Vor einigen Jahren schrieb der Journalist Hellmuth Karasek einen Schlüsselroman über seine Zeit beim »Spiegel«, in dem das Magazin ein einziger Spielplatz übergriffiger Männer war, die Redakteurinnen und Sekretärinnen reihenweise begrapschten. Oder wie Karasek es ausdrückte: ihnen mit dem sibirischen Juxknüppel zu Leibe rückten.
Würde ein Journalist heute ein derartiges Buch schreiben, wäre seine Verbannung beschlossen (zum Glück) und würden die Server bei Twitter ob der ganzen Empörung explodieren (was ja auch ein Glück wäre). Damals aber gab es kaum Aufregung. Ach ja, sagte man sich, der säftelnde Karasek, halt auch so ein alter notgeiler Sack, der sich im Alter auf Verbalerotik spezialisiert hat.
Das war arg salomonisch. Denn nicht nur Karaseks Worte konnten anzüglich sein, sein gieriger Blick auf junge Frauen in der Paris Bar (einer Berliner Institution, in der alte Männer mit junger Begleitung noch heute gern und oft gesehen sind) schien nicht einmal seine Ehefrau zu irritieren, die neben ihm saß – und scheinbar nichts bemerkte. Das ungeschriebene Gebot der damaligen Zeit: nicht darüber reden. Gerade deshalb ist es nicht verwunderlich, dass bei weitaus krasseren Übergriffen erst eine lange Zeit vergehen musste, bis Frauen ihre Scham überwinden konnten, um darüber zu sprechen und Anzeige zu erstatten.
Wie gut, dass sich junge Frauen heute wehren, den Mund aufmachen und nicht so tun, als sei nichts vorgefallen. Denn sind sie ehrlich zu sich selbst, müssen sie sich eingestehen, dass sie sich beschmutzt fühlen. Schmutzig, ohne dass sie selbst eine Schuld trifft. Und oft müssen sie sich noch die Frage gefallen lassen, was denn so eklig ist an den Blicken alter weißer Männer.
Apropos: Der alte weiße Mann, der an allem Schuld trägt, ist zu einer Floskel geworden – und verstellt dabei die Tatsache, dass auch Frauen ihren Teil zu den existierenden Geschlechterverhältnissen beitragen. All die Mütter zum Beispiel, die heute noch die traditionellen Frauen- und Männerbilder durch die Erziehung fortschreiben (was eben nicht nur für islamische Mütter gilt, die ihre Söhne oft zum Pascha erziehen). Wie stark wird das Äußere bei kleinen Mädchen in den Vordergrund gestellt durch hübsche Kleidung, ein gepflegtes und natürlich auch soziales Verhalten. Kleine Jungen dagegen dürfen lauter, egoistischer, aggressiver sein, ohne dass sie von ihren Eltern so gemaßregelt werden wie Mädchen. Wie kann es dann erstaunen, dass sich viele Männer asozial benehmen und erwachsene Frauen mehr Zeit mit Nägellackieren und Schminken verbringen als zum Beispiel mit einem Buch. Wenn man die Trilliarden von Selfies sieht, auf denen junge Männer ihre Muskeln und Frauen ihre Duckfaces zeigen, könnte man glauben, dass es so was wie Emanzipation nie gegeben hat.
Sicher läuft es heute in einigen gesellschaftlichen Milieus auch schon anders, und das ist ein Fortschritt. Vor allem, dass im Zuge der #MeToo-Debatte der Machtmissbrauch durch Männer, deren Gewalttaten und der brutale Kern hinter mancher Jovialität thematisiert werden. Kein Fortschritt aber ist die Art und Weise, wie die Debatte geführt wird. Sie ist – wie kann es in diesen erregungsseligen Zeiten auch anders sein – nicht besonders trennscharf, vor allem aber lässt sie Wesentliches außer Acht. Die Zahl der weiblichen Führungskräfte hat sich jedenfalls in Deutschland im vergangenen Jahr nicht deutlich erhöht, die Verdienstlücke wurde nicht geschlossen. In der Werbung werden Frauen weiterhin objektifiziert, und in Berlin fahren die Busse des öffentlichen Nahverkehrs Reklame für Deutschlands größten Puff. Die Berliner Verkehrsbetriebe haben übrigens eine Frau als Chefin, die Vorsitzende des Aufsichtsrats ist eine Grüne.
