Die Erfindung des Genies
Tiger-Moms aufgepasst: Die Sidis-Methode galt schon Anfang des 20. Jahrhunderts als Erziehungsmodell, mit dem Kinder zu kleinen Einsteins gemacht werden sollten. Allerdings blieb es bis heute bei einem einzigen Probanden
Von Natascha Roshani
Boston, 17. Juli 1944, ein schwüler Sommertag: Ein Mann, mittelalt, ein wenig ungepflegt und nachlässig gekleidet, liegt tot in einer winzigen, spärlich eingerichteten Mansardenwohnung. In seinem Anzug das Foto einer jungen Frau. Zunächst glaubt niemand, den einsam Verstorbenen zu kennen. Eine Blutung im Hirn, so erfährt man später, hat den Tod herbeigeführt. Dass das Leben dieses scheinbar unbekannten Mannes seit Jahrzehnten im Mittelpunkt von Presse und Öffentlichkeit stand, ahnt in diesem Moment noch niemand.
New York, Ende des 19. Jahrhunderts: Jeden Tag kommen Schiffe mit Tausenden Einwanderern aus Europa an – auf der Suche nach einem Leben fernab von Repressalien und Chancenlosigkeit. Wie Sarah Mandelbaum und Boris Sidis, die aus der Ukraine geflohen sind, damals ein Teil des russischen Zarenreichs. Durch Zufall laufen sich die beiden in der fremden Millionenstadt über den Weg und erkennen, dass sie wie füreinander geschaffen sind. Sie verlieben sich nicht nur, sie lieben auch beide die Wissenschaft: Sarah hat in ihrer neuen Heimat ein Medizinstudium abgeschlossen (als eine der ersten Frauen in den USA), Boris ist bereits ein anerkannter Psychologe, der sich intensiv mit Hypnosetherapie beschäftigt.
Vier Jahre nach ihrer Heirat, am 1. April 1898, kommt ihr erstes Kind zur Welt – ein Sohn (1908 das zweite, ein Mädchen). Nun ist es die Erziehung des Jungen, aus der Sarah und Boris eine regelrechte Wissenschaft machen. Beide sind von dem Gedanken beseelt, dass Bildung einen entscheidenden Einfluss auf den Menschen hat. So verwundert es nicht, dass sie ihren Sohn nach dem berühmten Psychologen und Philosophen William James benennen.
Der Name geht mit einer großen Verpflichtung einher – zumindest sieht das Boris so. Er beschließt, im Umgang mit seinem Sohn auf alles Kindisch-Kindliche zu verzichten. Vom ersten Tag an soll Williams Intellekt geschult werden. Bereits kurz nach der Geburt beginnt Boris damit, dem Baby statt Kinderbüchern griechische Sagen vorzulesen und eigenes anspruchsvolles Spielzeug für ihn zu entwickeln. Er und Sarah sind der festen Überzeugung: Ein Kind ist ein unbeschriebenes Blatt und seine Intelligenz unabhängig von seinen Genen. Um die optimal zu fördern, müsse man seinen Nachwuchs nicht mit sinnlosem Auswendiglernen unter Einsatz des Rohrstocks quälen, sondern ihn von Anfang an als denkenden und neugierigen Menschen verstehen. Ein ungewöhnlicher, moderner Ansatz in diesen Zeiten.
Und William scheint das perfekte Baby zu sein. Die neuen Lernmethoden zeigen bei ihm so einen überraschenden Erfolg, dass selbst Sarah und Boris stauen: Mit achtzehn Monaten kann der kleine Junge bereits Zeitung lesen – für seine Eltern der Beweis, dass das Experiment mit dem eigenen Sohn verbissen weitergeführt werden muss. Und während andere Gleichaltrige versunken im Sandkasten vor sich hin buddeln, zeigt William von Tag zu Tag ein größeres Interesse an der Welt, die ihn umgibt. Eine Welt, die vor allem aus Büchern existiert, die überall in den Regalen der elterlichen Wohnung herumstehen. Oft sitzt Boris an der Schreibmaschine, ein wissenschaftliches Werk nach dem anderen verfassend. Arbeitet er nicht an neuen Büchern oder mit seinen Patienten, schult er seinen Sohn in Astrologie, Physik und Mathematik, Themen, die dieser wissbegierig aufsaugt. Nur das Spielen mit anderen Kindern will William nicht gelingen. Eigentlich mag er noch nicht einmal die Wohnung verlassen, es sei denn, seine Eltern locken ihn mit einer Fahrt in der Straßenbahn. Dann ist William in seinem Element: Er sammelt weggeworfene Fahrkarten vom Boden auf und studiert die Linien und Haltestellen. Es dauert nicht lange, da hat der Junge durch sein fotografisches Gedächtnis alle An- und Abfahrtszeiten der New Yorker Straßenbahn im Kopf.
Mit sechs hat er sich bereits Französisch, Deutsch, Russisch, Türkisch, Armenisch und Latein draufgeschafft
Zwar kann sich William noch nicht allein seine Schnürsenkel zubinden, doch er beginnt – ganz nach dem Vorbild seines Vaters –, Bücher zu schreiben. Mit sechs ist sein viertes (wissenschaftliches) Buch fertig. Nebenbei hat er sich, zusätzlich zu seiner Muttersprache Englisch, sechs Sprachen beigebracht: Französisch, Deutsch, Russisch, Türkisch, Armenisch, Latein. Und weil all das noch nicht genug ist, erfindet er mit acht Jahren eine eigene Kunstsprache, die er Vendergood nennt und deren semantischen und grammatikalischen Aufbau er der Welt in einem umfangreichen Handbuch erklärt.
