Zürich, Zentralstraße, dritter Stock. In einem alten Haus, da wohnt Rabbiner Weiss. Die Wohnung: alt, Spannteppich, röhrender Hirsch an der Wand, vielleicht drei Zimmer, großes Esszimmer, daneben das Studierzimmer. Rabbiner Weiss sitzt da viele Stunden. Vom Boden bis zur Decke stapeln sich Bücher. Auch der Tisch ist übersät damit. Alte Bücher, großformatig, fleckig und durchblättert. An den Seitenrändern viele Handnotizen des gelehrten Rabbiners.
Ich sitze neben ihm. In drei Wochen werde ich heiraten. Rabbiner Weiss klärt mich auf. Er hat ein Buch geschrieben, es heißt: „Die Reinheit der jüdischen Frau“. Ich werde fünfmal mit ihm lernen. Es geht darum, dass ich gut vorbereitet bin und das komplizierte Wesen der jüdischen Frau wenigstens ein bisschen kapiere. Rabbiner Weiss streicht sich über seinen weißen Bart.
Der Gelehrte weiß alles über Frauen, schließlich hat er ein Buch über sie geschrieben. Im Judentum sind die Frauen eigentlich wichtiger als die Männer. Jüdisch ist, wer eine jüdische Mutter hat. Frauen, der Rabbi guckt mich an, haben manchmal ihre Tage, dazu aber später. Denn jetzt schlurft seine Frau ins Studierzimmer. Sie bringt uns selbst gebackenen Marmorkuchen. Ihr Mann bekommt ’nen Kaffee, ich eine Brauselimonade. Mir ist ein bisschen unwohl, Frau Weiss macht keine Anstalten, zurück in die Küche zu gehen. Irgendwann kriegt sie von ihrem Mann das Zeichen, und sie verschwindet wieder.
Wir essen den trockenen Kuchen. Rabbiner Weiss schlürft seinen Kaffee aus und blättert dabei in seinem selbst verfassten Buch herum. Da: Sex ist erlaubt. Morgens, mittags, abends. Aber empfohlen wird der Abend. Die ihm bekannten Stellungen zählt er auf. Sie sind alle erlaubt. Ich rühre die Brause nicht an. Denn jetzt wird es ein bisschen unangenehm. Rabbiner Weiss mag den Ausdruck „Penis“ nicht so, er nimmt lieber die aramäische Übersetzung „Weress“ in den Mund. Wenn der Mann in der Hochzeitsnacht seinen Weress in die Vagina hineinstößt, dann wird die Frau wahrscheinlich stöhnen und automatisch zur Gattin. So steht es geschrieben. Noch etwas will er mir beibringen, nämlich über das Jungfernhäutchen. Er trinkt den letzten Schluck seines Kaffees aus und blättert auf Seite 34. Ich werde rot. Draußen höre ich seine alte Frau Geschirr spülen. Soll ich dem ehrwürdigen Rabbi mal sagen, dass meine Frau keine Jungfrau mehr ist? Andererseits mögen es alte Leute nicht, aus der Routine geworfen zu werden. So lasse ich ihn mich ein zweites Mal aufklären.
Bei der letzten Sitzung geht es dann um allgemeine Fragen. Zum Beispiel über Kondome. Nicht erlaubt, der Samen ist heilig. Die Pille? Mein Sexuallehrer guckt mich gequält an. Bitte den Gemeinderabbiner fragen. Zum Schluss kriege ich aber ein Geschenk. Mühsam steht er auf. Wo habe ich es hingelegt?, bellt er seine Frau an. Seine Alte öffnet die Schiebetür und fragt mürrisch: Was denn? – Na, das Geschenk für den jungen Herrn da. Ich lächle tapfer. Dann suchen die beiden in den zahllosen Büchertürmen, bis er fündig wird. Da, junger Mann, das schenke ich Ihnen, eines der letzten Exemplare von „Die Reinheit der jüdischen Frau“.
Was viele Nichtjuden nicht wissen: Sobald die Menstruation eintritt, ist der Sex für religiöse Juden etwa zwei Wochen lang verboten. In dieser Zeit gilt die eigene Frau als unrein. Man darf sie nicht berühren und nicht zu lange angucken. Die beiden Betten werden auseinandergeschoben, und die Frau versucht so gut wie möglich, jedwede Assoziation des Mannes im Keim zu ersticken. So achtet sie darauf, ihren Büstenhalter nicht sorglos auf das Bett des Mannes zu legen und nicht zu viel Parfüm zu tragen. Jüdisch-orthodoxe Männer sind genau gleich horny wie nichtjüdische Männer.
