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N° 84, Nerven

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Wut im Bauch

Warum dürfen Frauen nicht in die Luft gehen? Unsere Autorin lässt Dampf ab

Von Annett Scheffel

In der Amygdala, da fängt alles an. Ein kleiner mandelförmiger Komplex aus Nervenfasern ganz tief im Kern des Gehirns. Limbisches System, erste Anlaufstelle, wenn es um Stressbewältigung geht. Wut ist hier zuerst nur ein Signal, ein aufkommendes Gefühl im Rohzustand, unverarbeitet, noch ohne Form, der erste Teil einer komplizierten, emotionalen Kettenreaktion. Irgendwas Ärgerliches ist passiert: Vielleicht wurde man beleidigt, provoziert oder unaufmerksam zur Seite geschubst. Die Amygdala leitet den Impuls weiter: über das Zwischenhirn in die Hirnrinde, wo all die biophysikalischen Reaktionen in Gang gesetzt werden, die nun wie eine große Welle über uns hinwegschwappen. Unruhe, aufsteigende Wärme, Kloß im Hals. Mit dem Stresshormon Noradrenalin im Blutkreislauf steigen Puls und Atemfrequenz, die Muskulatur spannt sich an, ebenso wie die Gesichtszüge. Ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch. 

Ungefähr bis hierher läuft das Gefühl der Wut bei allen Menschen ähnlich ab. Doch dann kommen gesellschaftliche Normen ins Spiel, die uns je nach Geschlecht konditionieren. Sollte man die aufkommende Wut nicht vielleicht lieber runterschlucken oder weglächeln? Diese Frage beantworten Frauen mit hoher Wahrscheinlichkeit anders als Männer, die ihre Wut häufiger offen zeigen – und sich damit auch wohlfühlen. Im Gegensatz zu Frauen, die ihren Ärger viel eher kontrollieren und kaschieren, obwohl sie eigentlich mehr Grund zur Wut hätten. Heißt es für sie im Patriachat doch immer noch: weniger Geld, weniger Macht, weniger Orgasmen, dafür mehr unbezahlte Arbeit und Erschöpfung, schlechtere medizinische Betreuung, häusliche Gewalt, sexuelle Belästigungen und Übergriffe. 

Wie kann es sein, dass Frauen die Fassung behalten, wenn die Amygdala im Prinzip die gleichen Signale sendet? Und wenn dann statt „What the fuck!“ aus dem Mund nur ein verdutztes: „Entschuldigung, wie bitte?“ kommt?

Die amerikanische Autorin und Aktivistin Soraya Chemaly brachte das 2018 bei einem Vortrag zu ihrem Buch „Speak out! Die Kraft weiblicher Wut“ auf eine simple Formel: „Wut bekräftigt Männlichkeit und entkräftet Weiblichkeit. Männer werden dafür belohnt, Frauen für dasselbe verurteilt.“

Frauen lernen sich aus Scham und Unsicherheit zu beherrschen, aus Rücksicht auf andere und Angst vor aggressiven Reaktionen. Weil sie oft genug hören, es wäre wirklich besser „nicht so zornig rüberzukommen“. Weil ihnen schon als Kind nicht beigebracht wurde, ihrer Wut Raum zu geben. Weil die gesellschaftliche Erwartungshaltung an Mädchen und Frauen lautet: Sei liebenswürdig, artig, rücksichtsvoll. Und weil diejenigen, die in der Öffentlichkeit ihren Zorn äußern, laut sind und auf den Tisch hauen, offen verunglimpft werden. Je nach Situation sind sie: irrational, überemotional, zu temperamentvoll, verbittert, unhöflich, unsympathisch, nervig, zickig, anstrengend, hysterisch oder sogar gaga, ganz sicher aber unsachlich. Wut ist ein männliches Privileg. 

