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N° 84, Nerven

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Auf Gran Canaria gibt es Schwule wie Sand am Meer. Eine Reise

von Fabian Dietrich

Ich sitze im Flugzeug und blättere in einem gelben Reclam-Heftchen, das ich mir noch spontan vor der Abreise gekauft habe, und bin einfach nur begeistert von der Welt, die sich dort auftut. Nie hätte ich gedacht, dass von all den Literaturklassikern, die ich mir eingepackt habe, ausgerechnet das „Gastmahl“ von Platon so eine inspirierende Wirkung auf mich entfalten könnte. Wusstest du, dass es in der griechischen Mittel- und Oberschicht völlig normal war, Frauen und Kinder zu haben und trotzdem mit Männern zu schlafen?, frage ich Tobias. Ist das nicht toll? Platon berichtet im „Gastmahl“ aus einer Zeit, in der es eine so rigide Sexualordnung, wie wir sie heute kennen, noch gar nicht gab. Die verschachtelte Rahmenhandlung sei kurz erzählt.

Ein paar verkaterte Freunde, einer davon der etwas verlotterte, aber sehr weise Sokrates, treffen sich zu einem Trinkgelage und philosophieren dabei über die Liebe. Natürlich, erklärt Aristophanes, seien die Homosexuellen die edelsten und besten Menschen von allen. „Sie tun dies nämlich nicht aus Schamlosigkeit, sondern aus Wagemut, Tapferkeit und Männlichkeit, da sie das schätzen, was ihnen ähnlich ist.“ Unseren heterosexuellen Alltag haben wir in Berlin zurückgelassen, um es einfach mal auszuprobieren. Wir wollen für ein langes schwules Wochenende nach Gran Canaria fliehen. 


Maspalomas liegt im Süden der Insel. Dort, wo es so richtig heiß und trocken ist und man die Sahara auf der anderen Seite des Wassers beinahe spüren kann. Es ist schwer vorstellbar, dass das hier jemals eine echte Stadt gewesen sein soll. Soweit wir das erkennen können, reiht sich im Ortsteil Playa del Inglés zwar ein Gay Resort an das nächste, aber es gibt keine normalen Häuser oder Plätze, nichts in der Art. Auch keine Märkte, keine alten Gebäude, sondern nur diesen speziell spanischen Brutalismus. Eine Landschaft aus großzügig vergossenem Beton. Hotelburgen, Ferienburgen, Einkaufsburgen, Bungalows. Seit den 1960er-Jahren in den Sand gerotzt. Dazwischen Oleander und verschiedene Sorten interessanter Kakteen. 

Die Straßen heißen zum Beispiel: 
Avenida de Alemania 
Calle Bremen 
Calle Finlandia 
Avenida Touroperador Neckermann

Am Abend gehen wir zum ersten Mal ins Yumbo. Das Yumbo ist ein heruntergekommenes Einkaufszentrum, das vor Jahrzehnten von Schwulen gekidnappt wurde und seitdem neben dem Strand und den Dünen als eine der drei Touristenattraktionen von Maspalomas fungiert. Ein Bollwerk, um auf dem europäischen Markt für Gay-Tourismus gegen die überteuerte Konkurrenz von Mykonos, Sitges und Ibiza zu bestehen. Es ist wirklich noch hässlicher als auf den Fotos, da gibt es nichts drum herumzureden. Es sieht aus wie eine in den Boden eingegrabene Raumstation. Die Wände sind aus schokobraun gestrichenem Beton, alles ist mit chaotisch platzierten Werbeschildern behängt. Im Innenhof stehen ein paar Männer und verkaufen Lederfetischklamotten in einem Zelt. Daneben flanieren fliegende Händler aus Afrika, sobald die Polizei das Yumbo betritt, rennen sie davon. 


