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N° 86, Müde

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Als wir träumten

Viel Vollkornbrot, wenig Fernsehen und eine katholische Montessorischule – meine Kindheit in Deutschland konnte sehr einengend sein. Dagegen kamen mir die Sommer bei meinen Verwandten in den USA vor wie das Paradies, in dem wir Fast Food futterten, Quad fuhren und exzessiv shoppen gingen. Dass sich dahinter ein Abgrund an Ignoranz auftat, wurde mir erst viel später bewusst

Text: Madeleine Londene; Fotos: Odette England

Ein schwüler Sommerabend im August 2014: Meine Cousine und ich sitzen in ihrem neuen Ford-Pick-up vor dem Haus ihrer Eltern. Der Motor läuft, die Klimaanlage auch, aus den Lautsprechern kommt laute Musik des Countrysängers Luke Bryan, der über Männer auf Treckern und Frauen in engen Jeans singt. „Aw, country girl, shake it for me“. Hinter uns liegt die Koppel meiner Großeltern, nur ein winziger Teil des großen Familienanwesens, auf dem die Rennpferde im Abendlicht grasen. Im Haus brennt Licht – und auch wenn ich es wegen der Gardinen nicht sehen kann, weiß ich, dass mein Onkel und meine Tante, müde vom Arbeitstag in ihrem erfolgreichen Unternehmen für Elektrotechnik, vor dem großen Flachbildschirm sitzen, Chips essen und Fox News gucken: Nachrichten über Flugzeugabstürze, mexikanische Einwanderer und Politiker, die sich in Washington über das Gesundheitssystem streiten.

„I need a hit“, stöhnt meine Cousine und holt aus dem Handschuhfach eine kleine Wasserpfeife aus buntem Glas. Ihre blonden Haare sind zu dünnen Braids geflochten, sie trägt nur einen Sport-BH, Shorts und Flip-Flops, es ist wie immer unfassbar heiß in New Mexico.

Die Flamme des Feuerzeugs leuchtet auf. Ich höre es blubbern, meine Cousine zieht den vom Wasser abgekühlten Rauch auf Lunge, sie hustet, zieht noch mal, hält beide Hände vor den Mund. Auf ihren Fingerknöcheln sehe ich ein unleserliches Tattoo: „White Bitch“, erklärt sie mir und lacht. Das habe sie sich vor ein paar Monaten betrunken im Urlaub stechen lassen – verstehe eh keiner, es sei ja thailändische Schrift. 

Ganz plötzlich habe ich das Gefühl, am falschen Ort zu sein. Die Basecap auf meinem Kopf kommt mir auf einmal wie eine Verkleidung vor, der angebissene Burrito in meinem Schoß schmeckt schrecklich, der verrauchte Pick-up, in dem wir sitzen, wird zum Raumschiff, gestrandet im Nirgendwo. In diesem Moment merke ich, wie sich zwischen mir und meiner Cousine ein unendlicher Raum auftut, spüre, wie weit wir voneinander entfernt sind. Mein Gefühl ist kompromisslos – und endgültig. Eine Zäsur, die sich über Jahre angekündigt hat und die sich nicht mal eben mit Marihuana wegrauchen lässt.

Bis zum meinem zwanzigsten Geburtstag verbrachte ich mit meiner Familie jeden Sommer bei unseren Verwandten in Albuquerque, New Mexico, der Heimatstadt meines Vaters. Jedes Jahr zählten mein Bruder und ich die Tage bis zum Abflug, wir schrieben Listen, was wir dort essen und einkaufen würden. Wir planten Angeltrips und Ausflüge nach Disneyland. Dort, im Südwesten der USA, direkt an der Grenze zu Mexiko, zwischen meterhohen Kakteen, lag der Sehnsuchtsort meiner Kindheit. Albuquerque war unsere Auszeit vom öden deutschen Vollkornknast: Statt Pumpernickel mit Leberwurst – mein Pausenbrot, das ich im bayerischen Augsburg auf dem Weg zu meiner katholischen Montessorischule in die Büsche warf – hieß es sechs Wochen lang Marshmallow-Müsli aus Plastikschüsseln löffeln, Ferkel im Schweinestall fangen, auf den Allrad-Quads über die Ranch unserer Großeltern rasen und bis spätnachts „Looney Tunes“ auf der Playstation zocken. 

Jahrzehnte prägte unseren Blick auf die USA der Weichzeichner

Ich erinnere mich, wie meine drei Cousinen und ich – wir waren alle ungefähr im selben Alter – unsere erste Zigarette pafften und zum ersten Mal high wurden. Wie ich ihnen von meinen schlechten Noten erzählte, die ich zu Hause verheimlichte, und von meinem Liebeskummer. Ich erinnere mich, wie mich meine Lieblingscousine tröstete und ich sie, als meinem Onkel mal wieder die Hand ausgerutscht war. Wir teilten alle Geheimnisse miteinander. Wir rannten als Superhelden verkleidet durch den Walmart und kämpften dort mit Laserschwertern. Wir zelteten nachts im Garten und erzählten uns, was wir mal werden wollten: Basketballspielerin, Tänzerin, Hundezüchterin. Wir hielten uns an den Händen, wenn es draußen raschelte. Und obwohl wir so weit entfernt voneinander lebten und uns nur im Sommer sahen, fühlte es sich an, als würden wir zusammen groß werden. 