Aber warum wird dieses Gefühl im Jahr 2021 noch immer so unterschiedlich wahrgenommen und bewertet? Trotz aller Emanzipation? Vielleicht lässt sich die Frage auf einer Wiese in Berlin-Kreuzberg beantworten. An einem stürmischen Frühlingsnachmittag findet hier im Garten einer interkulturellen Jugendfreizeiteinrichtung das wöchentliche Training von Lowkick statt, einem Selbstverteidigungs- und Kickbox-Verein für Mädchen und Frauen. Fünf Mädchen zwischen zwölf und 14 Jahren spielen, rennen, schreien und üben mit Boxpads Schläge, Tritte und Befreiungstechniken. Wendo heißt diese weibliche Selbstverteidigung. Sie ist verbunden mit Wahrnehmungsübungen, Rollenspielen und Gesprächsrunden, in denen es um Selbstbehauptung und Neinsagen geht. 

Yara Kramer, rotgefärbte Haare, Brille, pechschwarzer Lidstrich, sagt: „Die meisten Mädchen, die zu uns kommen, tun sich schwer damit, richtig wütend zu werden.“ Yara ist erst 20, aber schon seit zehn Jahren bei Lowkick – erst als Schülerin, jetzt als Trainerin. In ihre Erzählungen mischen sich viele eigene Erfahrungen mit Mobbing, Sexismus und angestauter Wut. „Intensiv laut oder ablehnend sein – das trauen sich viele Mädchen nicht.“ Sie beobachtet eine Art Automatismus: nie irgendwas böse meinen und immer gefallen zu wollen. Yara sagt, sie wolle den Mädchen mithilfe von Wedo beibringen, sich nicht klein zu machen, sondern zu sich selbst zu stehen. 

Kindliche Prägungen und Rollenklischees dagegen lehren Frauen, dass Wut eine Emotion ist, die man besser nicht ausdrückt, wenn man sich nicht unbeliebt machen will. Ich rufe eine Freundin an, die gerade viel mit den Wutattacken ihrer dreijährigen Tochter zu tun hat, und damit anders umgehen möchte als ihre eigenen Eltern. Als Kind und Teenager habe sie ihr Vater oft „hysterisch“ genannt, erzählt sie. Es hieß immer nur: „Jetzt komm mal wieder runter!“, als sei ihre Wut eine dramatische Übertreibung. Werkzeuge zur Regulierung habe sie kaum an die Hand bekommen. 

Das Wort Hysterie – übrigens abgeleitet vom griechischen Wort hystéra, Gebärmutter – ist deshalb so problematisch, weil es so eng mit der Pathologisierung von Frauen verbunden ist: Lange glaubte man, laute und zornige Frauen seien wahnsinnig. In den Nervenheilanstalten des 19. Jahrhunderts war die Hysterie eine oft diagnostizierte Krankheit, zu deren Behandlung unter anderem die operative Entfernung des äußeren Teils der Klitoris gehörte.  

Auch heute noch gilt Wütend-Sein bei Mädchen und Frauen als Zumutung, als Anstrengung für andere: Lieber lächeln, immer lächeln. Wenn du lächelst, bist du viel hübscher. Dasselbe Verhalten wird dagegen bei Männern und Jungen als durchsetzungsstark gedeutet. Und wenn männliche Wut aus dem Ruder läuft, drückt man öfter mal ein Auge zu: Ach ja, der ist manchmal ein bisschen impulsiv. Na ja, so sind Jungen nun mal. 

Dass die verzerrten Wahrnehmungen vor allem auf die unterschiedliche Kommunikation zwischen Eltern und Kindern zurückzuführen sind, zeigte eine Studie der Entwicklungspsychologin Harriet Tenenbaum in England: Mit Töchtern sprechen Eltern viel häufiger und ausführlicher über Gefühle – über Traurigkeit, auch über Neid, Angst und Schuldgefühle, nur nicht über Wut. Mit den Jungen reden sie dagegen viel öfter darüber, wie es ist, wütend zu sein, aber weniger übers Traurigsein. 

