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N° 88 Weiße

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Love is in the Hair

Früher wurden rothaarige Männer als unmännliche Weicheier gemobbt und die Frauen als Hexen verbrannt oder als feurige Amazonen sexualisiert. Heute wird darüber diskutiert, ob Gingers die Schwarzen unter den Weißen sind. Unser rothaariger Autor ist Vorurteilen, Mythen und einer neu zelebrierten Redness nachgegangen

Von Bartholmäus Laffert; Foto: Craig Gibson

Es war das Frühjahr 2009, als ich das Schicksal meiner Haare in die Hände eines ukrainischen Fußballers legte. Andrij Woronin hatte gerade meinen Herzensverein Hertha BSC mit zwei Toren gegen die Bayern an die Tabellenspitze geschossen, als ich meinem besten Freund versprach: „Wenn Hertha Meister wird, dann färb ich mir die Haare blau-weiß.“ Dass es mir dabei weniger um den ersten Meistertitel des Vereins seit 1931 ging als darum, meine roten Haare gesichtswahrend loszuwerden, wollte ich mir damals nicht eingestehen. 

Ich war gerade mal vierzehn, hatte meinen ersten Kuss noch nicht geküsst und dümpelte im Coolness-Ranking in der Schule irgendwo zwischen unterem Mittelfeld und Abstiegskampf. Die Gründe dafür lagen auf der Hand: der Oldschool-Lederschulranzen, den mir meine Eltern aufgezwungen hatten; mein einem christlichen Apostel entliehener Vorname und vor allem: diese gottverdammten roten Haare. Es war kein Funken Stolz in mir, zu jenem einen Prozent der Weltbevölkerung zu gehören, dessen MC1R-Gen die Natur so mutiert hatte, dass unsere Haare rot und unsere Haut blass waren. So blass, dass wir uns im Sommer mit Lichtschutzfaktor 50 eincremen müssen, um keinen Hautkrebs zu riskieren. 

Woher auch Stolz nehmen Anfang der 2000er? In der Musik, in den coolen TV-Serien, in Hollywoodfilmen – nirgendwo war jemand mit rotem Haar zu sehen. In der Schule nannten sie uns „Weasleys“, wie die rotschopfige Familie aus Harry Potter. Und nein, die galten damals nicht als cooler Zauberclan, sondern als ein Haufen verwahrloster Assis. Rote Haare standen für Inzucht – und spätestens seit unserer Skifahrt 2008 sogar für die Abwesenheit einer Seele. Damals hatten wir nachts im Jungszimmer vor dem Fernseher gehangen und die „South Park“-Folge über die Ginger Kids geguckt (Ingwer blüht rotorange), in der sich Cartman über Rothaarige auslässt: „Ekelhaft. Igitt. Diese Krankheit ist meist bekannt als Rotsucht. Und sie tritt auf, weil Rothaarige natürlich keine Seele haben. Kinder mit Rotsucht können nicht geheilt werden.“

Sie nannten mich Pumuckl oder Tampon-Kopf

Heute weiß ich, dass ich nicht der Einzige war, den diese „South Park“-Folge eine schiere Ewigkeit verfolgt hat; nicht der Einzige, den sie Pumuckl oder Karotten-, Streichholz- oder Tampon-Kopf nannten. Und dass ich als Junge sogar noch glimpflich davonkam. Denn als Mädchen hätten sie mir womöglich hinterhergebrüllt: „Wenn’s Dach brennt, ist der Keller feucht.“ 

Gesprochen haben all die Rothaarigen, die ich kenne, über diese Häme nie. Doch damit ist es seit diesem Frühjahr vorbei. Seit einigen Wochen quillt mein Insta-Posteingang über vor Videos von Rothaarigen, die ihr Herz ausschütten. Sie teilen öffentlich ihre Mobbingerfahrungen und wie man ihnen ungefragt durch die Haare wuschelt; manche brechen dabei in Tränen aus. Der Auslöser: Anfang des Jahres hat die Schwarze TikTokerin @scorpiostellyla1meramera 

einen sogenannten Hot Take rausgeballert, in dem sie behauptet, Rothaarige seien in Wahrheit Schwarz. Seitdem brennen dem Internet die Sicherungen durch. Auf Reddit schrieb jemand: „Ginger sind die Schwarzen unter den Weißen.“ Und das Überraschende dabei, so schrieb die Schwarze Kolumnistin Simone Dede Ayivi in der „taz“: Die plötzlich Vereinnahmten würden sich nicht wehren, im Gegenteil, viele würden ihre neu verordnete „Blackness“ offen annehmen. Sie verstünden es als Ehre, in die Black Community aufgenommen zu werden und gemeinsam mit ihr gegen white supremacy zu stehen. Und: „Ginger“, sagen Schwarze TikToker, sei womöglich das Äquivalent zum N-Wort. Woraus Rothaarige folgern: Nur Schwarze hätten fortan das Recht, Rothaarige beim G-Wort zu nennen.

Mir sind allerdings keine Geschichten bekannt von Rothaarigen, die in Massen verschifft wurden, um auf Plantagen zu arbeiten. Keine von Gesellschaften, die Rothaarige massenhaft in Gefängnisse gesperrt haben. Keine, in der Menschen von der Polizei erschossen wurden, weil sie rothaarig waren. Umso mehr drängt sich die Frage auf: Wieso begreifen sich Schwarze und Rothaarige plötzlich als Leidens­genossen in puncto Diskriminierung?