Schuld an dieser Diskrepanz ist auch die Art der Debatte: Es führt eben nicht zu gesellschaftlicher Veränderung, wenn sich Vertreter kultureller Eliten gegenseitig anpflaumen. Und auch nicht, indem man all diejenigen, die noch nicht ganz verstanden haben, warum es in jeder Bar dringend eine Toilette für ein drittes Geschlecht geben muss, als gestrig abstempelt. Damit erreicht man allerhöchstens Zustände wie in den USA, wo an den Universitäten ein jakobinerhaftes Klima herrscht, das jede Annäherung von Mann und Frau unter den Verdacht der Übergriffigkeit stellt. Auf diese moralische Überheblichkeit antworten die weniger gebildeten Massen damit, dass sie jemanden wählen, der sich rühmt, Frauen ungestraft an die Pussy zu fassen.
Ein anderer Weg muss also her: eine Quote, die Frauen die Türen in Unternehmen bis zur Vorstandsebene öffnet – denn wer gibt gern freiwillig Macht ab, anstatt die eigene Männerbündelei fortzuführen? Ein Verbot von Prostitution, damit endlich auch Männern einleuchtet, dass es existenzielle Not bedeutet, wenn man den eigenen Körper Fremden für Geld anbietet. (Ein ausgesprochen bigottes Thema: Denn der liebevolle Vater, der kein Problem damit hat, dass sich seine erwachsene Tochter prostituiert, muss noch gefunden werden.) Man könnte auch intensiver über die zahlreichen Hip-Hop-Videos reden, in denen Frauen zum ärscheschwenkenden Beiwerk degradiert werden. Und wie absurd ist es eigentlich, dass Tausende junger Frauen zu den Auftritten des hirnlosen Rappers Gzuz pilgern, der mit Zeilen wie »Bring deine Alte mit, sie wird backstage zerstört« den Femizid verherrlicht.
In diesem scheinheiligen Umfeld fällt es nicht nur muslimischen Männern schwer, die Omnipräsenz von Frauenverachtung und die gesellschaftlich eingeforderte Gleichberechtigung übereinzukriegen – aber ihnen besonders: Sie kommen aus patriarchalen
Gesellschaften, in denen Frauen weniger Rechte haben, und müssen nun ohne sexuelle Bildung bei uns leben und integriert werden.
Bereits 2006 schrieb Hans Magnus Enzensberger in seinem Essay »Schreckens Männer – Versuch über den radikalen Verlierer«, dass »die Diskriminierung der Frauen neben den Defiziten der Wissenskultur am Rückstand der arabischen Gesellschaften die Hauptschuld trägt.« Das gilt heute umso mehr.
Am Umgang mit den Flüchtenden aus Ländern, in denen es Frauenbeschneidungen gibt, Steinigungen und Zwangsehen, macht sich derzeit das ganze Paradox der hierzulande stattfindenden Inventur des Mann-Frau-Verhältnisses deutlich: Im Angesicht der Muslime, die angeblich nichts anderes im Sinn haben, als deutsche Frauen zu vergewaltigen, entdecken stockkonservative Politiker plötzlich ihr Herz für die Emanzipation der Frauen – darunter auch einige, die noch im Jahr 1997 im Bundestag eine angemessene Bestrafung für die Vergewaltigung in der Ehe verhindern wollten. Politisch Überkorrekte wiederum verweigern eine Debatte über das besorgniserregende Frauenbild muslimischer Männer und verengen ihren bösen Blick auf den weißen Mann, am liebsten den alten.
Das sind nicht die einzigen Widersprüchlichkeiten der derzeitigen Debatte um Geschlechterrollen. Während leidenschaftlich darüber gestritten wird, wie sich Männer in Zukunft Frauen gegenüber zu verhalten haben (und umgekehrt), gibt es in politisierten Milieus zunehmend Stimmen, die die Unterschiede zwischen Männern und Frauen schlicht leugnen, weil für sie alles nur ein soziales Konstrukt ist. Auch so kann man sich aus einer Realität in eine Blase verabschieden.

Natascha Roshani und Oliver Gehrs