„Der größte genetische Faktor für Aggressivität ist das Y-Chromosom“
Über den Umgang mit Menschen wie Trump sollten am besten ab nun die Ärzte mitreden. Ein Gespräch darüber, was manche Männer so böse macht, mit dem Neurowissenschaftler und Philosophen Henrik Walter – aus aktuellem Anlass neu editiert
Interview Hans-Hermann Kotte; Illu: Frank Höhne; erste Veröffentlichung in DUMMY „Böse“; Winter 2014
DUMMY: Herr Walter, laut Bibel neigt der Mensch zum Bösen. Humanisten betrachten ihn im Grunde als gut. Welche Rolle spielen solche Menschenbilder für Sie?
Henrik Walter: Im therapeutischen Alltag sind Begriffe wie gut und böse kein Thema. Da sprechen wir möglichst wertfrei über Verhalten. In der Arbeit mit Menschen, die von anderen als „böse“ bezeichnet werden, müssen wir von moralischen Wertungen absehen. Sonst hat Therapie wenig Sinn. Als Philosoph würde ich übrigens lieber von Moralität sprechen, weil gut und böse eben sehr, sehr biblisch klingt – nach Sünde.
Kommt der Mensch mit einem angeborenen Sinn für Gut und Böse auf die Welt?
Nach allem, was wir wissen, kommt der Mensch mit einer Prädisposition für moralisches Verhalten zur Welt. Es gibt Theorien, denen zufolge moralisches Urteilsvermögen dem Sprachvermögen gleicht. Wir haben eine angeborene moralische Grammatik, die sich aber nur dann ausbilden kann, wenn wir den richtigen Input kriegen. Sprechen lernen wir nur, wenn wir unter sprechenden Menschen aufwachsen – nicht, wenn wir völlig isoliert allein im Wald aufwachsen. So ähnlich ist es auch mit dem moralischen Urteilsvermögen. Unter Wissenschaftlern wird auch von einem angeborenen „moral sense“ gesprochen.
Die Moral ist also im Hirn angelegt, muss aber trotzdem noch gelernt werden.
Ja. Das Gehirn ist so angelegt, dass es Sprache mühelos lernt. Ebenso leicht lernt es auch moralische Prinzipien. Es ist weder alles fest verdrahtet, noch ist unser Gehirn ein unbeschriebenes Blatt, Tabula rasa. Jeder hat die Fähigkeit in sich, moralisches Denkvermögen zu entwickeln. Vorausgesetzt, es ist der richtige Input da.
Und wenn der falsche Input da ist? Wenn mir also zum Beispiel als Kind Gewalt angetan wird, werde ich dann auch zum Schläger?
Wenn eine gesunde Entwicklung kaputt gemacht wird, dann hat das unweigerlich Folgen. Allerdings ist die These, dass nur diejenigen, die Gewalt erlebt haben, auch gewalttätig werden, in dieser Ausschließlichkeit nicht richtig. Man kann auch gewalttätig werden, wenn man eine normale Erziehung genossen hat.
Kann „das Böse“ vererbt werden?
Die Erkenntnisse dazu sind bislang noch recht bescheiden. Man weiß zwar, dass bestimmte genetische Varianten zu aggressivem Verhalten prädisponieren, für den Einzelnen hat das aber nur in extrem seltenen Varianten eine Relevanz. Ich würde es so ausdrücken: Es gibt zwar genetische Grundlagen für Aggressionsneigung und Furchtlosigkeit, aber für eine Vererblichkeit des Bösen im Allgemeinen gibt es keine klaren Belege.
Wie erklären Sie sich, dass es in bestimmten Konstellationen zu einer Häufung böser Taten kommt, wie etwa in der Zeit des Nationalsozialismus?
Ich glaube nicht, dass man den Nationalsozialismus rein neurobiologisch erklären kann. Und natürlich spielten Gruppenphänomene damals eine wichtige Rolle. Die einfachste Art, „böses“ Verhalten hervorzubringen, ist übrigens folgende: Man stecke junge Männer zusammen, enthalte ihnen sexuelle Aktivitäten vor und setze sie mit Hilfe von Ideologie und Autorität unter Druck. Dann entsteht schlimmes Verhalten fast von allein. Wenn die jungen Männer noch dazu sozial benachteiligt sind, funktioniert es noch leichter.
Wieso sprechen Sie nur von Männern?
