Von Arno Frank

Mit Nachrichten aus der Zukunft ist das so eine Sache. Eine heikle Sache. Ich darf so gut wie gar nichts darüber verraten, wie wir heute leben. Ich darf nicht einmal sagen, welches Jahr wir schreiben. Immerhin verrät schon die Tatsache, dass euch diese Mail überhaupt erreicht hat, was alles technisch möglich ist. Obwohl sich unsere Kommunikationsform zu einer E-Mail verhält wie, sagen wir, eine E-Mail zu einer Flaschenpost. Und wenn ich mich recht entsinne, gab es 2012 noch „Gedrucktes“, das heißt, ihr haltet wahrscheinlich Papier in Händen. Rührend. Wurden damals nicht auch die Transhumanisten als Irre verlacht, die forderten, der Mensch müsse seine evolutionäre Entwicklung in die eigenen Hände nehmen? Hände. Gibt’s auch nicht mehr. Tja. Gestern jedenfalls habe ich mit ein paar Freunden mal wieder meinen Geburtstag gefeiert. Ich begehe nur noch die runden Jubeltage, weil es inzwischen einfach zu viele sind, sorry. Ich bin 650 Jahre alt.
Doch, mir geht es gut. Ich fühle mich sogar jünger als damals, als ich sozusagen noch aus Fleisch und Blut war und die ersten Zipperlein kamen. Mich sollte der grimme Schnitter nicht so schnell vor die Sense bekommen, nicht beim Stand der technischen Möglichkeiten. Sterben? Och nö, jetzt noch nicht. Gut, dass mir meine Krankenkasse eine erste Gentherapie gegen freie Radikale finanzierte. Das sind Molekül-Fragmente, die von jeder Zelle produziert werden und für das Altern verantwortlich sind, weil sie die Mitochondrien, die „Kraftwerke“ der Zellen, schädigen. Nach der Therapie wurden einfach keine freien Radikale mehr produziert, fertig. Weil ich möglichst wenig Cholesterin zu mir nahm, musste die Behandlung nur alle zehn Jahre erneuert werden.
Das war wichtig, weil so eine Hauptursache der Alterung deutlich verlangsamt wurde. Keine Arteriosklerose mehr, keine nervigen Nervengeschichten, alles bleibt frisch. Wichtiger war aber die „Müllabfuhr“, wie ich das nenne. Zellen produzieren auch Abfall, der nicht wiederverwendet werden kann. Dieser Abfall sammelt sich an wie in einer WG verstaubende Flaschen, die niemand zum Altglascontainer trägt – bis alle darüber stolpern und überall die Scherben herumliegen. Also nahm ich täglich eine dieser neuen Tabletten mit den freundlichen Bakterien, die sich um den Müll in meinen Zellen kümmerten. Externe Putzfrauen sozusagen, die übrigens auch die Plaques außerhalb meiner Zellen entfernten. Ohne diese Ablagerungen kein Alzheimer, kein Stress mit Herz und Kreislauf.
Ich lief ziemlich lange noch täglich 20 Kilometer, aber das ist eine andere Geschichte. Unter anderem, weil der Wirkstoff Alagebrium die Proteinverkettungen aufgelöst hat, die früher bei jedem Menschen und immer irgendwann zur Verhärtung der Arterien geführt haben. Das hat meine innere Borduhr noch mal zurückgedreht. Mein Geld habe ich damals in Aktien der Firma angelegt, die dieses Alagebrium produzierte. Das sollte sich noch lohnen, weil ich einen Teil des Geldes später – etwa 50 Jahre später – in eine Stammzellentherapie investiert habe, die überflüssige Zellen abschaltete. Das war entscheidend, weil dabei auch das Enzym Telomerase abgeschaltet wurde, das unter anderem die unbegrenzte Teilung von Krebszellen ermöglicht.
Zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits neue Hüft-, Knie- und Schultergelenke. Nicht, weil sich die alten Gelenke abgenutzt hätten. Es waren einfach neue fällig, und mit denen fühlte ich mich erst recht wie neugeboren. Ich lief damals die 100 Meter in genau acht Sekunden, wie klingt das? Implantate gab es ja schon vorher, Hilfsmittel wie Herzschrittmacher, Hörgeräte oder Sehhilfen. Irgendwann wurde mir klar, dass ich so voller Implantate steckte, dass ich mich von meinen biologischen Grundlagen weiter entfernt hatte als der Hund vom Wolf. Vor allem die Neuroimplantate, feine Sache. Und als mir einmal – schnapp! – die Achillessehne riss, bauten die Nanoroboter in meinem Blut das Ding innerhalb von nur fünf Stunden nach. Es prickelte nur ein wenig.
