„Ich bezahl dein Essen“, sagte ich weltmännisch zu einem Kollegen, der es eilig hatte. Wir saßen in einem kleinen Asia-Restaurant am Berliner Alexanderplatz. Mein vorerst letzter Arbeitstag lag hinter mir, und ich wollte am nächsten Morgen mit meiner Freundin nach Griechenland in den Urlaub fahren. „Danke und ’ne schöne Zeit“, wünschte mir mein Kollege, stand auf und entschwand mit seinem Fahrrad über die Liebknechtstraße. Ich blinzelte relaxt in die Nachmittagssonne dieses warmen Augusttages. „Mit den Göttern speisen zu Niedrigpreisen“, versprach der Reiseveranstalter, und ich freute mich auf zwei Wochen Naxos.
Ich wollte bezahlen, doch der Kellner akzeptierte keine Karten, und ich hatte kein Bargeld. Da sprang mir von der gegenüberliegenden Seite der „Commerzbank“- Schriftzug ins Auge. Es war heiß, und ich trug Flip-Flops. Bis zur nächsten Ampel war es mir zu weit, ich rannte direkt über die Bahnschienen der Tram zur Bank. Doch mitten im Gleisbett hielt ich inne. Ein barbarischer Schmerz durchzuckte meinen rechten Fuß. Ein Schmerz, der tausend Schreie provoziert. Ich schrie nur ein Mal und ahnte, dass etwas Furchtbares passiert war. Vorsichtig schaute ich nach unten, zwei Amerikanerinnen neben mir riefen: „Oh my goodness ... Oh my God!“ und hielten sich theatralisch eine Hand vor den Mund. Von einem niedergerissenen Zaun lagen noch Reste am Boden, die von Unkraut überwuchert waren, so dass ich sie beim Rüberlaufen übersehen hatte. Einer von diesen Resten war ein verrosteter gusseiserner Stachel, der sich jetzt durch meinen Mittelfuß gebohrt hatte und nur noch von ein wenig Haut überzogen aus meinem Spann herausguckte. „Can we help you?“, fragten die Ami-Mädchen hilfsbereit und völlig aufgelöst, doch ich schickte sie weg. „Thank you, I´m fine.“ „Sure?“ „Yes, sure, thank you!“ Ein klarer Kopf war jetzt gefragt und keine überdrehten Hilfsengel. Während die Mädchen über das letzte Stück Straße in Richtung Bahnhof liefen, zog ich vorsichtig meinen Fuß von dem Dorn. Ein schmatzendes Geräusch begleitete den unbeschreiblichen Schmerz. Es klang so, als hätte Mel Gibson in „Braveheart“ sein Schwert aus einem niedergemetzelten Feind gezogen.
Der Verkehr toste an mir vorbei, und ich betrachtete die sehr große Wunde. Es blutete stark, und in meinem Flip-Flop war ein Loch. Als gerade keine Autos kamen, hinkte ich mit letzter Kraft über die Straße und ging in eine Apotheke, die sich neben der Commerzbank befand – dabei Blutfäden hinter mir herziehend. „Aua“, sagte der Apotheker auf meine Wunde schauend, nachdem ich ihm mein Missgeschick geschildert hatte, und ergänzte: „Da hilft nur noch der Notschlächter.“ Als er mein schmerzverzerrtes Gesicht sah, hängte er sich sofort ans Telefon und versuchte vergeblich, einen Notarzt zu besorgen. Währenddessen kam zu dem heftiger werdenden Schmerz noch ein starkes Pochen hinzu, der Fuß wurde langsam dicker und verfärbte sich blauschwarz.
Ich ließ mir noch ein paar Schmerztabletten geben und hinkte wieder hinaus. Als ich die Straße mühsam überquert hatte, mied ich das Asia-Restaurant, ich war jetzt ein schwer verletzter Zechpreller. Was sollte ich tun? Ein Taxi würde bei dem Verkehr zu lange brauchen. Also ging ich zu meinem Fahrrad, fasste mir ein Herz und schwang mich mühselig drauf. Es funktionierte irgendwie, die Ferse des kaputten Fußes bewegte die Pedale. Doch bei jeder Berührung tat es derartig weh, dass mir Tränen in die Augen schossen. Da ich in der Nähe der Charité wohnte, steuerte ich die dortige Rettungsstelle an. Einen größeren Fehler hätte ich nicht machen können.
