Er weiß nicht davon, aber ich träume immer noch von ihm
Rücksichtslos, freien Oberkörpers, brüllend & orkanartig fegte er durch die Turnhalle: Erinnerungen an meinen Sportlehrer – zum Ende der Olympischen Spiele
Von Ulrich Holbein; aus DUMMY „Sport“
Ich hab ein Problem – ich hasse keinen. Ich habe 1037 Adressen im Adressbuch und hasse null davon. Da sind Typen dazwischen, grauslige Visagen, Saftsäcke, Trockenfurzer; manche davon haben mir Körbe gegeben, mich auf Abstellgleisen kaltgestellt, mich hinter meinem Rücken schlechtgemacht, mir gesunde Zähne gezogen, meine Anträge abgelehnt, Hundegebell auf mich losgelassen, Grußverweigerung betrieben, Erscheinungstermine verschleppt, mich per Zeugung mit dubiösem Erbgut infiltriert.
Doch kaum baut sich so eine hassenswerte Figur vor mir auf, mit Frisur und Brille, seh ich deutlich: Das sind keine Täter. Arme Würmchen kann ich nun mal nicht hassen.
Was muss mir einer tun, ehe ich ihn hassen kann?
Entweder hat mir gute Erziehung meine natürliche Mitgift ausgetrieben, heimlich staut sich Fürchterliches auf und bald muss alles zerstörerisch raus. Oder mit meinem – Konrad Lorenz zufolge – angeborenen Aggressionspotenzial stimmt irgendwas nicht. Nun aber belehrt mich irgendein Swami: „Wer nicht hassen kann, kann auch nicht lieben“, und das gibt mir dann doch zu denken.
Ich gehe mein Adressbuch durch und finde tatsächlich ein paar Namen, angesichts derer ich reflexhaft aufstöhne und die ich – mit gutem Willen, wenn ich unbedingt müsste – hassen könnte. Ja, wenn ich so richtig in mich gehe, fällt mir durchaus ein Mensch ein, den ich mehr als andere gehasst hab, und da ich diesen Hass nie stillen konnte, hasse ich den Mann – hoff ich! – immer noch.
Er weiß nichts davon, aber ich träume immer noch von ihm.
Jahr um Jahr steh ich ihm plötzlich wieder gegenüber, kurz vor der mittleren Reife, und überlege mir, ob ich nicht nach den Osterferien einfach wegbleibe, statt mich dieser Schmach noch weiter auszusetzen.
Blass pubertierend saß ich in seiner Klasse, weit hinten; er stand als Mann im besten Mannesalter praktisch täglich als Klassenlehrer vor uns, in Erdkunde, Geschichte, Biologie, Sozialkunde, vor allem Schwimmen und Sport.
Nur weiß ich nicht, wie ich mich jemals rächen könnte, weiß körperlich nichts einzuleiten; Rolf Münch wüsste sich grausam zu wehren, ein Gorilla von Mann, bestens durchtrainiert, der geborene Scherge, verlässliches Ausführorgan, und wenn es heißt, Nazis hätten teilnahmslos und lustlos gefoltert: Im Fall Münch kann ich das nicht bestätigen. Dieser Typ hätte mit Lust gefoltert, schwitzend, triefend, mit verzerrtem Grinsen, und er hat mit Lust gefoltert, und wenn er nicht pensioniert ist, foltert er noch heut.
Alles drillte und formte er im Hinblick auf die fahnenschwenkenden Bundesjugendspiele durch.
Damals wird er so Mitte 30 gewesen sein, für manche ein gut aussehender, sportlicher Typ, volles Haar, breite Schultern, gute Zähne. Ich aber sah vor allem extrem muskulöse Kauwerkzeuge in grauenvoller Relation zu extrem maskulinen Augenwülsten und darüber wegfliehender Stirn, samt blendaxweißem Gorillagebiss, das nur einmal im Jahr freigelegt wurde; Rolf Münch lachte nie, außer zum Geburtstag, wenn die Klasse zusammengelegt hatte und ihm ein eingepacktes Geschenk überreichte, mitfinanziert leider auch von mir. Eine seiner häufigsten Formulierungen: „vor versammelter Mannschaft“.
