kann leider nicht“, entschuldigte ich mich. „Ich befinde mich in Quarantäne.“
„Aber es gibt doch einen Fight“, erklärte sie noch einmal, und dann gingen wir alle los – ich, mein Sohn, mein Bruder, meine Tante.
Zwei Menschen schlugen sich, und alle kamen auf die Straße, um zu gucken.
„Wollen wir nicht die Bullen rufen?“, fragte ich.
„Warum?“, fragte meine Tante. „Ist doch nur ein Fight.“
Nach einer Weile wurden die beiden Männer von den Ladenbesitzern, vor deren Geschäften sie sich prügelten, getrennt, und wir gingen nach Hause, alle erfreut über die schöne Abwechslung.
„Es ist ziemlich lange her, dass es hier zuletzt einen guten Fight gegeben hat“, sagte die kleine indische Dame zur Verabschiedung.
London soll angeblich eine der unfreundlichsten Städte Englands oder sogar Großbritanniens sein, und doch wirke ich dort oft unfreundlich. Es gilt zum Beispiel als unhöflich, wenn ich mich mit dem Ladenbesitzer beim Kauf einer Tüte Chips nicht mindestens fünf Minuten über die Geschmacksrichtung der Chips austausche. Mein Sohn ist da anders, er holt sich in England jeden Tag in verschiedenen Läden eine Tüte Chips.
„Sie schmecken ein bisschen wie Brathähnchen, nur besser“, erklärte mein Sohn neulich dem Chips-Verkäufer. Plötzlich horchten alle um uns herum auf und taten ihre Meinung kund. „Wenn du die magst, musst du unbedingt den neuen ‚Monster Munch‘ probieren“, sagte ein älterer Herr. „Das ist wirklich was ganz Besonderes.“ Ein anderer Mann mischte sich ein: „Ach, die sind doch total überbewertet!“
Mit Sicherheit ging das Chips-Gespräch noch weiter, als ich mit meinem Sohn schon längst auf dem Nachhauseweg war.
Überhaupt, dass Chips als eine richtige Mahlzeit gelten – da fühle ich mich schon sehr deutsch. „Du sollst deine Chips aufessen, Leo, bevor du Nachtisch bekommst“, sagte meine Tante zu meinem Sohn – und ich schüttelte insgeheim den Kopf.
m fremdesten aber – oder besser: am deutschesten – fühle ich mich im öffentlichen Nahverkehr. Einmal war ich mit meinem fünfjährigen Sohn unterwegs und fragte die Schaffnerin, ab welchem Alter ich für ihn zahlen müsse. „Ab sechs“, sagte sie. „Aber Sie können immer lügen!“ Zu meinem Sohn sagte sie: „Du bist immer so alt, wie Mama sagt: im Zug, im Museum, im Schwimmbad.“ Dann wandte sie sich wieder mir zu: „So mache ich das mit meinen Enkelkindern. Das spart sehr viel Geld.“
Ein anderes Mal hatte mein kleiner Bruder unfassbar günstige Tickets für eine Reise von London zu Verwandten in Nordengland gekauft: 3,99 Pfund pro Person – für ihn, für mich und für meinen Sohn. Es waren anstrengende zwölf Stunden von London nach Doncaster – erst mit dem Billigzug, dann mit dem Billigbus, dann wieder Billigzug und zuletzt wieder Billigbus.
Losgehen sollte es am Bahnhof London King’s Cross. Doch mein Bruder fand heraus, dass es auch einen direkten Zug nach Doncaster gab, und schlug vor, mit unseren Billigtickets in diesen Zug zu steigen. Ich googelte kurz und sah, dass diese Tickets über hundert Pfund kosteten.
„Ich finde es zu riskant“, sagte ich. „Oder willst du irgendwo im Nirgendwo aus dem Zug geworfen werden?“
„Du bist so paranoid!“, antwortete mein Bruder. „Denkst du ernsthaft, sie schmeißen Leute mit Kindern raus?“ Kurz musste ich an Deutschland denken, wo ein Schaffner einen Dreizehnjährigen aus dem Zug geworfen hatte, weil der keinen Schülerausweis dabeihatte.
Schließlich willigte ich ein, war aber auf der kompletten Fahrt ein nervöses Wrack. Jedes Mal wenn der Schaffner vorbeilief, zuckte ich zusammen, als würde ich von Interpol gesucht.
„Warum fragt er uns nicht nach den Tickets?“, flüsterte ich meinem Bruder zu, der dem Schaffner freundlich zuwinkte.
„Weil er davon ausgeht, dass wir das richtige Ticket gekauft haben“, flüsterte mein Bruder zurück. „Er kontrolliert nur, wenn er denkt, dass wir schwarzfahren!“ Ruhiger wurde ich dadurch natürlich nicht.
Als wir in Doncaster ankamen, fragte uns das Sicherheitspersonal auf dem Bahnsteig nach unseren Tickets. Nun, mutmaßte ich, würde mein Bruder sehen, wie recht ich gehabt hatte. Dem Zusammenbruch nahe, überreichte ich den Uniformierten unsere Billigtickets und fragte vorauseilend, ob wir nun eine Geldstrafe zahlen müssten. Ich fragte sehr respektvoll, ich fragte sehr DEUTSCH, während mein Bruder den Männern nur kumpelhaft entgegnete: „Wir werden doch wohl für einen aufrichtigen Fehler keine Geldstrafe bekommen!“
„Na, jetzt ist es ja eh zu spät, das richtige Ticket zu kaufen“, antworteten die Sicherheitsleute fröhlich. „Und eine Geldstrafe verhängen wir bestimmt nicht, nur weil jemand im falschen Zug sitzt. Hauptsache, ihr achtet beim nächsten Mal darauf!“
Neulich traf ich meinen Ex in Neukölln wieder. Er erzählte mir, dass seine Mutter nach dem Brexit nach Deutschland zurückgezogen sei – aber nach einem Jahr hier nun doch wieder in England lebt. „Sie konnte sich einfach nicht daran gewöhnen, wie unfreundlich hier alle waren“, erklärte er.
Ich nickte, denn ich verstehe sie voll und ganz.
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