Am Counter vor dem Eingang hatte sich bereits eine Schlange gebildet, etwa 20 Patienten standen vor einer Glasscheibe. Dahinter eine schlecht gelaunte Frau im weißen Kittel, die von jedem Hilfebedürftigen erst mal die Versichertenkarte einkassierte. Plötzlich kam eine Krankenschwester. „Entschuldigung, ich hab mich ziemlich schwer ...“, fing ich an. „Müssen Se trotzdem anstehen, hier ist ziemlich voll – außerdem haben wir ein paar Notfälle“, unterbrach sie mich unwirsch. Dann eilte sie weiter. War ich etwa kein Notfall? Mein Fuß bereitete mir Höllenqualen und war inzwischen richtig dick. Nach etwa einer Viertelstunde, in der sich nichts nach vorne bewegte, fing die junge Frau hinter mir plötzlich an zu schluchzen. Ich fragte sie, was los sei, und sie erzählte mir, dass bei ihrem Freund Leukämie festgestellt und er vor ein paar Stunden eingeliefert worden war, da er einen Zusammenbruch gehabt hatte. Ich versuchte sie zu trösten, so gut es ging, und ließ sie vor. Ich begriff das System dieser Rettungsstelle nicht. Wieso mussten normale Besucher mit Notfällen in einer Schlange warten, wieso musste überhaupt jemand warten, der eine derartige Verletzung hatte wie ich. Nach einer knappen Stunde Stehen, meist auf einem Bein, gab ich meine Versichertenkarte ab und wurde in die „Erste Hilfe“ eingelassen.
Jetzt konnte ich mich nur noch einbeinig hopsend fortbewegen, da sich jede Berührung mit dem Boden so anfühlte, als würden sich professionelle Folterknechte mit einer Schlagbohrmaschine meines Fußes annehmen.
Ich war inzwischen stinksauer und hatte einen mörderischen Durst, doch es gab nirgendwo einen Wasserspender. Auch die Sandwich-Automaten waren kaputt oder leer. Ein junger Mann bot mir einen Schluck aus seiner Colaflasche an, gierig trank ich die süße Brause.
Scheinbar merkte hier jeder, dass wir alle einer Solidargemeinschaft angehörten, mit denen nur die Charité nicht solidarisch umging. Ich setzte mich auf einen harten Stuhl vor einer Trennwand und war froh, meinen Fuß ausstrecken zu können.
Mein Fuß war inzwischen zu einer undefinierbaren Masse mit einem Loch in der Mitte mutiert, den permanenten Schmerz wertete ich als gutes Zeichen. Mir gegenüber saß eine junge Frau in einem schwarzen Bühnenkostüm und starrte an die Decke. Sie hatte ihr geschwollenes Knie auf ihren Nachbarstuhl gelegt. Eine gefallene Tänzerin, unnahbar und abweisend. Ich taufte sie „Black Swan“.
Ein paar Meter weiter saß eine korpulente Polin Mitte vierzig mit wasserstoffblonden Haaren. Ein Mann hielt ihr einen blutdurchtränkten Lappen an den Hinterkopf. „Ausgerutscht und auf Schwelle gefallen“, sagte die Frau zu mir, nur weil ich sie anguckte. „Stakke Schmerzen, stakke Schmerzen.“ „Wie lange sind Sie denn schon hier?“, fragte ich sie. „Seit drei Uhr“, antwortete mir die polnische Dame. Ich dachte, mich trifft der Schlag, jetzt war es halb acht. „Immer wieder neue Notfälle, und ich wieder warten.“ „Und Sie?“, fragte ich Black Swan. „Seit eins“, erwiderte sie, ohne mich anzugucken. Ich wollte lieber nicht darüber nachdenken, wie lange ich hier noch sitzen musste, und schleppte mich auf die Toilette. Dort trank ich das Wasser aus dem Hahn. Der Schmerz zog sich jetzt bis hinauf in den Oberschenkel. Ich schaute in den Spiegel, ein paar Wuttränen kullerten über meine eingefallenen Wangen.
Als ich zurückkam, begegnete ich wieder einer Schwester, doch bevor ich was sagen konnte, wehrte sie schon ab. „Hier ist die Hölle los.“ „Können Sie mich nicht wenigstens irgendwie versorgen?“, schrie ich ihr nach, bevor sie hinter einer Tür verschwand. Als ich mich wieder hinsetzen wollte, war mein Platz besetzt von einem älteren Mann mit Kopfverband. Doch er stand auf, als er mich sah. Ich sagte artig „Danke“ und betrachtete mir jedes armselige Geschöpf einzeln, denn während meiner Abwesenheit waren noch ein paar blutdurchtränkte Verbände hinzugekommen. Wie hoch waren die Chancen, dass ich mit meiner Verletzung nicht so lange warten musste? Gebrochene Nase vor rostigem Nagel oder umgekehrt? Nach einer weiteren Stunde, in der ich meine Freundin anrief und sie bat, mir etwas zu trinken vorbeizubringen, kam die Schwester mit einer kleinen Wanne voller Jodlösung und stellte sie vor mir auf den Fußboden. „Damit können Sie ein bisschen desinfizieren“, sagte sie nicht gerade warmherzig und ging schnell weiter.