Dafür, dass es einer der schwulsten Orte Europas sein soll, laufen im Moment aber noch ziemlich viele Frauen und Kinder herum. Früher haben die Heteros offenbar noch einen Bogen um das Yumbo-Center gemacht, sagt uns ein Auswanderer, aber mittlerweile finden sie es hier richtig toll. Erst wenn es spät wird, übernehmen die Homosexuellen das Terrain. Auf verschiedenen Ebenen verteilt gibt es hier Gay-Bars und Gay-Discos und Gay-Shops, so weit das Auge reicht. Das Spartacus, das Mantrix, das Na und, den Bunker, das Mykonos, die 
Cruise Bar, die Wunderbar und noch ungefähr 6.000 mehr. Jeder hängt sich sein Regenbogenfähnchen ins Schaufenster. Überall liest man: „We are proud!“


Da Happy Hour ist und es günstiges Bier gibt, lungern wir erst mal in der Bärenhöhle herum. Die Bärenhöhle ist eine Kneipe für besonders behaarte und stämmige Männer und diejenigen, die ihre Freunde sind. An der Decke und den Wänden hängen als eine Art ironischer Fingerzeig Millionen von Teddybären. Der Mann hinter dem Zapfhahn erzählt uns, dass er als Schwuler noch immer überall auf der Welt komisch angeschaut wird und dass man Putin eigentlich erschießen sollte. Dann reden wir über die große Toleranz der Canarios, wegen der der Schwulentourismus überhaupt auf die Insel kam. „Wenn wir hier unsere Gay-Pride-
Parade machen, kommen natürlich auch die Einheimischen und wedeln mit der Regenbogenflagge herum, aber was sie wirklich denken, weiß ich nicht. Machen sie nur einen auf tolerant, oder sind sie es wirklich?“ Laut der Lokalzeitung „El Canario“ ist das, was hier im Yumbo los ist, ein Riesengeschäft. Im Durchschnitt gibt ein Schwuler auf Gran Canaria pro Tag angeblich viermal so viel wie ein Hetero aus. 


Im Hintergrund läuft auf einem Fernseher ein Bärenporno. Es ist der erste Bärenporno, den ich in meinem Leben sehe, und ich bin ein bisschen fasziniert. Zwei große, muskulöse Typen, die Zwillingsbrüder sein könnten, treffen sich an einem Picknicktisch auf einer Waldlichtung. Beide tragen eine Art Holzfällerlook. Ohne erkennbares Vorgeplänkel und ohne Story reißt der eine dem anderen die Hose runter und beginnt, seinen Vollbart durch dessen Pofalte zu ziehen. Der andere Mann lächelt genussvoll und legt sich auf den Picknicktisch. Dort nimmt die Sache dann ihren Lauf. Die beiden Bären besorgen es sich auf diese ruppige, aber liebenswerte Bärenart. Es dauert vielleicht fünf oder zehn Minuten, dann ist die Szene vorbei, und der nächste Film fängt an. 

Die Geschichte der Josés

Kein Wunder, dass die meisten Deutschen nur im Winter herkommen. Die Sonne ist schon am Morgen kaum zu ertragen. Es ist unfassbar heiß. Der schwule Strand liegt hinter den Dünen, weitab von den Hotels. Den Weg zeigen uns zwei Spanier, die seit Jahren hierherkommen. José und sein Ehemann José. Gemeinsam laufen wir durch eine Art Miniwüste, und dahinter wogt dann schon das Meer. Die Josés erzählen uns auf dem Weg ihre Lebensgeschichte. 1980, also wenige Jahre nach dem Tod des Diktators Franco, zogen sie aus ihren Dörfern nach Madrid. Wir hatten absolut keine Ahnung vom Leben, sagen sie. Aber in uns war ein großes Verlangen. Es war, als befänden wir uns in einem Tunnel und sähen in der Ferne ein Licht. Das Licht nannte sich Movida. Die Movida Madrileña, eine Kulturbewegung nach dem Ende des Franquismus, warf alles über den Haufen, was es bisher gegeben hatte. Alle wurden plötzlich kreativ und erfanden sich neu. Die Josés schneiderten sich verrückte Kostüme aus Plastikmüll und tanzten damit auf der Straße. Sie hingen mit dem Regisseur Pedro Almodóvar rum oder gingen auf die berüchtigten Partys der Sängerin Alaska. Die 1980er waren definitiv die beste Zeit im Leben der Josés. 1984, 1985, 1986 waren super. Danach ging alles den Bach runter, sagen sie. Es kam Aids, es kam Heroin, Mitte der 1990er rückte offenbar eine verblödete Generation nach, die nur noch mäßiges Interesse an Gay-Pride-Paraden und solchen Dingen hatte. Sie waren eben nicht in einer verstockten Diktatur aufgewachsen und hatten keine Lust mehr, für irgendwas zu kämpfen. Almodóvar sitzt heute in irgendwelchen internationalen Filmpreisjurys rum, Alaska macht Reality-TV, und schwul zu sein ist in Spanien auf einmal das Normalste der Welt. 