Der größte genetische Faktor für Brutalität, Aggressivität und Kapitalverbrechen ist bekanntermaßen das Y-Chromosom: Mehr als 90 Prozent aller Kapitalverbrechen werden von Männern begangen. Man kann das, was im Dritten Reich passiert ist, aber nicht auf Hirnprozesse oder Gene reduzieren. Es funktioniert leider allzu gut, dass Menschen alte, primitive Verhaltensprogramme anschalten können, wenn sie denken, dass ihr Verhalten moralisch gerechtfertigt ist. Das meiste, was wir als das klassisch „Böse“ bezeichnen, entsteht gar nicht, weil jemand unmoralisch ist, sondern weil er sich und seine Sache für moralisch überlegen hält. Dass er meint, im Dienste einer größeren Sache sei es notwendig, Grausamkeiten und Gewalttätigkeiten zu ver-üben. Ich denke, was damals geschah, kann unter bestimmten Umständen – in kleinem oder großem Maßstab – jederzeit wieder geschehen.
Wie weit kommt man mit biologischen Erklärungen – ist „das Böse“ nicht vielfältiger als die Biologie?
Man kommt recht weit mit dem Biologischen und dem Psychologischen – aber man kommt nicht allein damit aus. Die Fähigkeit des Menschen, Schlechtes zu tun und Grausamkeiten zu verüben, wird dann leichter freigesetzt, wenn bestimmte gesellschaftliche und soziale Randbedingungen vorliegen. Dazu kommt eine Autorität, der man sich unterwirft, eine Ideologie, Weltanschauung oder Religion, an die man bedingungslos glaubt.
Wie entstehen diese Persönlichkeitsstörungen?
Persönlichkeitsstörungen gibt es viele, und alle entwickeln sich schon in der Kindheit, lassen sich aber erst im Erwachsenenalter feststellen. Bei der Psychopathie, einer Extremvariante der soziopathischen Persönlichkeitsstörung, ist es so, dass die Betroffenen generell wenig Angst haben und zudem kaum Schuldgefühle empfinden. Das macht es für sie verführerisch leicht, unmoralisch zu sein, weil die üblichen Hemmungen nicht da sind – zudem können die Betroffenen sehr charmant sein und andere Menschen gut manipulieren. Man weiß, dass diese Eigenschaften sich sehr früh entwickeln und schwer beeinflussbar sind.
Können Psychologen bei daggressiven Menschen, die nicht traumatisiert sind, etwas ausrichten?
Prinzipiell kann jedes Verhalten, das erlernt wurde, auch wieder verlernt werden. Die Grenze zwischen krank und normal ist ja notorisch unscharf, und wir alle scheinen die Veranlagung, uns unmoralisch oder „böse“ zu verhalten, bis zu einem gewissen Grade in uns zu haben – und je häufiger wir ein solches Verhalten ausüben, umso schwieriger ist es, dieses wieder zu verlernen.
Man spricht davon, etwas nicht mit seinem Gewissen vereinbaren zu können. Ist das auch eine Kategorie für Sie?
Gewissen ist ein Anteil an dem „moral sense“. In der Moralpsychologie gibt es den Vorschlag, fünf große Domänen der Moral zu unterscheiden: Schaden, Fairness, Ingroup und Outgroup, Autorität, Reinheit. Das sind grundsätzliche Kategorien, die auch in nichtmoralischen Zusammenhängen eine Rolle spielen. Etwa Reinheit bei der Ernährung oder Autorität im Eltern-Kind-Verhältnis. Viele moralische Empfindungen, Verhaltensweisen, Regeln beziehen sich auf diese fünf Domänen. Gewissen wäre dann eine Instanz, ein persönlicher Mechanismus, der einem gefühlsmäßig sagt, dass man eines von diesen Prinzipien verletzt.
Sind diese fünf Domänen alle gleich wichtig?
Es gibt die These, dass sich an der Gewichtung dieser Domänen ablesen lässt, ob jemand eher liberal oder konservativ ist. In dem Sinne wären Schadenvermeidung und Fairness eher bei den Liberalen zu verorten – und Autorität und Reinheit eher bei den Konservativen. Die Orientierung an den Prinzipien kann in verschiedenen Mischungen vorkommen, je nach Mischung ist man eher ein konservativer oder nicht konservativer Typ.
Henrik Walter ist Psychiater, Hirnforscher und Philosoph an der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Seine klinischen Schwerpunkte sind schizophrene und affektive Störungen
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