Wie wirkt sich das bei erwachsenen Frauen aus? Wie lassen sie ihre Wut raus – oder eben nicht? Ich frage herum. Die meisten sagen: eher still. Sie verbergen ihre Wut oder spielen ärgerliche Situation herunter – „Nein, wirklich, alles okay!“ –, lächeln gequält oder treten schnell den Rückzug an – „Na gut, na dann“. Sie fügen sich in ihre Fürsorgerolle als Mutter und Partnerin. Sie suchen sich andere Ventile, die fast nie ihre Beziehungen tangieren, oder wenn höchstens passiv-aggressiv. Eine Freundin erzählt, dass sie wirklich auf jemanden wütend sei, merke man daran, dass sie nicht mehr mit der Person rede. Die kalte Schulter, eine sehr weibliche Strategie. Oder es kommt, wenn Frauen dann doch mal in die Luft gehen, die ganze aufgestaute Wut der letzten Zeit heraus. So habe ich es bei meiner Mutter erlebt, bei der es in solchen Momenten ewig dauern konnte, bis sie sich wieder beruhigt hatte. „Die ganze Ursuppe an die Oberfläche holen“ nannte sie das. 

Wie Frauen ihre Wut kanalisieren, kommt immer auch auf den Kontext an. Das bestätigen mir auch die Mädchen aus dem Wendo-Kurs, die jetzt darüber sprechen, was sie wütend macht: der ruppige große Bruder, der anzügliche Spruch auf der Straße, die Mitschüler, die lachen, weil man die Matheaufgabe an der Tafel nicht lösen kann. Ein Mädchen sagt „Zu Hause lasse ich das schon mal raus, schmeiße Türen und stampfe auf den Boden. Aber in der Öffentlichkeit will ich mich nicht lächerlich machen, wenn ich da so rumschreie.“ Die Grenzen, wann und wo sie sich erlauben, ihrer Wut Luft zu machen, sind klar gesteckt. 

Was aber passiert mit der Wut, wenn sie nicht raus kann? Sie geht ja nicht weg, sie muss irgendwohin. Heute weiß man, dass angestaute Wut bei vielen Erkrankungen eine Rolle spielt, die wir als sogenannte Frauenkrankheiten bezeichnen: Essstörungen, psychische Probleme, Panik, Selbstverletzung, chronische Schmerzen, Autoimmunerkrankungen. Im Jugendalter leiden Mädchen mehr als doppelt so oft an Depressionen wie Jungen. Hinzu kommt, dass weibliche Patientinnen seltener wegen Schmerzen behandelt werden als männliche Patienten mit den gleichen Symptomen. Stattdessen bekommen sie viel häufiger Beruhigungsmittel. Und reiben sich in den Strukturen von Partnerschaft und Kindererziehung immer weiter auf. 

In den Fünfzigerjahren wurden gestresste Hausfrauen mit dem vermeintlichen Wundermittel Frauengold sediert und bei Laune gehalten. Hauptbestandteil des dubiosen „Herz-Kreislauf-Tonikums“: Alkohol. Heute sind andere Mittel hinzugekommen, die den Alltag erträglicher machen sollen: Yoga, Meditations-Apps, Duftkerzen, CBD-Öle, einfach mal runterkommen. Der Selfcare-Markt boomt und Frauen sind die Hauptzielgruppe, stecken sie doch häufig in einem Teufelskreis: Viele Frauen, die Angst davor haben, wütend zu sein, macht das noch wütender. Und kränker. Eine Freundin, die an Depressionen leidet, erzählt mir, sie empfinde Wut als ein nach innen gewandtes Gefühl, und dass sie manchmal wütend auf sich selbst sei, wenn sie ihre Wut nicht besser als inneren Antrieb zu nutzen wisse. Wie befreit man sich aus so einer Endlosschleife der Selbstvorwürfe?

Yara Kramer sagt, in Babyschritten. Am Ende der Stunde packt sie die Boxpads in eine große Plastiktüte. Es wird dauern, und es wird mehr brauchen, als einen Wendo-Kurs einmal die Woche. Aber es ist ein Anfang. 

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