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N° 84, Nerven

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Und immer geht’s um die Wurst

Auf der Nervskala ganz oben: Deutsche, die Muslime ständig fragen, ob sie Schwein essen

Von Canberk Köktürk

Wir schreiben das Jahr 2017. Ich jobbe in einem Filmkunsttheater. Der sehr warme Septembermittwoch lockt die Gäste eher in die Biergärten als ins Kino. Die Schicht zieht sich in die Länge, während ich eine neue Aushilfskraft einarbeite. Als wir in einer Pause im Seiteneingang eine Zigarette rauchen, entspinnt sich folgender Dia-log: „Canberk! Sehr außergewöhnlicher Name“, sagt mein neuer Kollege. „Woher kommt der Name?“ Weil ich das kommende Gespräch bereits über tausend Mal geführt habe, stelle ich mich mental auf unangenehme Fragen ein und ziehe or-dentlich an meiner Zigarette. Vielleicht wird es ja dieses Mal nicht so schlimm, den-ke ich und antworte: „Aus der Türkei. Meine Eltern kamen in den 1970ern als Kinder von Gastarbeitern nach Deutschland.“ Ich bemerke eine leichte Enttäuschung im Gesicht meines Gesprächspartners, der sich scheinbar auf eine außergewöhnliche-re Geschichte gefreut hatte: „Aha, Canberk. Hab den Namen noch nie gehört. Habe auch einen türkischen Freund. Der heißt Murat, keine Ahnung, ob du den kennst. Aber Canberk? Sehr exotisch“, bemerkt er. Nach seinem Exkurs über türkische Namen stockt das Gespräch kurz, und wir schweigen uns für einige Sekunden an. 
Aus Erfahrung weiß ich, dass mein neuer Kollege nicht lockerlassen wird. Und sie-he da, er dreht sich langsam und bedeutungsvoll zu mir und fragt verschwörerisch: „Sagma, ISST DU SCHWEINEFLEISCH?“ – ganz so, als hätte ihn diese Frage jahr-zehntelang beschäftigt. Ich seufze und antworte: „Ja.“ Wieder kann ich seine Erwar-tungen nicht erfüllen. Aber dann ist die Zigarettenpause zum Glück vorüber. 

Als Kind von türkischen Eltern bin ich mit einigen kulturellen Traditionen aufge-wachsen: Wir begingen die zwei großen muslimischen Feiertage – das Opfer- und das Zuckerfest –, küssten die Hände der Älteren und bereiteten bei uns zu Hause kein Schweinefleisch zu. Und doch spielte die Religion bei uns nie eine große Rol-le. Im Ruhrgebiet, wo ich aufwuchs, gab es andere Traditionen wie Fußball, Bier und Kohle. Und in meiner Heimatstadt Bochum gibt es, objektiv betrachtet, die bes-te Currywurst der Welt.

Die meiste Zeit meiner Kindheit verbrachte ich beim Training, bei Spielen oder Tur-nieren des Fußballvereins. Und so wurde die Wurst vom Vereinsgrill ganz unwei-gerlich Teil meiner Kultur. Auch wenn meine Familie niemals selbst Schweine-fleisch zubereitete, waren Würste außerhalb der eigenen vier Wände kein Tabu für mich. Kurz gesagt: Ich bin ein muslimischer Mensch aus dem Ruhrgebiet, lebe aber nicht nach den Vorschriften des Islams. Was interessanterweise weniger bei meiner Familie als vielmehr im Freundeskreis, in der Schule oder im Job zu Irritationen führte. Ich erinnere mich noch an die ersten Sommerferien auf meiner weiterführen-den Schule. Wir zockten Flugsimulator am PC oder spielten Fußball auf einem ab-geranzten Bolzplatz in Wattenscheid-Mitte. An einem besonders heißen Ruhrpott-Tag schmiss die Familie eines Freundes den Grill an, um den Tag mit ein paar Würstchen und einem kühlen Getränk noch schöner zu machen. Nur nicht für mich. Denn mit den Worten „Du isst ja kein Schwein“ wurde mir statt einer Wurst ein Bröt-chen mit Ketchup serviert. Ich war verwirrt, hatte aber mit elf Jahren verinnerlicht, dass man Erwachsenen nicht widerspricht. Stattdessen begann ich, an mir selbst zu zweifeln. War mein Appetit auf Wurst vielleicht falsch? Durfte ich überhaupt Schweinefleisch essen, wenn meine Eltern es doch mieden? 

Ich entschied mich vorerst für das Schwein, doch ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, dass mir die ständigen Fragen zu meinem Fleischkonsum wurst waren. Nein, der Schweinefleisch-Diskurs hatte weiter Einfluss auf mich, bis ich schließlich als Teenager aufhörte, Schweinefleisch zu essen – und damit die Rolle annahm, die die Menschen in meinem Umfeld seit langem für mich vorgesehen hatten. Bei Schulausflügen aß ich nun statt Salami- brav Käsebrötchen. Allerdings war ich dennoch nicht davor gefeit, dass mich Lehrerinnen und Lehrer latent angespannt fragten, warum ich denn KEIN Schweinefleisch esse. „Weil ich Türke bin“, antwortete ich dann immer knapp. 

Das Schwein, beziehungsweise die Frage, wie ich es denn damit halte, blieb auch im Studium mein treuer Begleiter. Dabei wäre im Partykosmos des Campus die na-heliegendere Frage für einen Muslim eigentlich die nach meinem Alkoholkonsum gewesen – doch auch hier war das Schwein irgendwie wichtiger. Damals landete ich nach ausgiebigen Kneipenbesuchen spätnachts häufig auf der berühmten Bo-chumer Gastro-Meile in einem ebenso berühmten Imbiss. Ohne jeglichen Einfluss meines Über-Ichs sprach ich dort die Worte „Eine Currywurst-Pommes-Majo bitte“. Fünf Minuten später aß ich diese göttliche Kombination aus einer Pappschale mit einer kleinen bunten Plastikgabel. Ich spürte, wie meine Seele meinen Körper ver-ließ, wurde jedoch bei meiner transzendentalen Erfahrung durch die Worte meines Freundes unterbrochen: „Wusste ja gar nicht, dass du Schweinefleisch isst.“ Da war sie wieder. Die Schweine-Frage. 

Die endgültige Emanzipation von der mir übertragenen Rolle gelang mir erst im jungen Erwachsenenalter. Mir wurde endlich klar, dass ich keiner Schablone ent-sprechen musste, die andere Menschen aufgrund ihrer Vorurteile über mich im Kopf hatten. Das Schwein fand wieder einen Platz in meinem Leben – und auch in meinem Magen. Auf die gute alte Schweine-Frage reagierte ich mitunter recht auf-gebracht, indem ich eine andere Identität als die mir zugemessene für mich rekla-mierte. „Ich bin Bochumer, verdammt“, blaffte ich, „die Currywurst gehört zu mir!“ 

Heute, im Jahr 2022, sind die Fragen über meine Kultur und Herkunft noch immer alltäglich: Feiere ich Weihnachten? Sind Kopftücher „ein Ding in meiner Familie“? Trinke ich Alkohol? Esse ich Schweinefleisch? Fragen, deren Antworten ich immer parat haben sollte. Den auferlegten Bildungsauftrag habe ich jedoch abgelehnt, und doch könnte ein neuer drohen. Denn jetzt ist meine Antwort auf „Isst du Schweinefleisch?“: „Nein, ich ernähre mich vegan.“ Darauf folgt dann meistens die nächste verwunderte Frage samt Selbstreflexion: „Gar kein Fleisch? Ich könnte das ja nicht …“

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