Ihr Name ist Gerda. Aber niemand hat sie je so gerufen. Der Name ist ihr nicht vertraut. Er taucht lediglich auf einer Urkunde auf, die im gekachelten Aufenthaltsraum der Milchviehanlage von Erik Zijlstra in Brandenburg an der Wand hängt, gegenüber dem Aquarium, zusammen mit zwei, drei Dutzend anderen Urkunden, auf denen andere Namen von anderen Kühen aus ihrem Stall stehen. Es sind die Mitgliedsausweise eines exklusiven Clubs, zu dem in Deutschland weniger als viertausend Kühe gehören. Jede dieser Kühe hat in ihrem Leben mindestens hunderttausend Liter Milch gegeben. Das ist dreimal so viel Milch, wie eine Kuh normalerweise in ihrem Leben gibt.
Hunderttausend Liter – das muss man sich vorstellen: Jeder Deutsche trinkt im Durchschnitt etwa fünfzig Liter Milch im Jahr. Mit einer Kuh wie Gerda ließe sich ein mittelgroßes Dorf ein Jahr lang mit Trinkmilch versorgen. Ein ganzes Dorf. Mit einer einzigen Kuh. Oder ein einzelner Mensch. Für fast zweitausend Jahre.
Obwohl Gerda eine Kuh ist, wie es nur alle tausend Kühe eine gibt, unterscheidet sich weder ihr Leben noch ihr Aussehen von dem der anderen 1.200 Kühe, die mit ihr zusammen im Tierzuchtgut Heinersdorf stehen. Groß und viereckig, ein kleiner Kopf ohne Hörner, das Fell schwarz-weiß gefleckt, die Adern, die am Bauch zum Euter führen, treten armdick hervor. So sehen hier alle Kühe aus. Es sind Holstein-Friesian, die leistungsstärkste Milchviehrasse der Welt und die verbreitetste Rasse in Deutschland. Sie hat inzwischen fast alle anderen Milchviehrassen verdrängt, am umfassendsten das Schwarzbunte Niederungsrind, eine DDR-Züchtung, die heute als ausgestorben gilt – aber noch kurz nach dem Mauerfall überall in Ostdeutschland in den Ställen stand, auch in Heinersdorf.
Bei Erik Zijlstra laufen die Kühe frei in offenen, hellen Ställen herum, in denen sie vom Mittelgang aus gefüttert werden und einander in Reihen auf eingestreuten Plätzen gegenüberliegen, während hinter ihnen die Kuhfladen zusammengeschoben werden, in einem Loch im Boden verschwinden und dann in die Biogasanlage gepumpt werden. Auf diese Weise sorgen die Kühe auch noch für den Strom, mit dem der halbautomatische Melkstand betrieben wird, in den sie dreimal am Tag gehen. Alle acht Stunden werden die Kühe gemolken, jeden Tag in der Woche, im Schichtdienst, rund um die Uhr. Eine Weide sehen und betreten sie während ihres gesamten Lebens nicht.
„Eine Kuh mag keinen Regen, keinen Wind und keine Sonne“, sagt Erik Zijlstra, der aus den Niederlanden kommt und den Stall vor fast zwanzig Jahren übernommen hat. „Das bedeutet für sie Stress, und Stress zeigt sich im Abfallen der Milchleistung. Einer Kuh ist es am liebsten, wenn jeder Tag gleich abläuft. Sie ist ein stinklangweiliges Tier.“
Gerda gehört dem Club der Superkühe seit dem September 2018 an. Das ist auch der Zeitpunkt, an dem sie ihren Namen bekam. Davor war sie nur Nummer 1267255375. Das ist die Nummer, die auf ihren Ohrmarken zu sehen ist, die ihr nach der Geburt verpasst wurden und unter der Erik Zijlstra in seinem Computer jenen Teil ihrer Biografie erfasst hat, der für ihn als Milchbauern von Interesse ist. In ihrem Fall weist die sogenannte Stallkarte Folgendes aus: Gerda, geboren am 10. Oktober 2008, einziges Kalb von Nummer 1267181910, einer Kuh, die wegen Problemen mit den Beinen später in den Schlachthof ging.
Ihr Vater Gibor – anders als Kühe haben Zuchtbullen immer Namen – stammte aus Rheinland-Pfalz und gehörte in seinen besten Zeiten zu den Top-10-Zuchtbullen in Deutschland. Wegen seiner extrem guten Zuchtwerte in Bezug auf Nutzungsdauer, Töchterfruchtbarkeit und Leistungsvererbung war er in der Branche unter dem Spitznamen „Mr. Fitness“ bekannt. In fast fünfzehn Jahren hinterließ er mehr als dreißigtausend Töchter. 2012 wurde er wegen Altersschwäche eingeschläfert.
