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N° 84, Nerven

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Die Antwort ist Scheiße

Wie bloß kann man das Fliegen umweltgerechter machen? In Bristol haben sie da einen guten Plan

Von Jonas Mayer; Fotos: Chris Hoare

Schon ironisch, eine halbe Tonne CO2 in die Luft zu pusten, um ein Röhrchen mit dem Stoff zwischen den Fingern halten zu können, der das Dilemma in naher Zukunft beenden soll. Der Flug von Berlin nach Bristol dauert zwei Stunden, von dort sind es mit dem Auto noch mal vierzig Minuten an den Ort dieser Geschichte. Durch englische Landschaften, vorbei an alten Eichen voller Mistelzweige, auf den Wiesen Schafe, in der Ferne mal ein Stall oder ein Schlösschen. Bis das Ortsschild „Berkeley“ auftaucht und kurz danach die zwei Reaktorblöcke des ersten britischen Atomkraftwerks, das nach 27 Jahren Laufzeit im Jahr 1989 abgeschaltet wurde. Heute wird hier wieder über eine Art Energie der Zukunft gebrütet: klimaneutrales Kerosin, gewonnen aus menschlichem Kot des Großraums Bristol. „Finest Bristolian shit“, sagt James Hygate, Gründer und Chef von „Firefly Green Fuels“, einem kleinen Unternehmen, das mit dem, was keiner will, ermöglichen will, was alle wollen: klimaneutral fliegen ohne schlechtes Gewissen. Und zwar schon bald, weltweit und bezahlbar. Aber holy shit – kann das funktionieren?

Wenige Minuten Fahrt außerhalb von Berkeley befindet sich das Labor von „Firefly Green Fuels“ in einem flachen Backsteinbau aus den Sechzigern. Innen sieht es aus wie im Chemiesaal einer Schule: geflieste Tische, Erlenmeyerkolben, Messbecher, komplizierte Aufbauten aus Glas. Ein Geruch nach Tankstelle gemischt mit einer süßlichen Note liegt in der Luft. Der kommt von den Shampoo- und Waschmittelresten, die sich in dem Stoff befinden, der hier zu Kerosin gemacht wird. Denn dieser Rohstoff ist kein purer Kot, wie er in die Toilette platscht, sondern Schlamm, wie er weltweit in Klärwerken anfällt. Fachleute nennen ihn biosolids, zu Deutsch: Biofeststoffe. Bislang werden diese in westlichen Ländern kaum genutzt. In Großbritannien dürfen sie aktuell noch als Dünger auf Feldern verteilt werden. Weil damit aber Medi­kamentenreste in die Umwelt gelangen können, werden sie vermutlich – wie in Deutschland – bald verbrannt werden. Der Energieaufwand dafür ist groß, denn der Klärschlamm enthält noch jede Menge Wasser. Es ist, als wollte man Grießbrei anzünden. Scheint, als käme James Hygate mit seiner Idee genau zur richtigen Zeit.

James Hygate hat früher Biodiesel hergestellt und später die Firma „Firefly“ gegründet

Auf dem roten Fliesentisch des Labors steht eine Petrischale, in der etwas liegt, das wie Gartenerde ausschaut: dunkelbraun, etwas feucht, locker, torfig riechend. Man würde gern mal anfassen, doch James zieht bedeutsam die Luft ein. Lieber nicht.

James trägt über dunklem Hemd und Hose einen weißen Laborkittel mit Unternehmenslogo, das ein abstraktes Glühwürmchen darstellen soll. Seine Wangen sind gerötet, er lächelt viel. Das Unternehmen hat er vor 21 Jahren gegründet, um Öko-Treibstoff für Autos und Lkw herzustellen, Biodiesel aus Rapsöl etwa, gepresst aus Rapssaat. Damit beliefert er seit 2013 auch King Charles. Als der noch Kronprinz war, verbrachte er viel Zeit in seiner Residenz um die Ecke von Berkeley. Eines Tages besuchte er das Labor, einen ganzen Nachmittag lang, aus Interesse. Man könnte sagen, James arbeitet seitdem mit royalem Segen.

Mit James am Tisch steht Forschungsleiter Sergio Lima, ein Portugiese mit grau meliertem Bart. Er scheint der Typ nüchterner Chemiker zu sein. Sergio forschte am Imperial College in London an klimafreundlichem Diesel, als er 2018 in einer Anzeige las, dass in Berkeley ein Chemiker gesucht wird, um in einer Art besserer Garage neue Bio-Treibstoffe zu entwickeln. Sergio war sofort angefixt, also zog er von London aufs Land in den Südwesten Englands, „um bei diesem Wahnsinn mitzumachen“, wie er heute sagt. „Er ist ein Freund und ein Genie“, sagt James über Sergio, der seinerseits schmeichelt: „Es reicht nicht, wenn die Wissenschaft stimmt, auch das Geschäft muss stimmen, und mit James tut es das.“ Die perfekte Chemie also.

Apropos Chemie: Kerosin besteht aus Kohlenwasser­stoffen. Klimafreundliches Kerosin herzustellen heißt, den Kohlenstoff aus fossilem Rohöl durch solchen aus erneuerbaren Quellen zu ersetzen, etwa aus gebrauchtem Fett aus der Gastronomie, Algen, Stroh, Holzabfall – alles natürliche Produkte, die während ihres Entstehens CO2 aus der Luft absorbiert haben. Oder man saugt selbst CO2 ab, etwa in Kohlekraftwerken, und verbindet es mit grünem Wasserstoff. Egal wie: Wird das Kerosin aus erneuerbaren Quellen schließlich im Flugzeug verbrannt, ist der CO2-Kreislauf aus Ausstoß und Verbrauch komplett, so der Gedanke hinter den nachhaltigen Treibstoffen. 