Wir spielen nicht in ihrer Liga

Sobald nichts von Menschen Errichtetes mehr in Maspalomas zu sehen ist, wird es plötzlich spektakulär schön. Der Wind formt faszinierende Muster und Kanten auf den Dünen. Dahinter sieht man eine zerklüftete, marsähnliche Berglandschaft. Weil es hier so einsam ist, wurde dieses Naturschutzgebiet im Süden von Gran Canaria zur Cruising Area, dem Treffpunkt für wortlosen, anonymen Geschlechtsverkehr. Wir beobachten aus der Ferne zwei Herren, die gemeinsam in einem sandigen Tal verschwinden. Überall sieht man Taschentücher und Kondomverpackungen im Gestrüpp. 


Geschätzt hundert Männer liegen am Schwulenstrand und sonnen sich. Manche nackt, manche in Schwimmhöschen, am Grad der Hautbräune lässt sich die Aufenthaltsdauer auf Gran Canaria ablesen. Manche Auswanderer sind fast schwarz gebrannt. Wir suchen uns zwei Liegen und ziehen uns aus. Der Effekt ist eine Art Entzauberung. Ehrlich gesagt hatten wir beide uns eingebildet, eine gewisse Anziehungskraft auf homosexuelle Männer zu besitzen, aber da irrten wir uns wohl. Wir stellen fest, dass sich, seit wir die dreißig überschritten haben, eigentlich kein halbwegs normaler Mann in unserem Alter mehr für uns interessiert. 


Ich kann es aber auch verstehen, denke ich, als ich im lauwarmen Wasser stehe und durch die Wellen zu planschen beginne. Wir spielen einfach nicht in ihrer Liga, so einfach ist das. Lange bin ich mir nicht mehr so primitiv vorgekommen wie am Schwulenstrand in Gran Canaria. Etwa 80 Prozent der Männer in unserem Alter sehen aus, als seien sie Models, nicht unbedingt Topmodels, aber zumindest welche von C&A. Sie formen ihre Körper wie Skulpturen und haben jeden Zentimeter ihrer Haut im Griff. Sie kümmern sich einfach wahnsinnig gut um sich selbst. 


Die Josés unterhalten sich mit einem Mann, der am Strand selbst geflochtene Kettchen und Bänder in Regenbogenfarben verkauft. Sie sprechen über einen Gast, der seit einiger Zeit für Aufruhr in Maspalomas sorgt. Es handelt sich um einen Deutschen, der einen abnorm großen Penis haben soll. Laut den Josés muss man sich diesen Schwanz eher als so etwas wie einen Rüssel vorstellen. So lang wie ein Unterarm hängt er dem Typen immer aus der Badehose. Das ist eine Deformation, sagt einer der Josés entsetzt. Ich frage mich, was man damit machen soll. Leute erschrecken, antwortet der Strandverkäufer.

