Im Inneren der Transformationsmaschine

Man könnte an diesem Land verzweifeln: der alltägliche Rassismus, die Macht der Konzerne, der Siegeszug evangelikaler Radikalinskis, die Hybris, anderen Völkern die eigene Kultur aufzudrängen und das als Freiheitsexport zu deklarieren. Bei aller berechtigten Angst vor einem Präsidenten Trump muss man sagen: Schlimmer kann es doch gar nicht kommen. Dümmer als George W. Bush, der mit dem sinnlosen Einmarsch in den Irak den islamischen Terror völlig entfesselte, geht’s doch gar nicht. Man muss schon sehr eurozentriert denken, um nicht nachvollziehen zu können, warum die USA in weiten Teilen der Welt gehasst werden: In Lateinamerika, in Asien, in Afrika, im Nahen Osten – überall hat sich die CIA in die Politik eingemischt, hat demokratisch gewählte Politiker ermorden oder aus dem Amt drängen lassen und durch willfährige Despoten ersetzt. Wer heute herumjammert, dass die Welt früher sicherer war, kann nicht aus Chile, aus Nicaragua, aus Vietnam, aus dem Kongo oder aus dem Iran kommen.
Und gleichzeitig ist man diesem Land (zumindest wenn man nicht in der DDR leben musste) so unendlich dankbar. Für die Beendigung des Nazispuks, für die Möglichkeit, als stabile Demokratie in die Völkergemeinschaft zurückzukehren, aber auch für die kulturellen Exportschlager: Musik, Filme, Bücher – alles dazu angetan, den stets von Verspießerung bedrohten Deutschen die ungemein erfrischende Idee eines anderen Lebens zu vermitteln.
Die USA mögen als Sehnsuchtsort ausgedient haben, aber dennoch lohnt es sich, genauer hinzuschauen und das Fortschrittliche zu erkennen. Denn das Land war zu allen Zeiten ein Zukunftslabor, in dem sich Entwicklungen abzeichneten, die erst mit großer Verspätung den Rest der Welt erreichten. Schon 1979 marschierte Jello Biafra, der Sänger der Punkband Dead Kennedys, mit Hitlergruß und Naziuniform durch die Clubs von San Francisco und grölte: „California über alles.“ Der Song richtete sich gegen den demokratischen Gouverneur Jerry Brown, einen überzeugten Vegetarier mit einem Hang zu Yoga und Wanderpredigten. In ihm sahen die Dead Kennedys den Vorreiter eines Öko-Faschismus, der den Menschen vorschreibt, wie sie zu leben haben. Im Grunde eine Diskussion, die mit 40-jähriger Verspätung in Schwabing und Prenzlauer Berg angekommen ist.
Während viele Europäer im Angesicht der Flüchtlinge aus Syrien und Afrika ihre Empathie gegen Hass und Alarmismus austauschen, haben die USA in den vergangenen Jahrzehnten Millionen von Menschen ohne großes Aufhebens integriert. Auch wenn viele Menschen keine Papiere haben, so besuchen sie doch Schulen, eröffnen Läden (im Übrigen ohne großen bürokratischen Heckmeck), sie spielen in den Footballteams der Highschools und Universitäten, sie gehen in die Kirche und engagieren sich ehrenamtlich. Diese Integrationsleistung kann man würdigen und zugleich Kritik an den Verhältnissen in den USA üben. Dass aber diese Kritik bei weitem überwiegt, sagt mehr über unsere Hybris aus als über das Land jenseits des Atlantiks. Die USA haben viel mehr als wir verstanden, dass Migration der Schmierstoff einer Transformation ist, ohne die in einer globalisierten Welt Stillstand, wenn nicht Regression droht.
Die derzeitige Migration in den USA verändert auch die Beziehung zu Europa. In dem Maße, wie die Nachfahren europäischer Einwanderer immer weniger oder immer älter werden, entsteht eine neue Mehrheit, deren Bezugsrahmen in Lateinamerika und Asien liegt. Die neuen Bürger sind ein demografischer Glücksfall. Diese Erkenntnis ist so simpel und fällt hierzulande doch so vielen schwer.
Barack Obama war der erste Präsident, der Europa als bevorzugte Referenz verworfen und durch den pazifischen Raum ersetzt hat. Es ist also nicht nur so, dass uns Amerika durch den Irrsinn in den Straßen und den Reihen der Republikaner fremder geworden ist – die viel größere Dynamik liegt im Desinteresse der zukünftigen amerikanischen Mehrheit an Europa. Aber vielleicht verstehen wir das erst in 40 Jahren.