Im Jahr 2021 schrieb die britische Regierung den Wettbewerb „Green Fuels, Green Skies“ aus und lockte mit Fördergeldern in Millionenhöhe. James und Sergio stellten die entscheidende Frage, welcher Stoff immer, überall und in noch viel größeren Mengen vorhanden ist als die typischen Rohstoffe wie altes Fett. Und vor allem so unattraktiv, dass ihn sonst niemand haben will. Die Antwort: Scheiße. Für ihre Forschung erhielten sie von der britischen Regierung mehr als zwei Millionen Euro Förderung – zuletzt sicherte die ungarische Billigfluglinie Wizz Air James zu, über zwanzig Jahre Treibstoff im Wert von mehr als 1,1 Milliarden Euro abzunehmen. Das Geschäft mit dem großen Geschäft sei riesig, sagt er, sechzig Milliarden Euro Umsatz pro Jahr seien weltweit möglich. 

Im Labor deckt Sergio Lima jetzt die Petrischale mit dem ab, was wie Gartenerde ausschaut, aber keine ist, und stellt einen Messbecher mit einer tiefschwarzen dickflüssigen Masse daneben. Ein halber Liter biocrude, Bio-Rohöl. Es sieht aus, als sei es gerade noch Tausende Meter tief in der Erde eingeschlossen gewesen. Sergio hebt den Becher und schwenkt ihn hin und her. „Das ist, was unter der Erde in Millionen von Jahren aus abgestorbener Biomasse wird“, sagt er. „Wir machen das hier nach – innerhalb einer Viertelstunde.“ Mit viel Druck und Temperaturen von bis zu 350 Grad Celsius scheidet er die Biofeststoffe vom Wasser und der sogenannten biochar ab, staubtrockener, sandartiger Pflanzenkohle. Zurück bleibt das Rohöl aus Kot. „Es ist wirklich magisch“, wirft James ein, während Sergio erklärt, wie er das Öl weiterverwendet, und schließlich vier Ampullen mit den Endprodukten auf den Tisch stellt: Benzin, Rohbenzin, Diesel und SAF 27-11-23 Sample #1: Flugzeug-Kerosin, klar wie Wasser. Eine britische Universität berechnete, dass es rund 92 Prozent weniger Emissionen verursacht als fossiles Kerosin.

Sergio Lima ist der technische Mastermind hinter der Kackidee

Und wie viele Liter davon haben sie hier schon produziert? „Liter?“, fragt Sergio. „Wohl eher hundert Milliliter.“ Mehr bräuchte es nicht, solange sie noch daran forschen. Wichtig sei zu diesem Zeitpunkt nicht die Menge, sondern die Frage: Kann man damit fliegen? Daher hat er eine Probe an das Deutsche Luft- und Raumfahrtzentrum in Stuttgart geschickt, wo neue Biotreibstoffe analysiert und mit fossilem Kerosin verglichen werden. Die Chemiker in Deutschland waren ziemlich überrascht und fragten zunächst, ob Sergio womöglich eine falsche Probe gesendet habe, also konventionelles Kerosin. Dann aber zogen sie das Fazit: Der Treibstoff aus Kot sei dem aus fossilen Rohstoffen chemisch zum Verwechseln ähnlich. Und bislang sähe er „vielversprechend“ aus. Wahrscheinlich müsse man ihn nicht mal mit fossilem Kerosin mischen, wie es bei den meisten bisherigen Ersatzstoffen der Fall ist. 

Das wäre dann wohl der Höhepunkt in der Technologiegeschichte des menschlichen Kots

„Die große Hürde ist gerade noch, dass unser Her­stellungsverfahren offiziell zugelassen wird“, sagt James. Sorgen scheint er sich deshalb nicht zu machen. Das sei eine Sache von anderthalb Jahren, vielleicht auch mehr. Was nicht schlimm sei, denn man könne eh frühestens 2028 produzieren – in einer bis dahin umgerüsteten Ölraffinerie in Harwich an der Ostküste Englands. Die Lieferverträge mit den Klärwerken der Umgebung seien bereits geschlossen. „In etwa um das Jahr 2035 herum könnte unser Kerosin dann günstiger werden als fossiles“, erklärt James.

Dann wäre wohl erst mal der Höhepunkt in der Technologiegeschichte menschlichen Kots erreicht. Schon 1895 brannten die Straßenlaternen Londons mit Gas aus dem Kot ihrer Bewohner. 1967 experimentierte die NASA mit den Hinterlassenschaften ihrer Astronauten als Notfalltreibstoff für Raketen. Und vor ein paar Jahren fuhr ausgerechnet auf den Straßen Bristols zuerst ein VW-Käfer, dann ein Linienbus herum, betankt mit Gasen aus „Bristolian shit“. Fun Fact: 1997 entwickelten zwei Wissenschaftler der dortigen Universität die Bristol-Stuhlformen-Skala, mit der Mediziner heute weltweit menschliche Fäkalien untersuchen und Krankheiten oder Mangelernährung erkennen können.  

Zum Abschied macht James noch eine Rechnung auf: Jeder Brite scheidet am Tag 1,5 Liter Fäkalien aus. Pro Jahr lassen sich daraus vier bis fünf Liter Kerosin produzieren. Um eine Passagiermaschine von Berlin nach Bristol zu fliegen, braucht es den jährlichen Kot von 2.000 Menschen. Und für den Rückflug noch mal so viel. Eins ist also klar: John und Sergio benötigen den Kot aller Briten – von Dover bis Londonderry, von Cornwall bis zu den Shetland Islands. „Wir nehmen alles“, sagen sie.

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