Die drei schwören, dass es wahr ist, sie sagen mir, der geheimnisvolle Deutsche sei auch heute am Strand und liege irgendwo da drüben in der Sonne, sie hätten ihn eben gesehen. Ich kaufe mir ein Bier und laufe die Reihen der Strandliegen ab. Ich schaue mir wirklich jeden einzelnen Penis ganz genau an, aber der Mann mit dem Rüssel ist nirgendwo zu sehen. 

Weil ich glaube, ein System zu erkennen, notiere ich mir ein paar Tätowierungen der Menschen am schwulen Strand: 

Only God can judge me
Express yourself 
I love my life
Bee free 

Am Nachmittag stehen wir mit den anderen Jungs am Tresen des Strandkiosks und trinken dieses süßliche Bier-Tequila-Gemisch der Marke Tropical. Jaime, der als Badehosendesigner und Tätowierer arbeitet, zeigt auf meine Brusthaare und sagt, es täte ihm ja leid, aber das ginge ja wohl überhaupt nicht. Was?, frage ich. Diese Haare auf deiner Brust, sagt er und macht ein Gesicht, als müsste er sich gleich übergeben. Nicht nur hat Jaime hübsche Muskeln und interessante Tätowierungen, er hat auch kein einziges Haar mehr unterhalb des Kinns. Es entspinnt sich ein lebhaftes Gespräch über Epilationstechniken, in Playa del Inglés wird irgendwo auch brasilianisches Hodenwaxing angeboten, und dann deutet einer der Josés auf drei vereinzelte weiße Haare auf seiner Brust und erklärt, das sei leider der Nachteil, nur schwarze Haare würden bei der Laserhaar-entfernung gekillt. Jaime erzählt, er habe sich als Jugendlicher immer seine langen Wimpern abgeschnitten, weil ihn irgendwelche Idioten als Mädchen oder Schwuchtel verunglimpft haben, aber heute sei er stolz darauf und fasse seine Wimpern nicht mehr an. Ich heize die Diskussion mit folgender Aussage an: Irgendwie ist es doch ganz okay, dass unsere Körper alle so unterschiedlich sind. Daraufhin geht ein Raunen durch die Runde. Bravo!, ruft einer. Danke, dass du das sagt!, ruft ein anderer. Das hat sich so offen in Playa del Inglés anscheinend schon länger niemand mehr auszusprechen getraut.


Dann verabschieden sich Luca und Pietro. Die Italiener am Strand, fällt mir da wieder auf, sehen eigentlich am allertollsten aus. Ich muss an das Wort „Renaissancefürsten“ denken, weil so eine Figur in Hubert Fichtes Roman „Die Palette“ heißt. Aufwendig frisierte Vollbärte, total knappe Neonslips, Goldketten. Luca geht auf die Spanier zu und legt einen theatralischen Auftritt hin. Er küsst jeden einzelnen und beugt sich dann noch einmal direkt vor Jaimes durchtrainiertem Bauch nach unten und sagt: Arrivederci, mein Kleiner. Dann streichelt er ihm zart über die Vorderseite des Badehöschens, woraufhin Jaime ruft: O Gott, das ist mir aber schrecklich peinlich! Und tatsächlich schwillt da etwas an. 


Wir sind mittlerweile schon ganz ordentlich betrunken, der Sand ist immer noch glühend heiß, und wir laufen gemeinsam durch die Dünen, Vicente und Jaime und José und José und Tobias und ich. Zum ersten Mal empfinde ich so etwas wie Brüderlichkeit, es liegt vielleicht bloß am Alkohol und der Sonne, aber ich bin wirklich froh, bei diesen Jungs zu sein. Irgendwie haben wir eine ziemlich gute Stimmung, mit albernen Witzen und Kieksern, und Vicente verkündet, dass wir ab jetzt die Spice Gays sind.