Wenn ich heute über diese Zeit nachdenke und mich frage, wann es anfing, dass ich meine amerikanische Familie kritischer sah, kommen mir noch andere Bilder in den Kopf. Szenen, die mich im Nachhinein irritieren. Ich muss acht gewesen sein, mein Bruder fünf, und wir schwammen im Pool. Die Sonne knallte vom Himmel, wir spielten Robbe und Haifisch und tauchten unter, um uns vor den riesigen brummenden Käfern zu verstecken, die über uns hinwegflogen. Als wir später erschöpft aus dem Wasser kamen, schnappten wir uns ein Wassereis aus dem Kühlschrank und setzten uns auf die Terrasse. Wie aus dem Nichts kam ein lauter Schrei: „Oh my god, my eyes.“ Sogar die Schäferhunde meiner Großeltern erschraken. Meine Oma stand in der Terrassentür, eine Hand vor den Augen, mit der anderen stützte sie sich am Türrahmen ab. Plötzlich war auch meine Mutter da und fragte panisch, was passiert sei. Die Antwort meiner Großmutter war kurz und knapp: „The Kids, they are naked.“ 

Viel später, ich war sechzehn, besuchte ich mit meinen Cousinen eine Party. Giftgrüner Rollrasen, große Einfahrt, Flügel im Wohnzimmer – gehobene Mittelschicht. Mädels mit Choker-Halsketten und Typen mit Baggy Jeans rieben zu Musik von Whiz Khalifa ihre Körper aneinander. Die Unbeholfenen, wie ich, saßen um eine Shisha herum und nuckelten am Schlauch. Ob wir in Deutschland alle im Dirndl herumlaufen würden, fragte mich ein Mädchen, ob ich ein Nazi wäre, ein Junge – und überhaupt sei es cool, dass wir zu Hause schon Bier trinken dürften. 

Plötzlich stand die Polizei vor der Tür. Alle schrien, stießen Stühle um, flohen im Dunkeln über die Mauer aufs Nachbargrundstück – auch meine Cousine und ich. Nur dass sie dabei vornüber aufs Gesicht fiel. Ob sie schlimm aussehe, fragte sie mich. Ich schüttelte den Kopf, obwohl ich selbst im Dunkeln das Blut in ihrem Gesicht erkennen konnte. 

Meine Tante kam mir immer so vor, als sei sie der festen Überzeugung, dass ihre Kinder nicht trinken und mit dem Sex bis zur Ehe warten würden

Am nächsten Tag saßen wir pünktlich um acht Uhr in der presbyterianischen Kirche im Nachbarort. Auf einigen Bänken standen Konfetti-Kuchen und Colaflaschen parat – der Leib und das Blut Christi. Meine Cousinen – in hochgeschlossenen Kleidern und Strümpfen und mit einem Hauch von Mascara – sangen „Take my hand, precious lord“, und ich musste an das verständnisvolle Nicken meiner Tante kurz zuvor denken, als ihr meine Cousine vorlog, dass ihre blutverkrustete Lippe von einem Sturz auf der Straße sei. Meine Tante kam mir immer so vor, als sei sie der festen Überzeugung, dass ihre Kinder nicht trinken und mit dem Sex bis zur Ehe warten würden. Doch als meine Mutter meine Cousine ein paar Tage später mit einem Jungen im Pool erwischte und meiner Tante davon erzählte, sagte die nur: „What I don’t see, does not exist.“

Weitere zwei Jahre vergingen bis zu einem Familiendinner im Großformat: An einer langen Tafel saß der ganze Clan – knapp zwanzig Köpfe –, aß, trank und lachte. Es gab Macaroni and Cheese, mit Marshmallows überbackenen Süßkartoffelauflauf und Yak, der von meinem Onkel und meinem Opa in Alaska geschossen worden war. Das Fleisch schmeckte niemandem, aber dennoch gab es Lob für die Jäger und eine Fachsimpelei über Waffen. Mein Onkel wollte sich mal wieder ein paar neue Gewehre zulegen und war sehr stolz auf seine drei Töchter, die alle schon einen Waffenschein hatten. Der jüngsten habe er bereits mit zehn das Schießen beigebracht, prahlte er, die andere hätte erst kürzlich ihren ersten Kojoten getötet. Das Fell hänge jetzt über dem Kamin in der Hütte der Familie in den Rockys. 