„Wenn eine Kuh hunderttausend Liter Milch geben soll, tut sie das nur, wenn es ihr gut geht“, sagt Erik Zijlstra, der kein Bio-Milch-Bauer ist, sondern seine Milch an eine große Molkerei liefert, die jeden Tag zweimal 35.000 Liter Milch von seinem Hof abholt. „Wir sind kein Streichelzoo, aber ich würde behaupten, so gut, wie es den Kühen heute geht, ging es ihnen noch nie.“
Nach ihrer Geburt wurde Gerda innerhalb von zwei Stunden von ihrer Mutter getrennt, damit sich Kuh und Kalb gar nicht erst aneinander gewöhnen. Drei Tage lang bekam sie noch Muttermilch, die sogenannte Biestmilch, die reich an Abwehrstoffen ist, dann stellte die Kälberbäuerin die Ernährung auf Kraftfutter um. Nach vier bis fünf Wochen wurden ihr unter Narkose die Hornansätze ausgebrannt, ein übliches Verfahren, um später Verletzungen bei Rangkämpfen zu vermeiden. Die ersten drei Monate verbrachte Gerda in einem der kugelrunden Ministälle, die in langen Reihen hintereinander auf dem Gelände stehen, erst allein, später mit anderen gleich alten Kälbern zusammen.
Jeden Tag werden im Tierzuchtgut Heinersdorf im Schnitt drei Kälber geboren. Die Bullen gehen an einen Mastbetrieb, die Kühe verkauft Erik Zijlstra an eine Aufzuchtstation, von der er sie mit dreiundzwanzig Monaten künstlich besamt wieder zurückkauft. Das hat den Vorteil, dass es nicht sein Schaden ist, wenn eine Kuh zwischendrin stirbt. Dieses Vorgehen ist für einen Betrieb seiner Größe nicht ungewöhnlich. Der Preis für Nicht-Bio-Milch liegt derzeit bei dreiunddreißig Cent pro Liter, und wie bei jedem Massenprodukt sind die Großen unter den Herstellern im Vorteil. In den vergangenen zwanzig Jahren hat sich die Anzahl der Milchbetriebe in Deutschland halbiert.
„In der Natur ist es so, dass zwei Drittel der Kälber nach der Geburt gar nicht genug Milch bekommen“, sagt Erik Zijlstra, „die würden einfach sterben. Es ist ja nicht so, dass in der Natur immer alles glattgeht, im Gegenteil. Die Natur ist richtig hart.“
Im Alter von fünfundzwanzig Monaten hat Gerda ihr erstes Kalb geboren. Inzwischen sind es sieben, drei männlich, vier weiblich, eines war eine Totgeburt. Zwei sind noch im selben Stall. Sie reichen, was die Milchmenge betrifft, allerdings nicht an ihre Mutter heran. Vererbung ist auch bei Kühen unberechenbar.
Nach der Geburt tritt die Kuh in die Laktationsphase ein, so nennt sich die Zeit, in der sie Milch gibt, die eigentlich für das Kalb bestimmt ist. In den ersten Tagen steigt die Milchmenge schnell bis auf fünfzig Liter pro Tag an und fällt dann langsam auf etwa zwanzig Liter ab. Dieses Niveau könnte die Kuh über einige Monate halten, aber es liegt im Interesse des Milchbauern, dass sie ganz schnell wieder die Spitzenwerte erreicht. Etwa hundert Tage nach der Geburt lässt Erik Zijlstra seine Kühe daher wieder besamen. Die Besamung erfolgt künstlich. Es gibt dafür eigens einen Angestellten, den Besamer. Die Portion Sperma kostet zwanzig Euro und lässt sich aus einem Katalog bestellen, in dem die Eigenschaften jedes Bullen genau festgehalten sind. Jahrelang wurden Bullen eingesetzt, die ihren Töchtern einen hohen Eiweißgehalt der Milch vererbt haben, weil Käse ein Gewinnbringer war. Seitdem Butter wieder teurer geworden ist, züchtet man wieder Kühe, die einen höheren Fettgehalt in der Milch haben. Ob eine Kuh rindert, also brünstig ist, wird täglich durch einen blauen Farbstrich auf dem Rücken festgestellt, der sich abwetzt, wenn die Kuh sich von einer anderen besteigen lässt.
„Wenn in der Stadt viele Menschen eng aufeinander leben und im engsten Umkreis für alles gesorgt wird, für Essen, für den Arzt, für die Betreuung der Kinder, dann nennt man das Lebensqualität“, sagt Erik Zijlstra. „Wenn wir dasselbe für die Kühe machen, nennen die Leute das Massentierhaltung.“
Das ist Gerdas Alltag. Jeden Tag zur gleichen Zeit das gleiche Futter. Jeden Tag dreimal in den Melkstand, in dem stets das Radio läuft, damit sich die Kühe bei einem plötzlichen Geräusch nicht erschrecken. Ungefähr alle fünfzehn Monate ein neues Kalb. So lange es eben geht. Ein Leben im Gleichmaß. Als Geschöpf einer Umwelt, die auf nichts anderes ausgerichtet ist, als dass Liter um Liter Milch fließt. Dass Gerda das besser kann als andere Kühe, liegt nur daran, dass sie diese Prozedur länger durchhält als andere. Aber auch sie wird eines Tages in den Schlachthof gebracht werden, um uns schließlich noch einmal als Wurst wiederzubegegnen.