Unter den interessierten Blicken meiner Leidensgenossen stellte ich den Fuß in die Wanne. Der Schmerz wurde kurz stärker und ließ dann etwas nach. Ich atmete ein wenig durch. Dann wurde die Polin mit ihrem Freund aufgerufen, und an ihre Stelle setzte sich ein junger Mann, scheinbar der Freund von Black Swan. Die schaute der Polin mit verächtlichem Blick hinterher, schließlich wartete sie schon zwei Stunden länger.
Leise redete sie auf ihren Freund ein, ich hörte einen aggressiven Unterton heraus. Nach insgesamt drei Stunden wurde ich zum Röntgen gerufen. Als ich wieder meinen Platz einnahm, las der Freund von Black Swan in einem Buch. Plötzlich schlug sie ihm seinen Roman aus der Hand und fing fürchterlich zu weinen an. In Tränen aufgelöst beschimpfte sie ihn. „Du verfluchtes Schwein, ich sitz hier schon den ganzen Tag und weiß vor Schmerz nicht mehr, wohin, und du liest einfach dein scheiß Buch, anstatt mich mal in den Arm zu nehmen.“ Ungeschickt und errötend versuchte er nun, sie zu streicheln, doch sie stieß ihn weg. „Verschwinde, ich will dich nicht mehr sehen.“ Er hielt kurz inne, warf ihr einen bösen Blick zu, stand auf und ging auf leisen Sohlen, während Black Swan die Hände vor das Gesicht schlug und stakkatoartig schluchzte.
Mein Schmerz war kurz verschwunden, und ich nickte voller Anerkennung. Sie gab den schwarzen Schwan wirklich überzeugend. Alle anderen schauten betreten zu Boden, während eine jammernde griechische Touristin mit zersplittertem Unterarm auf einem Rollbett in den Behandlungsraum geschoben wurde. Alle waren am Stöhnen und Jammern, denn klar: Dieser Fall würde unser eigenes Warten verlängern. Aber eines musste man unserem Gesundheitssystem lassen: Es schrieb die emotionalsten Geschichten.
Ein paar Minuten später bog meine Freundin mit zwei Flaschen Wasser und einem Paket Broten um die Ecke. Dankbar umarmte ich sie und trank so gierig, als befände ich mich in der Wüste Karakum und nicht im Vorzeigekrankenhaus der deutschen Hauptstadt.
Wir teilten brüderlich mit anderen Notfällen die Brote, nur Black Swan lehnte ihrer Rolle entsprechend ab. Nach weiteren zwei Stunden wurde ich schließlich hineingerufen, meine ganze rechte Seite war inzwischen taub.
Ein junger, blass aussehender Arzt schaute sich das Röntgenbild an, kurz vorher hatte er noch einem Mann die Augenbraue genäht. Scheinbar war er der einzige Arzt auf dieser Station. „Glück gehabt“, sagte er freundlich, während er sich das Röntgenbild anschaute. „Direkt am Knochen vorbei.“ „Und die Sehnen?“ „Die sind gut eingepackt“, sagte er. „Die werden bei so etwas selten getroffen.“ Ich atmete auf und schaute mir den jungen Arzt an. Dunkle Ränder umrahmten seine Augen, müde kratzte er sich an der Nasenwurzel. Dabei schob er sich seine randlose Brille nach oben und wirkte auf seltsame Weise verletzlich.
„Wie lange sind Sie denn eigentlich schon hier, seit heute Morgen um sechs, oder was?“, fragte ich. Er lächelte müde. „Nein, seit gestern Mittag.“ „Ganz allein?“ Er lächelte nur und gab mir zwei Krücken, die ich quittieren musste. Außerdem noch etwas Vorbeugendes gegen eine Blutvergiftung.
Nachdem ich den Behandlungsraum verlassen hatte, wurde auch Black Swan aufgerufen, sie war die Letzte und hinkte an mir vorbei, während ich mit meiner Freundin in die laue Nacht hinaustrat. Es war drei Uhr morgens, ich hatte die Rettungsstelle am Vorabend gegen 18.30 Uhr betreten.