Am Kopf des Tisches meinte ich ein Murmeln zu hören. Hatte jemand etwa eine andere Meinung zum Thema? Nicht doch. Meine Oma wollte nur mal sagen, dass sie kein Problem mit schwarzen Menschen habe. Aber ein schwarzer Präsident – das ginge dann doch zu weit. Ihr gegenüber saß eine meiner Cousinen, irgendjemand hatte ihr ein Stück Fleisch auf den Teller gelegt, obwohl sie seit einiger Zeit Veganerin war. 

Waren die wirklich immer so? Und wenn: Warum habe ich nichts gemerkt? Oder war ich womöglich selbst ein bisschen wie sie?

Das alles ist nun über zehn Jahre her und bringt mich mehr denn je zum Nachdenken. In der letzten Zeit habe ich mich von Freundinnen distanziert, weil sie homophobe Witze gemacht haben, manche Freundschaften sogar beendet, weil mir Meinungen zu radikal waren. Ich streite immer wieder mit meinen Eltern, weil sie rigide Ansichten zum Thema Migration vertreten. Mein Onkel aus den USA postet Parolen wie „Crooked Hillary“ und „Build a Wall“-Memes auf Facebook. Und mein Opa regt sich über die vielen obdachlosen „Indians“ auf, die angeblich besoffen auf den Highways herumlägen. Meine komplette amerikanische Familie hat Trump-Sticker an ihren Cowboyhüten.

Waren die wirklich immer so? Und wenn: Warum habe ich nichts gemerkt? Oder war ich womöglich selbst ein bisschen wie sie?

Wenn ich ehrlich bin, mochte ich den US-amerikanischen Lifestyle sehr. Meine Nachmittage dort habe ich oft in der Shoppingmall verbracht, mit einem Slushy in der einen und mehreren Einkaufstüten in der anderen Hand. Die Abende vor der Glotze mit Fast Food auf dem Schoß habe ich geliebt. 

Mit zehn kann man so sein, finde ich heute, aber mit vierzehn oder fünfzehn? Hätte ich nicht vieles kritischer sehen müssen – den uferlosen Konsum, die Wegwerfgesellschaft, die soziale Spaltung, die gleich in der Nachbarschaft meiner Verwandten zu beobachten war. Dort standen verwahrloste Häuser, in denen Menschen aus Mexiko wohnten. Das alles habe ich einfach nicht gesehen. 

In dem riesigen Haus auf dem von Stacheldraht umzäunten Grundstück meiner amerikanischen Familie war die Welt in Ordnung. Mir gefiel das Unbeschwerte, Sorglose, Seichte, die Ahnungslosigkeit, mit der meine Verwandten in den Tag hinein lebten. Vielleicht war ich sogar ein bisschen neidisch. Denn ihre Welt war so simpel, so schön schwarz und weiß. In Deutschland war immer alles kompliziert, problembehaftet. Ich mochte ihre Schamlosigkeit, die mich ansteckte und mir half, meine Steifheit zumindest für einen kurzen Moment zu vergessen. Dafür hörte ich auch weg, wenn mein Opa sexistische Bemerkungen machte oder mein Onkel vor der mexikanischen Nanny einen rassistischen Witz erzählte. 

Heute bin ich mir sicher: Die Sommer meiner Kindheit und Jugend in den USA waren nur eine Illusion von Freiheit. Sechs Wochen, in denen man Regeln und Rücksicht gegen Überfluss und Hemmungslosigkeit tauschte. Erst viel zu spät formulierte ich in meinem Kopf Fragen: Wie könnt ihr an eine Mauer glauben, die Familien auseinanderreißt? Wie könnt ihr Waffen verherrlichen, wenn ein Nachbarskind in der Schule niedergeschossen wird? Wie könnt ihr in dieser ignoranten, verlogenen Realität leben – und das auch noch feiern? Doch diese Fragen stellte ich nie. Aus Angst, etwas kaputt zu machen.

Das letzte Mal war ich vor drei Jahren in den USA. Nach einem Familienessen saßen meine „White Bitch“-Cousine und ich draußen im Garten auf dem großen Klettergerüst, zwischen uns eine spürbare Sprachlosigkeit. Ich suchte nach Worten, nach etwas, das uns einte: Ob sie sich daran erinnere, fragte ich schließlich, wie wir als Kinder die Eier aus dem Hühnerstall vergraben und gehofft hatten, dass daraus Küken schlüpfen würden. Sie lächelte und schaute hinüber zu meinem Opa, der in sein Golfcart stieg, um die hundert Meter zum Haus zu fahren. „Im Herbst wird das hier abgerissen“, sagte meine Cousine und klopfte auf die Rutsche unter sich. Ich nickte, und obwohl der Spielplatz, den ich als Kind so geliebt hatte, noch derselbe war, fühlte es sich für mich an, als wäre er schon verschwunden. 

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