Die jüdischen Ehegesetze sind am schwierigsten einzuhalten. Früher, noch in jungen und stürmischen Jahren, begann ich laut zu fluchen, wenn meine Frau ihre Tage kriegte. Zwei Wochen kein Sex! Die ersten paar Tage gingen noch. Dann wurde es immer brutaler. Irgendwann kriegte ich bei allem einen Steifen. Wenn meine Frau Kaffee trank, wenn sie Fernsehen guckte, wenn sie Bücher las. Ich selber begann auch, viel zu lesen, jüdische Bücher oder die noch langweiligere „NZZ“.
Doch, so ist das Judentum. Diese jahrtausendealte Religion, die das ganze Leben dem allumfassenden Regelwerk der Tora unterordnet. Jeder Leibesfreude werden Riegel vorgeschoben, überall gibt es ein Maß. Das ist einzigartig im Kulturleben der Völker. Keine Religion hat sich bisher so lange gehalten, obwohl deren Anhänger von außen und von innen Repressalien unterworfen sind. Man meint ja häufig, dass die größte Prüfung in der jüdischen Geschichte das schicksalhafte Nebeneinanderleben mit den Nichtjuden ist. Doch noch beeindruckender ist, wie die Juden seit Jahrtausenden die Ehegesetze einhalten und nicht gegen ihren Gott rebellieren.
Was ich rückblickend schön finde, ist, dass ich meine Frau in diesen zwei Wochen anders kennenlernte. Ich habe ja auch ein Großhirn und ein Kleinhirn. In den ersten Ehejahren geschah es häufig, dass meine Frau irgendwas erzählte, etwas von Träumen und Gefühlen. In den zwei Wochen der Abstinenz lernte ich, ihr mal zuzuhören, denn was anderes blieb ja nicht übrig. Ich glaube, erst da lernte ich sie als Menschen kennen. Wenn sie nicht über ihre Gefühle sprach, guckten wir Fernsehen. Wir achteten darauf, keine verführerischen Sendungen anzuschauen. Das wäre in meinem aufgegeilten Zustand nicht ratsam gewesen. Auch keine Tierfilme oder Dokumentationen. An gewissen Abenden blieben dann nur noch die Filme von Rosamunde Pilcher übrig. Da sind auch die Schmuseszenen ungeil.
Der letzte Tag der zwei Wochen ist jedes Mal etwas Besonderes. Die jüdische Frau geht ins rituelle Tauchbad, die Mikwe Das ist ein kleines Wasserbecken. Eine alte Frau, die MikweFrau, wacht darüber. Sie wird von den Frauen kontaktiert, wenn deren zwei Wochen sich ihrem Ende zuneigen. Die alte Mikwe Frau kriegt dann sieben Franken und achtet darauf, dass die Frau vollständig und nackt im Tauchbad untertaucht. Gemäß verschiedenen Schilderungen soll das wie ein Hammam sein, einfach ohne Dampf. Sobald die Frau untergetaucht ist, darf sie sich wieder ihrem Mann nähern. Das war jetzt lyrisch beschrieben.
In der Regel warte ich zu Hause und versuche ein bisschen Stimmung zu machen. Wenn vorhanden, zünde ich ein paar Rechaudkerzen an und stelle den Orangensaft in den Kühlschrank. In einer Schublade verwahre ich immer ein Säckchen mit plastifizierten Rosenblüten. Die streue ich über die wieder vereinten Ehebetten. Dann lasse ich eine Kuschelrock-CD spielen. Das sollen Frauen mögen. Dann gehe ich in die Badewanne und hole mir einen runter. Weil: Nach diesen zwei Wochen bin ich so geladen, dass meine Frau nicht lange von mir etwas hätte. Ich putze mir die Zähne, diesmal auch mit Zahnseide, und spritz mir ein teures Aftershave über den ganzen Körper. Wer wollte jetzt nicht mit mir kuscheln?