Alles drillte und formte er im Hinblick auf die fahnenschwenkenden Bundesjugendspiele durch. Sein Organ schallte durch die Turnhalle oder beim Marathonlauf horizontefüllend über die Aschenbahn. Bei Leichtathletik stand er breitbeinig am Rand; jeder, der die Doppelrolle nicht formvollendet hinbekam, knallte, dank seiner Hilfestellung, in die nächste Ecke. Seinen glasigsten Blick hatte er drauf, als er am Reck einen Schüler derart gegen die Stange knallte, dass der sich mit Stauchhoden verkrümmt durch die Halle schleppte. Ich leistete die abgeforderten Bewegungen, so gut ich konnte, zog aber den Klassendurchschnitt punktemäßig herunter, lud Kollektivhass auf mich. Nicht imstande, trotz meiner vorauseilenden Körperlänge, über die langen Kästen todesmutig und elegant hinwegzufliegen wie alle andern Schüler, musste für die Mini-Memme Norbert Flau, den Mops Klaus Gerhart – oder Gerhart Klaus? – und mich extra ein kleiner, niedrig gestellter Normalbock aufgebaut werden, über den Flau und ich knapp hinweghopsten, während der Mops auf diesem Bock mit violett schmerzverzerrtem Mopsgesicht sitzen blieb.
Jede Sportstunde endete mit Fußball. Hierbei spielte Münch voll mit, die erste Halbzeit bei der einen Mannschaft, die zweite bei der zweiten: Es gewann ausschließlich immer die Mannschaft, bei der er in der zweiten Halbzeit mitspielte, rücksichtslos, freien Oberkörpers, brüllend, orkanartig übers Spielfeld fegend, hierbei den 13-jährigen Schülerhaufen zu mitrennender, vor allem ausweichender Staffage machend, alle und jeden beliebig umstoßend, tretend; überall sah ich rote Ballumrisse auf weißer Haut, blaue Flecken der ersten Halbzeit, die braunen und gelben Flecken der vorigen Woche. Das Monstrum reagierte sich ab, randalierte; spielte nicht, machte Ernst. Mein einziges Spielziel: komplementär immer genau anderswo mich zu bewegen, so weit weg vom wild gewordenen Kraftzentrum wie möglich, und vor allem: die plötzlich irgendwo heranschießende Kanonenkugel im Auge behalten, um ihr auszuweichen, hierbei aber immer so tun, als liefe auch ich zeitweise dem Ball nach oder als sei es auch mein Ziel, ihn ernstlich aufzuhalten. Wilde schwarze Zotteln verhüllten die braun gebrannte Gorillabrust, von der in breiten Bahnen Schweißbäche heruntergleißten, ehe man sich im Dampf der Dusche wiedersah, wo Münch sich zwischen den Schülern massiv einseifte, Arme, Brust, Gesamtmuskulatur, Schenkel, hierbei auch intensiv in die Badehose hineinfuhr und auch dort alles heftig und unverborgen einseifte und durchknetete.
Beim kollektivpflichtigen DLRG-Schein-Machen gelang es mir trotz schmaler Lunge, eine gewisse Zeit unter Wasser zu bleiben, bekleidet Ertrinkende halbwegs in Kleidern abzuschleppen; nur den geforderten Kopfsprung bekam ich nicht hin, nicht einmal einen Startsprung beim 100-Meter-Schwimmen. Ich sprang guten Willens möglichst kopfunter rein, sehr vorschriftsmäßig, doch im Flug oder Fall drehte ich mich instinktiv immer noch so, dass der Kopf wieder nach oben kam und als letztes Körperteil unterging. Münch hielt an Beckenrand und Startklotz meine dürren Schienbeine mit seinen Klauen umschlossen, schleuderte im Absprung mein Gebein hoch in die Luft, so dass ich gar nicht anders konnte, als mit dem Kopf unten aufzuprallen, und dennoch schaffte es irgendwie mein Leib, sich in allerletzter Sekunde derart unwahrscheinlich zu verbiegen, dass es doch noch zu einem anatomisch unglaubwürdigen, entsetzlich explodierenden Bauchklatscher kam, jedenfalls zu keinem Kopfsprung.
Auf Wandertagen und Klassenfahrten wurden in Gewaltmärschen Riesenstrecken zurückgelegt; alle zwei Stunden wartete irgendwo die uneinholbare Kopftruppe, um die nachkleckernden Restgruppen runterzumachen. Zwei Jahre später hetzte er uns auf höchste Berge, über Geröllfelder, an Gemsen vorbei, durchaus unter Inkaufnahme von Lebensgefahr, um oben, auf umstürmtem Gipfel, mit männlichster Siegerpose besagtes Gorillagebiss zu entblößen, als hätte er Geburtstag, und Zigaretten herumzureichen; jeder – obwohl erst 14 und 15 – musste dran ziehen, auch ich, und eine Buddel rumgehen zu lassen, und jeder musste reihum sie sich ans Maul setzen und den Adamsapfel wandern lassen. In irgendeinem Museum kam eine japanische Reisegruppe vor uns dran, da brüllte der Gorilla durch die Hallen: „Komm’n denn de Deutschen ooch noch dran? Oder wie seh ich das hier?“
Vermutlich brüllte Münch nicht als Ausnahmemonster quer durch meine Pubertät, sondern neben zigtausend noch härteren Unteroffizieren und Millionen Familienvätern erschien er harmlos.
