Neulich auf dem Radweg. Der Autofahrer hatte nichts gemacht – okay, er war leicht auf die Radlerspur gekommen, aber das musste man schon mit dem Geodreieck nachmessen. Und dennoch wurde übelst geschimpft. „Geht’s noch???“, „Mann, das ist ein RADWEG!!!!“, Stinkefinger, erhobene Fäuste, das übliche Gestengedöns.
Nicht dass ich nicht grundsätzlich Radfahren als sehr viel vernünftiger ansehe als das Bewegen von zwei Tonnen Blech, um die Kinder in die Schule zu bringen, aber diese Aufgeregtheit, dieses Unerbittliche aufseiten derer, die sich moralisch erhaben fühlen und die ein mit Allwetterkleidung und ganz vielen Ausrufezeichen ausgestattetes Leben führen, das stößt mich ab. Da bin ich ja fast lieber bei denen, die im Auto sitzen, Deutschlandfunk hören und den Stau genießen. Naja, fast.
Polarisieren dient der Selbstvergewisserung; durch ständiges Wiederholen von Stereotypen werden Freund-Feind-Konstellationen zementiert. Die Sinnfrage entschwindet so im Pulverdampf. Rituelle Polarisierungen begegnen uns ja täglich, auf dem Radweg, auf der Demo („Scheißbullen!!“), zwischen den Städten Köln und Düsseldorf, zwischen den Fußballvereinen Schalke 04 und Borussia Dortmund, zunehmend zwischen Vegetariern und Fleischfans, immer bei politischen Extremisten. Wichtigstes Instrument der Polarisierung ist das Viktimisieren, eine Opfererzählung.
Es geht aber nicht um tatsächliche Opfer, sondern um eine Selbststilisierung, die vielmehr einem Verhöhnen wirklicher Opfer gleichkommt. Ob Viktor Orbán oder Trump, Diktator oder Sektenführer, Alt-Right-Bewegung oder Antifa – wann und wo immer eingepeitscht werden muss, sind die Rollen klar besetzt: wir Opfer im heroischen Kampf gegen „die“, „die“ Juden, „die“ Einwanderer, „die“ Borussen, „die“ Außerirdischen, „die“ Kapitalisten – jede Massenhysterie braucht ihr möglichst anonymes Feindbild, „die“ eben. Nichts schweißt eine Gruppe fester zusammen als eine vermeintliche Übermacht, die mit allen schmutzigen Tricks die Weltherrschaft erobern will. So funktioniert die Hälfte aller Hollywoodfilme und jeder Superhelden-Comic. Wir gegen die – ein wunderbar schlichtes Narrativ, das einerseits zuverlässig funktioniert, andererseits aber ebenso stracks in Konflikte führt.
Das Duale ist das beherrschende Ordnungsprinzip unserer Zeit, die Tage der Zwischentöne sind gezählt, wir leben unter der Fuchtel des einfachsten aller Algorithmen: ja oder nein, eins oder null, rot oder blau – alles schön einfach, und in Kombination mit modernster Technik brandgefährlich. Verstärkt vom digitalen Hammer ist spätestens seit dem Präsidentschaftswahlkampf 2016 ersichtlich, wie die Polarisierung eine Gesellschaft erstarren lässt. Das Land ist gespalten, die Menschen grummeln in ihren Filterblasen, Familien und Freundeskreise driften auseinander. Die Algorithmen trennen die Lager immer weiter, weil den Menschen vor allem manipulative Informationen zu emotional aufgeladenen Symbolthemen wie Zuwanderung, Abtreibung, Waffenbesitz zugespielt werden, die die eigene Position zur einzig wahren erklären und keine Widerrede dulden. Und eines Tages ist der Graben so tief, dass kein Dialog mehr möglich ist. Gebrüll statt Debatten, kollektive Unversöhnlichkeit, wie sich, allen westlichen Gesellschaften voran, in den USA studieren lässt.
Das Wesen der Demokratie aber ist der Kompromiss, das Aufeinanderzugehen, das Suchen und Finden von Gemeinsamkeiten, auch das Abgeben, kurz: Verständnis, Respekt, Lösungswille. In der polarisierten Welt dagegen regiert das Beharren und Niedermachen. Gemeinsames Terrain? Verschwindet im Abgrund zwischen Unversöhnlichen.
In der Polarisierung verlieren Argumente jede Wirkung. Nur das eigene Meinen zählt. Zurückweichen gilt als Schwäche. Debatte ist, wenn jeder seine Gründe aufsagt und die des anderen abwertet. Wie im Fußballstadion wird gebrüllt, anders als beim Gespräch zielt das Interesse der Akteure nur auf den totalen Sieg. Wo es aber nur Sieger und Verlierer geben kann, sind üble Scherze, Verleumdungen, Lügen erlaubt. Polarisieren bedeutet immer auch die Legitimierung des Unkultivierten. Was dabei verloren geht, sind Annähern, Überzeugen, Verstehen, Versöhnen, Heilen, Wachsen. Stattdessen herrscht Krieg, in Worten, Köpfen und Herzen.
Ein abschreckendes Beispiel dafür ist die Geschlechterdiskussion, die im Nullkommanix zu einem debattentötenden, ja quasimilitärischen Ritualaustausch wurde. Nehmen wir nur den Begriff „Gender“, den Konservative aller Schattierungen zu einer politischen Kampfformel gemacht haben, so wie „Achtundsechzig“ oder „Multikulti“. Das Kopfschütteln ist bei der bloßen Erwähnung dieser Begriffe automatisiert, die Reflexe greifen, die unteren Schubladen mit Hohn, Hass und Wut öffnen sich von allein. Feministinnen, so heißt es, missbrauchen die Scheinwissenschaft Gender Studies als politische Waffe, obwohl uns der liebe Gott zu Mann und Frau gemacht hat. So sind sie, die Linksversifften.
Die andere Seite schlägt zurück, gern mit „Sexismus“, einem Kampfbegriff, der zuverlässig wirkt wie das Pfeilgift Curare. „Alle, die keine Feministen sind, sind Sexisten“, sagt Gal Gadot, die im Superheldinnen-Epos „Wonder Woman“ die Hauptrolle spielte. In sieben Worten ist der Graben ausgehoben und der Krieg erklärt. Gal Gadot weiß, wie man die Polarisierungsfalle aufstellt und sofort zuschnappen lässt.
Die Anhänger klicken auf „Like“ und „Share“ und denken, sie seien politisch aktiv. Dabei haben wir es meistens nur mit einer Debattensimulation zu tun. Erkenntnisgewinn? Null. Fortschritt? Keiner. Ergebnis: noch verhärtetere Fronten, Hass. Das wirklich Spannende an den Debatten, das Uneindeutige und Fragile wurde mit einer Handvoll Schlagworte wegpolarisiert.
Zurück auf dem Radweg. Ein baldiges Erbarmen, eine Selbsterkenntnis bei den Ninja-Turtle-artig aufgepimpten Überzeugungsradlern ist nicht zu erwarten. Auch nicht bei den besorgten Bürgern, die Angst haben, dass in ihrer christlichen Stadt ein Moslem auftaucht und ihre bleichen Frauen vergewaltigt – und schon gar nicht bei den K-Gruppen der Political Correctness, die schon in Rastazöpfen auf einem weißen Kopf einen Generalangriff auf die authentische Kultur der Jamaikaner sehen und daher zum Shitstorm blasen. Mein Vorschlag: Zwei Wochen das Internet abstellen.
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Schwarz-weiss is so boring!
Schrecklich, dass alle immer so entschieden sind
Von Hajo Schumacher