Am Abend schauen wir Spice Gays die Dragqueens in der Terry Show an. Sie sehen, das hätte ich nie gedacht, wirklich alle wahnsinnig gut aus. Nicht so übertrieben schrill, wie man es aus dem Fernsehen kennt, sondern einfach nur schön. Unsere Favoritin ist eine Grace-Jones-
Doppelgängerin, ihre Beine sind ungefähr zwei Meter lang. Auf der Bühne singen sie und die anderen Play-back. „I will survive“ und „I am what I am“ und dann auch noch den spanischen Riesenhit „A quien le importa“ von Alaska. 

Wen geht’s was an, was ich mache? 
Ich bin so, wie ich bin, 
Und ich werde weiter so sein.
Ich werde mich nie ändern! 

Am nächsten Morgen lerne ich Johann aus Holland kennen. Er ist schon ein bisschen älter und gehört ebenfalls zu den bemitleidenswerten 20 Prozent Gay-Touristen, die keine C&A-Models sind. Gestern Nacht torkelte er alleine in einer komischen Stripper-Hose durch die Passagen des Yumbo-Centers und wirkte ziemlich derangiert. Johann erzählt, dass er immer nach Cancún oder Phuket reist und dass in Thailand die Boys einfach mit der Hotel- oder Restaurantrechnung abgerechnet werden. Es ist nicht ganz klar, wie genau er das meint, aber ich verstehe es als leichte Kritik am System seines Hotels. Wir essen zusammen unsere Brötchen und blicken uns dabei nicht in die Augen. Als Johann die Sache mit den Boys und der Hotelrechnung erzählt, sage ich „Nice“ oder „I see“, aber in Wahrheit weiß ich gar nicht, was ich auf so eine Geschichte antworten soll. 


In den Phasen der Ruhe, die es nach und vor den Ausflügen ins Yumbo immer wieder gibt, schauen wir bei Grindr rein. Das ist so ein wahnsinnig erfolgreiches Programm, mit dem man Männer kennenlernen kann. Die Josés haben gesagt, dass es ruhiger im Yumbo-Center geworden ist, seit es das gibt. Man braucht eben nicht mehr durch die Dünen zu streifen, um schnellen Sex mit einem Fremden zu haben, sondern wischt sich einfach so auf seinem Telefon durch. Meistens gucken wir bloß, wer in unserer Nähe ist. Manchmal chatten wir aber auch auf Grindr, wobei unsere Unterhaltungen wirklich nicht besonders sexy oder intelligent oder sonst irgendwie anregend sind. 

Outdoor fun: hello 
10:14 

Tobee: Hi 
12:45 

Outdoor fun: How are you? Your pretty cute! 
17:20

Tobee: you too …
1:18 

Outdoor fun: thank you 
17:53

Erbarmungslos schnappt die Yumbo-Falle zu. Wir sind in einem Kreislauf aus Alkohol, Kopfschmerzen und Konterbieren gefangen. Nur am Kiosk am Strand ist es eigentlich einigermaßen erträglich und nett, denn es weht immer ein bisschen Wind, es gibt ein paar Zentimeter Schatten und außerdem Musik. Aus den Boxen kommen Techno, Salsa und spanische Disco-hits. In der Ecke tanzt ein schlaksiger Mann, der eine Camouflageweste trägt, seine Haare sind schütter und von Sonne und Meerwasser gebleicht. Er singt die Zeilen von „Sorry I’m a Lady“ von Baccara mit. Er bewegt sich außerordentlich expressiv und sehr speziell. Du tanzt aber echt toll, sage ich. Danke, sagt der Mann. Und dann ergießt sich ein heftiger Redeschwall schwäbischer Mundart in mein Ohr. Leo, so heißt der Tänzer, erzählt, er habe HIV und sei vor Jahren deswegen in Deutschland im Krankenhaus gewesen. Dort sei es ihm richtig dreckig gegangen, und er habe eine Nahtoderfahrung gehabt. Es sei total schön auf der anderen Seite gewesen, sagt Leo, er habe sich richtig auf das Sterben gefreut, aber dann durfte er nicht sterben. Stattdessen sagte eine Stimme: Leo, nein. Du bist noch nicht fertig. Geh nach Gran Canaria. Seitdem lebt Leo auf der Insel, kriegt eine Erwerbsunfähigkeitsrente aus Deutschland und tanzt vor dem Kiosk am Schwulenstrand. 