Damals gab es sogar noch Menschen, die freiwillig auf jedes „enhancement“ verzichteten. Wahnsinn, oder? Nicht, dass die sich das nicht leisten konnten wie die meisten anderen Elenden, nein, sie wollten einfach nicht. Hatten „ethische Bedenken“, blabla. Erinnert ihr euch noch an das Volk der Amish, das in den USA jahrhundertelang nach Sitte der Pilgerväter lebte, mit Kutschen rumfuhr und auch sonst die Moderne ablehnte? Wer damals auf technologische, nanobiologische Verbesserungen verzichtete, den nannten wir „Humanish“. Sie starben weg wie die Fliegen, fanden das aber offenbar lustig. Arme Irre.
Erst als ich genau 197 Jahre alt war – ich hatte gerade mein Siebtstudium beendet und mich von meiner zehnten Frau scheiden lassen –, setzten die ersten Depressionen ein. Kein Spaß war das, zumal eine unendliche Langeweile sich dazugesellte. Eine wirklich entsetzliche Langeweile, die ich mit viel LSD bekämpfte, vielleicht zu viel. Vor allem ließ die Singularität, die die Transhumanisten immer vorhergesagt hatten, allzu lange auf sich warten. Wir warteten alle auf die Singularität wie auf den Weihnachtsmann, das kann ich euch sagen.
Schon 2020 waren die ersten Computer so leistungsfähig wie das menschliche Gehirn, jedes Jahr steigerte sich der Fortschritt exponentiell. Eigentlich hätte es 2075 so weit sein müssen, dass Maschinen sich mit künstlicher Intelligenz selbst verbessern konnten – und damit der Fortschritt nicht mehr als stetig ansteigende, sondern als senkrecht aufragende Linie dargestellt werden musste. Aber, wie gesagt, es dauerte. Und dauerte.
Und irgendwann ließ ich mich einfrieren. Einfach, um die Wartezeit zu verkürzen. Keine große Sache, das machten damals alle, die es sich leisten konnten. Ich ließ mich im „Cryonic Institute“ auf eine Warteliste setzen, nach drei Jahren kam ich endlich dran. Wohltuende Spritze, blauer Traum, Frostschutz in jede Zelle zur Vermeidung von Eiskristallbildung. Dann kopfüber ab in flüssigen Stickstoff im Lagerungsbehälter. Technisch heißt das Vitrifikation, Schockfrostung bei minus 196 Grad. So kann man es schon ein Weilchen aushalten.
Und ich hielt es ein Weilchen aus, ungefähr 400 Jahre. Schwer zu sagen, wer oder was mich schließlich auftaute. Menschen waren es nicht, nicht einmal posthumane. Die Singularität hatte stattgefunden, und ihr Ergebnis … wie soll ich sagen? Also, es war kein Spaß. Mir wurde mitgeteilt, dass mein Körper so eine Art Schrottplatz und zu nichts mehr zu gebrauchen sei. Am Anfang sägten sie mir den Kopf ab und steckten ihn in ein Aquarium mit einer Flüssigkeit, die man altertümlich wohl als Nährlösung bezeichnen könnte.
So hatte ich mir die Ewigkeit allerdings nicht vorgestellt, allein mit meinem leider immer noch auf Kohlenstoffbasis vor sich hingrübelnden Gehirn. Es gab eine Lösung, aber die war teuer. Hier kam mir mein Aktienpaket zugute, durch dessen vollständigen Verkauf ich den Scan finanzieren konnte. Dabei wurde die Struktur meines Gehirns mitsamt seiner gespeicherten Erinnerungen sozusagen detailliert „eingescannt“ und auf etwas übertragen, das ihr in eurer Vergangenheit wahrscheinlich einen „Computer“ nennen würdet.
Seitdem bin ich Software – und frei. Ich bewege mich in einer virtuellen „Cloud“ mit anderen ehemals menschlichen … ja, was? Bewusstseinen vielleicht. Aus Langeweile – immer diese Langeweile! – habe ich auf Basis der total veralteten Quantentheorie nun eine primitive kleine Methode entwickelt, Nachrichten in die Vergangenheit zu schicken. Keine Ursache, gern geschehen, habe ja sonst nichts zu tun.
Es sind nette Leute hier, wenngleich einige davon reichlich dekadent sind, andere ziemlich albern. Sie schwärmen von einer antiken Unterhaltungsserie namens „Star Trek“ und bezeichnen unsere Welt als „Holodeck“. Ich könnte aber gar nicht sagen, wo genau ich mich derzeit befinde. Oder was „draußen“ ist. Wenn es stimmt, was wir hier so hören, sollen „draußen“, wo immer das ist, „inzwischen wieder mikroskopische Flechten“ wachsen. Habe das Wort „Flechten“ mit meinen Datenbanken abgeglichen. Ekelhaft. Diese Dinge haben für mich jede Bedeutung verloren. Ich bin transzendiert. Und manchmal beschleicht mich der Verdacht, dass ich im Himmel bin. Dann denke ich, dass ich das auch einfacher hätte haben können. Egal.
Meine Botschaft? Das Leben geht weiter. Immer weiter. Ich empfehle: abwarten und Tee trinken. Am besten grünen Tee. Etwas Gesünderes gibt es nicht.