Gemäß jüdischem Verständnis ist der Moment, in dem die Frau nach der Mikwe die Türschwelle übertritt, wie eine kleine Hochzeit. Die Frau ist wieder in der Gewalt des Mannes. Das ist, wieder, lyrisch gemeint.
Normalerweise läuft aber an dem Abend nichts zwischen uns. Wir haben vier Kinder, zwei anstrengende Berufe, einen Haushalt, aber keine Haushaltshilfe. Das schönste Geschenk für meine Frau, so hoffe ich, ist, wenn die Küche aufgeräumt ist, wenn sie nach Hause kehrt. Ja, eigentlich läuft nie was zwischen uns. Man wird ja älter und abgeklärter. Die Prioritäten – wie sagt man so schön – verschieben sich mit dem Alter.
Und trotzdem: Wenn meine Frau nach Hause kommt, ist da noch immer das kleine Kribbeln. Wir geben uns einen Kuss. Ich frage, ob sie die sieben Franken passend dabeihatte. Sie nickt. Ich zeige ihr die halb aufgeräumte Küche: „Schön, oder?“ Sie nickt. Ein bisschen Lust kriege ich jetzt doch. Sie schaut mich genervt an. Vielleicht morgen, war stressig heute.
Es gibt da eine Stelle im Buch „Mein Leben“ von Marcel Reich-Ranicki. Er beschreibt dort, wie er im zerbombten Warschau in einem Keller Zuflucht findet. Mit dabei ist seine spätere Ehefrau Teofila. Sie sehen sich zum ersten Mal. Die beiden jüdischen Flüchtlinge haben bereits Angehörige verloren. Teofila weint, und Marcel Reich-Ranicki öffnet ihre Bluse, fasst an ihren blanken Busen.
Die Erotik hat im leidgeplagten jüdischen Volk häufig als Morphium gedient. Und sie hält eine Stellung inne, die sie gefährlich erscheinen lässt. Zwar gebietet das erste Gesetz der Tora, Kinder auf die Welt zu setzen. Aber andererseits wird die Erotik als Schlange betrachtet, die verführt und irreleitet. Ein Beispiel sind die öffentlichen Busse in Israel. In manchen Bussen sitzen vorne die Männer, hinten die Frauen. Frauen, die sich nach vorne wagen, werden angespuckt und angepöbelt. Läuft draußen auf der Straße eine leicht bekleidete Frau, recken sich die Männer. Oder: Jüdische Ehefrauen – auch hier in Zürich – verhüllen auf der Straße sämtliche „Reize“ und laufen in reizlosen dunklen Gewändern herum. Und zu Hause guckt man sich – verbotenerweise – Pornofilme an.
Es sind ungeheure Zerreißkräfte, die an der religiösen Orthodoxie zerren. Mit dem Internet haben sich die Probleme potenziert. Ich lernte vor 30 Jahren auf einer Talmud-Hochschule in England. Das ist ein frommes jüdisches Knabenkloster. Ich langweilte mich sehr. Während der Unterrichtsstunden wurde unter den Bänken eine Werbebroschüre herumgereicht. Es ging um Bekleidungen in der Küche. Man erblickte englische Frauen, gekleidet als Köchinnen. In Ermangelung anderer Frauen waren diese – na ja – Mannequins weibliche Göttinnen. Noch heute, wenn ich die Augen schließe, kann ich mich haargenau an eine englische Mittvierzigerin erinnern, gekleidet als – Köchin. Viele Jahre begleitete sie mich durch die Träume. Es hört sich an wie ein Anekdötchen aus dem vorletzten Jahrhundert.
Manchmal denke ich darüber nach, ob die jüdischen Ehegesetze überhaupt noch in die Gegenwart passen. Manchmal denke ich auch über katholische Priester nach. Wie schaffen die es, ganz auf Sex zu verzichten? Und was ist schwieriger, immer sexabstinent zu leben oder in diesem Zwei-Wochen-Rhythmus? In solche Fragenkaskaden gerate ich immer wieder. Dazwischen flackert dann plötzlich wieder dieser kleine Funke Stolz in mir auf, Teil dieser jahrtausendealten Tradition zu sein. Nicht der Klügste bin ich, nicht der Frömmste und gewiss nicht der Tugendhafteste. Aber irgendwie habe ich mich daran gewöhnt.