Juden wurden oft mit roten Haaren dargestellt

Die Suche nach einer Antwort führt mich zu Ralf Junkerjürgen, Professor für Literatur an der Uni Regensburg. Kein Wunder, dass ausgerechnet ein erdbeerblonder Wissenschaftler eine europäische Kulturgeschichte der Haarfarben von der Antike bis heute verfasst hat. Demnach stammt die erste über­lieferte Verspottung eines rothaarigen Menschen vom römischen Dichter Martial, der vor rund 2.000 Jahren abfällige Gedichte über einen gewissen Rufus schrieb, was auf Lateinisch „der Rote“ heißt:

„Rufus odoratus nimium, nimiumque comatus,

est qui hesterno caelat odore diem.“

„Rufus, der stinkt – und doch Parfüm erwirbt –,

macht deutlich: Nicht der Duft, der Gestank verwirrt.“

„Die französische Literatur hat diese Form der Schmähdichtung aufgenommen – und damit auch das Bild des Rothaarigen als schräger, unangenehm riechender Außenseiter“, sagt Junkerjürgen. Bis heute halte sich der absurde Mythos, dass Rothaarige anfangen zu stinken, wenn sie nass werden. 

Die Hochphase der Gingerphobie erlebte Europa im Mittelalter. Rot stand damals für Feuer, aber auch für Misstrauen. Laut der Vier-Säfte-Lehre (dem medizinischen, mittlerweile überholten Krankheitskonzept aus der Antike) bestimmten Blut, Wasser, schwarze und rote Galle das Wesen eines Menschen. Und Rothaarige, so glaubte man, hätten besonders viel rote Galle – und damit eine Neigung zu Jähzorn und Verrat. Daher trägt Judas, der Jesus verrät, auf vielen mittelalterlichen Gemälden rote Haare. „Rot und gelb waren in der christlichen Kunst des Mittelalters Warnfarben. Diese Symbolik übertrug man auch auf Juden – sie trugen gelbe Abzeichen und wurden mit roten Haaren dargestellt. Das signalisierte Gefahr, Blutgier und Hinterlist“, sagt die Judaistin Rebekka Voß von der Frankfurter Goethe-Universität.

Während der spanischen Inquisition sollen Rot­haarige hingerichtet worden sein, weil sie im Verdacht standen, Juden zu sein. Es entstand die Legende der Roten Juden, so erzählt Voß, einem furchteinflößenden Stamm rotbärtiger Krieger in roten Kleidern. Sie lebten abgeschieden, meist in den nordöstlichen Ausläufern Asiens, und galten als blutrünstige Armee des Antichristen. 

Die jüdische Überlieferung hat diese Mär längst zur Heldengeschichte umgebogen. Hier symbolisieren die Roten Juden Mut und Stärke. In der jiddischen Geschichte besiegt der kleine Rote Jude den dunklen bösen Zauberer – so wie König David den Riesen Goliath. Noch heute tauchen die Roten Juden in einigen ultraorthodoxen Gemeinden auf, als Symbol für Selbstbehauptung und Widerstand.

Aber nicht nur die jüdische Geschichte hat aus Ausgestoßenen Helden gemacht. Die Popkultur hat in den vergangenen Jahren nachgezogen. Heute gibt es den Musiker Ed Sheeran, der sich stolz als „the fat ginger kid with the tiny guitar“ bezeichet, es gibt den Schauspieler Damian Lewis in der Erfolgsserie „Homeland“, es gibt das britische Model Lily Cole, und es gibt den Italiener Jannik Sinner, der das Männertennis dominiert. Ja, es gibt sogar den „RedHot100“-Kalender des Fotografen Thomas Knights – eine Sammlung erotischer Rothaariger. Und jedes Jahr treffen sich Tausende Ginger für die Rotschopf-Tage in der niederländischen Provinz, um ihre Redness zu feiern. 

Plötzlich ist rot sexy und cool. Daran muss ich mich erst nich gewöhnen

Rot ist also plötzlich sexy und cool, daran muss ich mich noch gewöhnen. Aber es fühlt sich nicht so schlecht an. Wenn wir Ginger uns nun begegnen, dann huscht uns oft ein Lächeln übers Gesicht. 

In einem Bus in Russland massierte mir mal ein Rothaariger den steifen Nacken – obwohl wir kein Wort miteinander wechseln konnten. In Manchester nahm mich eine Gruppe ziemlich rothaariger Iren spontan in ihren Kreis auf, um bei der Fußballweltmeisterschaft gemeinsam gegen England zu brüllen. Heute trage ich meine roten Haare mit Stolz. 

Und natürlich wurde Hertha 2009 nicht Meister. Doch als sich Hertha-Legende Andrij Woronin, an dessen Tore ich das Schicksal meiner Haare geknüpft hatte, eines Tages entschloss, seine Haare nicht mehr blond zu färben und sich einen Bart stehen zu lassen, da konnte man sehen: Auch er hat in Wahrheit einen nicht zu leugnenden Rotstich. 

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