Es gab kaum geteilte Meinungen über ihn. Die meisten hatten gar nichts gegen ihn. Andere Lehrer waren unbeliebter. Vermutlich brüllte Münch nicht als Ausnahmemonster quer durch meine Pubertät, sondern neben zigtausend noch härteren Unteroffizieren und Millionen Familienvätern erschien er harmlos.
Nie wagte ich, diese Schule zu schwänzen. Nie kam ich zu spät zum Unterricht. In all den Jahren hob ich nullmal den Finger. Auch wenn ich als Einziger die Antwort wusste, ich schwieg unbestechlich. Wenn er „Holbein, vorlesen!“ befahl, las ich leise und nuschelig vor. Wenn er „Lauter!“ befahl, las ich ein Spürchen lauter vor. Wenn er mich etwas fragte, nuschelte ich errötend „Ja“ oder „Nein“. Wenn eine Antwort längere Sätze erforderte, schwieg ich.
In Bio wurden wir sogar aufgeklärt. Münch bot uns an, heikle Fragen in einem Hut zu sammeln. Er verließ rücksichtsvoll den Raum, dennoch wagte keiner, einen Zettel einzuwerfen. Einzig der grinsende Neandertaler Hartmut Lind warf einen Zettel ein, und als Münch zurückkam und den Zettel entfaltete, lautete die Frage: „Wie lange dauert die Befruchtung?“ Münch verstand die Frage richtig und erzählte uns, dass man als Anfänger den „Geschlechtsverkehr“ meistens zu überstürzt durchführt. Auch belehrte er uns, dass es Menschen gibt, die nie im Leben „Geschlechtsverkehr“ hätten; er hatte zwei kleine Töchter daheim.
All die Jahre lebte ich meiner Erlösung entgegen. Die Mittlere-Reife-Feier mit Eltern, Kollegium und viel Gummibaum fand in der Turnhalle statt. Ein Mops sagte sogar ein Gedicht auf, „Stufen“ von Hermann Hesse, dessen Namen ich bei dieser Gelegenheit zum zweiten Mal hörte. Dennoch war meine Freude, hier rauszukommen, vergiftet von dem Druck, in all den Jahren null Gelegenheit gehabt zu haben, dem Münch meine ganze Verachtung irgendwie zu zeigen. Auch jetzt fiel mir nichts ein. Fest stand, an diesem Tag würde er mir die Urkunde meiner mittleren Reife vor versammelter Mannschaft überreichen und hierbei voraussichtlich sein elterntauglichstes Lachen aufsetzen, und bereits lange vorher nahm ich mir fest vor, dieses Lachen keinesfalls zu erwidern. Der Moment kam heran, es erklangen in unwandelbar festsitzender Reihenfolge unsere bescheuerten Vor- und Zunamen, die in alphabetischer Unerbittlichkeit auf mich zuliefen … Otmar Germeroth … Gernot Hansal … Uwe Hamman … Vor mir, zwischen Gummibäumen, stand im Anzug mein Klassenlehrer, mit einem Lachen, dreimal heftiger und inniger als bei Gipfelerstürmungen, geradezu mitreißend, der Handschlag eines geborenen Gruppenscharführers, der mit solch muskulöser Kraft warm und lange mein passives Händchen schüttelte, dass diese mich plötzlich derart überzeugend umflutende Herzlichkeit die jahrelange Schmach, samt aller rauen Schale, fast wegspülte, mich fast ansteckte, fast meinen Widerstand brach; mit letzter Reserve an Selbstkontrolle gelang es mir hoffentlich, mein Gesicht unrührbar und distanziert aussehen zu lassen – war alles überhaupt so schlimm gewesen? Der Moment war sofort vorbei, der Name „Frank-Roland Hucke“ ertönte, und ich wusste: Es war zu wenig. Mein Nichtlachen hatte nicht genügt; ich habe diesem Mann widerstandslos die Hand gereicht, beinahe gelächelt, vielleicht sogar tatsächlich gelächelt, aus Schwäche … aus Blödheit … ich bin ein Verräter … der geborene Mitläufer. Wann kann ich das je wiedergutmachen?
Heute noch, nach tausend schmachvollen Albträumen rund um diesen Mann, wälz ich Telefonbücher, in denen tatsächlich ein „Rolf Münch“ drinsteht. Ist er das? Aber was soll ich tun? Klingelstreiche nachts um drei? Mit Sonnenbrille vor dem Haus auf und ab gehen? Anonyme Morddrohungen ins Haus liefern? Vielleicht wurde dieser Mann längst bestraft? Vielleicht hat er seinen Vater im Krieg verloren?
Seine unversöhnlichen Töchter werden ihn im Alter sich selbst überlassen.
Nie traf ich ihn in all den Jahren wieder; ich hätte ihn auf 700 Meter erkannt.
Zum Heft