Deutschland hat nur eine Chance, sagt Leo. Weißt du, was die einzige Chance ist, die Deutschland hat? 
Ich weiß es nicht, sage ich. 


Sahra Wagenknecht, sagt er. Die Sahra kann das Schlimmste noch verhindern. Sie sorgt dafür, dass alle eine höhere Rente kriegen. Die Sahra bricht der Angela das Genick. 


Jeden Morgen tritt Leo mit Mutter Erde und Vater Himmel in Kontakt und öffnet seine Chakren, weil er so vielleicht die Wahl zugunsten von Sahra Wagenknecht beeinflussen kann. Es ist einerseits wirklich schön, sich mal wieder über etwas anderes als Brusthaare und Sex zu unterhalten und eine so spezielle Persönlichkeit kennenzulernen, aber andererseits ist es auch ein bisschen anstrengend, denn Leo hört einfach nicht mehr mit dem Reden auf. Ich bin wie Sokrates, sagt er. Sokrates ist auch rumgelaufen und hat die Leute mit seinen Geschichten genervt. Ich erzähle ihm, dass ich gerade das „Gastmahl“ lese, aber er hat leider noch nie davon gehört. 


Die Tage verschwimmen zu einem großen, heißen Brei. Irgendwann begegnen wir einem weißhaarigen Mann, der uns in Benny Hills Live Restaurant locken will, und als der weißhaarige Mann merkt, dass wir auf keinen Fall in Benny Hills Live Restaurant mit 400 anderen Touristen Paella essen wollen, gibt er uns ein Röllchen marokkanisches Hasch. Ich bin Marokkaner, und wir machen einfach Tiki-Taka, sagt er, obwohl er gerade noch behauptet hat, Deutscher zu sein. Ich gebe dem Mann das Geld und schlucke ein Teil des Röllchens, und dann gehen wir zum x-ten Mal ins Yumbo, denn etwas anderes gibt es hier ja nicht zu tun. 

Der Imam findet es nicht so toll

Wir laufen planlos durch die Gegend, und dann stehen wir auf einmal vor einer echten Moschee. Seit Tagen hängen wir jetzt schon hier rum, tingeln von einer Gay-Bar in die nächste, und die Moschee zwischen all den Darkrooms und Sexshops haben wir immer übersehen. Das Hasch beginnt langsam zu wirken, und ich unterhalte mich mit einem Mann in einem weißen nordafrikanischen Gewand, der ein Imam oder so was ist. Als ich ihn frage, ob Schwulsein denn seiner Meinung nach überhaupt in Ordnung sei, tun er und sein junger Gehilfe so, als hätte ich gerade einen richtig, richtig guten Witz gemacht. Sie lachen. Dann sagt der Imam: Was passiert, wenn du zwei Drähte eines Stromkabels miteinander verbindest? Das ist nicht gut, sage ich. Es gibt eine Explosion!, sagt der Imam, und dann erzählt er, dass die Menschheit untergehen wird, wenn es zu viele Schwule gibt. 

Kennst du die Sahara?, fragt der Imam. 
Sicher, ich kenne die Sahara, sage ich. 
Was passiert, wenn du alleine durch die Sahara läufst?
Ich verdurste wahrscheinlich, ich sterbe. 
Siehst du. 
Ich sehe was? 
Unsere Moschee ist eine Oase in der Wüste. Ohne uns überlebt man hier nicht. 