Was wie ein Märchen klingt, bleibt der Öffentlichkeit nicht verborgen. Erst diskutiert die wissenschaftliche Elite – angefüttert durch akademische Artikel von Williams Eltern – über die Sidis-Methode, dann überschlägt sich die Presse mit Lobeshymnen auf das exzentrische Wunderkind. Mittlerweile ist William zu einem schüchternen, in sich gekehrten Jungen herangewachsen, den jede Schule unterfordert. Wieder einmal erreichen seine ehrgeizigen Eltern Unmögliches. Sie agitieren Lehrer und Schulleiter so lange, bis William mit sieben Jahren die Highschool abschließt und die Aufnahmeprüfung am Massachusetts Institute of Technology und der Harvard-Universität in Cambridge absolvieren darf – und beide besteht.
Cambridge, Januar 1910, ein kalter Winterabend: Ein zwölfjähriger Knirps blickt unsicher vom Podium der ehrwürdigen Harvard-Universität. Vor ihm die Crème de la Crème der Wissenschaft, ausgewählte Professoren und Studenten. Gebannt starren sie auf das Kind, das mit seiner Fistelstimme brillant über die vierte Dimension in der Mathematik referiert. Das Publikum ist sprachlos, und die Presse fasst in Worte, was alle denken: William James Sidis ist der größte Mathematiker aller Zeiten. Spätestens jetzt ist der Junge ein Star. Es vergeht kaum ein Monat, an dem er nicht auf den Titeln der großen US-amerikanischen Zeitungen erscheint. Ist er krank, bewegt das die Öffentlichkeit. Will er sich nicht von den Fotografen ablichten lassen, wird ihm Exzentrik vorgeworfen. Schreibt er ein neues Buch, ist er ein frühreifes Genie.
So toll das Hirn, so krank das Herz: Eine unglückliche Liebe wirft ihn völlig aus der Bahn
Und dann kommt es, wie es kommen muss. William rebelliert. Gegen den Universitätsbetrieb, gegen seine Eltern, gegen die Gesellschaft, die ihn nicht in Ruhe Kind sein lassen will, und vor allem gegen die Presse, die ihn auf Schritt und Tritt verfolgt. Mit sechzehn hat er ein „cum laude“ von der Harvard-Universität in der Tasche und bereits eine beeindruckende akademische Karriere hinter sich, aber auch Jahre als kauziger Außenseiter und emotionaler Sonderling. Sein Jurastudium schießt William unerwartet in den Wind, stattdessen hat er die Politik für sich entdeckt. Bei einer sozialistischen Demonstration in Boston, die in Ausschreitungen mündet, wird er 1919 verhaftet und vom Gericht zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Der Vorwurf: Anstiftung zum Aufstand für die kommunistische Bewegung. Ein einschneidendes Erlebnis, nicht nur wegen des tiefen Falls des ehemaligen Wunderkindes, den die Presse genüsslich zelebriert, sondern auch, weil der nun 21-jährige William während seines politischen Engagements Martha Foley kennengelernt hat, eine junge Aktivistin und Schriftstellerin. Dass aus den beiden kein Liebespaar wird, ist etwas, was William ausnahmsweise nicht in den Kopf will. Bis zuletzt verschmerzt er es nicht. Alles, was ihm bleibt, ist ein Foto seiner Angebeteten.
Und dann führen die negativen Schlagzeilen auch noch zum Bruch mit seinen Eltern. Sarah und Boris sehen ihr Lebenswerk in Gefahr – und für William eine düstere Zukunft voraus. Was hatten sie sich für ihr geniales Kind nicht alles erhofft? Aufgrund ihrer einflussreichen Beziehungen gelingt es ihnen, dass William vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen wird – doch für den jungen Mann beginnt damit eine Tortur. Denn seine Eltern versuchen fortan, ihn zu manipulieren und kleinzuhalten, drohen sogar mit der Einweisung in eine Irrenanstalt, nur um ihren Sohn wieder auf die (für sie) richtige Bahn zu führen.
Boston, während des Ersten Weltkrieges: Irgendwo in der dicht bebauten Stadt arbeitet ein unauffälliger Mann an einem Institut, das vom Kriegsministerium finanziert wird. Als er davon erfährt, kündigt er entsetzt und beschließt daraufhin, nur noch einfache Arbeiten anzunehmen. Die Jahre vergehen, und er lebt als kleiner Büroangestellter ein äußerst bescheidenes Leben. Auch als die USA vom Zweiten Weltkrieg in Atem gehalten werden, ist er noch überzeugt von der Idee des Pazifismus und sozialer Gerechtigkeit. Mit dem Gefühl, völlig unverstanden zu sein, flüchtet sich William James Sidis in die Abgeschiedenheit seiner Dachkammer. Jeden Abend nach seinem eintönigen Job schreibt er. Bücher über seine Theorien zu schwarzen Löchern, Bücher über das Straßenbahnwesen, Bücher über den Ursprung des Lebens im Kontext der Thermodynamik. Und dann, vierzehn Monate vor Kriegsende, kollabiert nach 46 Jahren Hochleistungsarbeit das Hirn dieses intelligentesten Menschen aller Zeiten.
Zum Heft