Ein schwer betrunkener Russe, der eine große Bierdose in der Hand hat, bleibt stehen und hört sich unser Gespräch mit dem Imam an. Sein T-Shirt ist mit einem Einhorn bedruckt, das einen Regenbogen kotzt. Der Russe ruft den Muslimen unverständliche Beschimpfungen entgegen und schwört dann, dass er nie, nie, niemals in die Moschee kommen wird. Wir versuchen, uns mit dem Russen zu unterhalten, aber es ist praktisch unmöglich, weil er so stark lallt. Das Einzige, was wir verstehen, ist, dass er gern Sex mit uns hätte und als VIP-Betreuer arbeitet, der wohlhabenden Touristen zeigt, was man im Yumbo-Center so anstellen kann. 


Danach gehen wir wieder in die Bärenhöhle und trinken Wodka, und der Mann am Zapfhahn erzählt, was für schlimme Hautkrankheiten und Brandblasen die Sonnenstrahlung verursacht. Ihm selber sind neulich braune Lederfetzen von den Schultern gefallen, und er hat jetzt Narben davon. Die Wettervorhersage sei gefälscht, in Wahrheit habe es bis zu 50 Grad. Am Tresen lernen wir einen Italosomalier kennen, der im Lager eines Supermarktes in Birmingham arbeitet. Er hasst seinen Job, und seine Familie ahnt nicht, dass er schwul ist, nur hier auf Gran Canaria, weit weg von zu Hause, kann er endlich so sein, wie er will. 


Der Italosomalier nimmt uns mit in den Bunker, den härtesten aller harten Sexclubs im Yumbo, nicht einmal die Josés trauen sich hier rein. Über dem Tresen läuft ein Porno, in dem ein Arbeiter in einem Logistikkonzern es mit einem anderen Arbeiter im Lagerraum treibt. Oben gibt es eine Art Pranger und eine große Matratze mit einem abwischbaren Plastikbezug. Aus den Boxen kommt schnelle, maschinelle House-Musik. 


Als ich den Darkroom betrete, bin ich schon ziemlich bekifft. Es dauert eine Weile, bis sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnen, aber dann sehe ich sie. Überall sind Männer, die wie Gespenster durch die Gänge schleichen. Keine Gesichter mehr, nur noch Umrisse und Formen, dick, dünn, lang und kurz. Im Darkroom sind alle einfach nur noch Körper, losgelöst von Stellung, Herkunft, Geist. Es ist beeindruckend, wie hier die Grenzen verschwinden. Fremde, Freunde, Liebhaber werden eins. Ich tapse durch das Labyrinth im Keller und fühle mich plötzlich selber wie ein Geist. Es ist alles so wahnsinnig einfach hier, denke ich, jeder bekommt genau das, was er will. Im Vergleich dazu sind die komplizierten Anbahnungstechniken in der Hetero-Welt eine Qual. Ich sehe einen nackten Kerl, der sich zwischen die Pissoirs legt und masturbiert, und andere, die gemeinsam in einer Kabine verschwinden, und einen, der wie von einem Magneten angezogen auf einen andern zugeht und es sich von ihm mit dem Mund machen lässt. Eine Hand berührt mich und versucht, mich in irgendeine Ecke zu ziehen. Ich drehe viele Runden, immer weiter und weiter im Kreis. Oymeln, Dergln, ein Rohr verlegen. Ich muss an den Schriftsteller Hubert Fichte denken, der in der „Palette“ die besten Worte für all das hier fand. 

Am Ende bleiben nur Tauben

Am letzten Tag habe ich einen schlimmen Kater und will einfach nur weg. Nicht nur das Bier, die Hitze und das Yumbo setzen mir zu, sondern die Tatsache, dass ich hier einfach nicht mitmachen kann. Außer zu staunen und zu trinken gibt es für zwei wie uns leider nicht viel zu tun. Am Nachmittag fotografiert Tobias hauptsächlich weiße Tauben. Danach liegen wir an einem anderen Strandabschnitt und schauen aufs Meer.

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