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N° 84, Nerven

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Kolonialismus, my ass

Man kann es nicht anders sagen, aber Afrika wurde durch die Weißen sexuell verdummt. Der Krieg gegen Homosexualität zeigt, wie sehr man die alten Normen Europas übererfüllt

von Boris von Brauchitsch; Fotos: Robin Hammond; Layout: Kollektiv Scrollan; erschienen in DUMMY Nr.69 zum Thema „Vergangenheit“; neu editiert im Juli 2024

Felsmalereien der San bei Guruve in Simbabwe zeigen küssende Männer, in Norduganda konnten bei den Langi feminine Herren Herren heiraten, und bei den Shangaan im Süden des Kontinents gab es männliche Ehefrauen, sogenannte inkotshane. Auch in der Umgangssprache des Senegal, Wolof, findet sich mit góor-jiigéen ein Ausdruck für Mann-Frauen, die als Berater der Damenwelt, Zeremonienmeister bei Hochzeiten, Köche und Tänzer sowie als eine Art gesellschaftlicher Hofnarren agierten. 

Eine lange Reihe von Kulturen – etwa die Azande in Zentralafrika, die Tutsi in Ruanda, die Schona und Ndebele in Zimbabwe, die Nupe in Nigeria – pflegten aus rituellen Gründen gleichgeschlechtliche Sexualität im Rahmen einer energetischen Spiritualität. Und auch in Angola und Namibia wirkten von machtvollen Geistern erfüllte Magier, denen man die Fähigkeit zuschrieb, in die Zukunft sehen zu können, und deren Kraft sich durch Analverkehr auf andere Männer fortpflanzte.

Es muss nicht betont werden, dass diese Praktiken ohne Gendertheorien auskamen und keineswegs als queere Emanzipationsstrategien im modernen Sinne zu verstehen sind. Doch was es alles an erotischen Spielarten in Afrika gegeben hat, bevor der Weiße Mann mit Militär und Moral anrückte, lässt auch ohne diesen Überbau die einen schwärmen, während andere voller Entsetzen ihren Blick gen Himmel richten. Diejenigen, die das Entsetzen zelebrieren, scheinen in der Überzahl. 

Im ehemaligen britischen Protektorat Nigeria, wo Homosexualität seit 1901 verboten ist, werden in den nördlichen islamischen Provinzen Schwule als Kapitalverbrecher gesteinigt oder außergerichtlich gleich vom Mob totgeprügelt. Für südsudanesische Schwule gibt es eine gute Nachricht: Dort kann man mit vierzehn Jahren Haft davonkommen. In seltener Einigkeit schmieden christliche und muslimische Ideologen eine unheilige Allianz, wie sich auch in Äthiopien oder in Uganda zeigt, das ebenfalls seit dem 19. Jahrhundert britische Gesetze adaptierte. Versuche von Evangelikalen, für Homosexuelle auch hier die Todesstrafe einzuführen, wurden nur aufgrund internationaler Sanktionen einstweilen abgewendet – in Uganda zeitigten sie im vergangenen Jahr Erfolg. Ein neues Gesetz sieht die Todesstrafe für sogenannte schwerwiegende Homosexualität und Gefängnisstrafen für die Unterstützung von queeren Menschen vor. 

It´s the Analverkehr, stupid!

Sind das Spätfolgen des Kolonialismus oder vielleicht neue Tendenzen? Seit einigen Jahren, so scheint es, wächst auch in manchen afrikanischen Staaten das Bedürfnis, ein Feindbild aus dem Fundus bürgerlicher Schreckgespenster hervorzuzaubern, das in anderen Weltgegenden seit Jahrhunderten immer wieder bestens funktionierte. 

Wie einst im alten Norden, wo die queere Minderheit – von Heinrich VIII. mit seinem Buggery Act aus dem Jahr 1533 bis zu Hitlers und Stalins Inhaftierungen von Homosexuellen in Vernichtungslagern – verfolgt wurde, muss sie stets als willkommenes Gegenbild zu Volksgesundheit und Anständigkeit herhalten, um damit von eigenen Fehlleitungen, Irrungen und Verbrechen der Machthaber abzulenken. Im Falle Afrikas heißt das:  Wozu sich über Korruption oder Menschenhandel, chinesische Wirtschaftsinvasion oder Ausverkauf des Kontinents aufregen, solange man sich über Analverkehr empören kann! 

Die Akzeptanz von Homosexualität ist gerade deshalb weltweit ein verlässlicher Gradmesser für Rechtsstaatlichkeit, Aufklärung und Demokratie. Somit wundert es wenig, dass Länder wie die Türkei, Russland, Polen, Belarus und selbst Italien in ihrem Umgang mit den Rechten Homosexueller auf bedenklich niedrigem Niveau stagnieren. Es sind also beileibe nicht nur Länder Afrikas – von Staaten wie Saudi-Arabien, Iran, Brunei, Jemen oder den Vereinigten Arabischen Emiraten mal ganz zu schweigen –, aber es sind eben auffällig viele afrikanische Staaten, in denen Homosexualität von Rechts wegen als kriminell gilt. Genauer gesagt ist es die Mehrheit, noch genauer gesagt sind es 31 von 54 afrikanischen Ländern.

In vielen dieser Länder wird Homosexualität als „unafrikanisch“ und „widernatürlich“ gebrandmarkt. Dazu braucht es zwar eine ordentliche Portion Ignoranz, aber die steht auch hier zur Verfügung. Denn man muss nicht nur ignorieren, was in der Natur vorkommt (und folglich natürlich ist), sondern auch die Augen vor all den vorkolonialen polimorphen Attitüden verschließen, die in mehr als fünfzig afrikanischen Gesellschaften zelebriert wurden. Es entbehrt nicht der Ironie, dass gerade das, was viele heute für „afrikanisch“ halten, als Gedankengut der Missionare aus dem Westen (oder besser gesagt aus dem Norden) eingeschleppt wurde. Die Hirnwäsche der Kolonialisten hat noch viel besser funktioniert, als sie es sich in ihren kühnsten Träumen erhofft hatten. Nicht nur wurde das westliche Denken als westliches Denken adaptiert, es sickerte in mancher Hinsicht sogar so weit ein, dass man es für echt afrikanisch hielt. Was sich also in Wahrheit als „unafrikanisch“ manifestiert, sind westlich-religiöse Moral und Homophobie. Als „traditionell afrikanisch“ und „natürlich“ darf dagegen ein deutlich entspannterer Umgang mit diversifizierten Formen des Sexuellen gelten. 

Es gibt nichts, was nicht afrikanisch sein könnte – auch in sexueller Hinsicht

Bliebe noch der Punkt, was man unter „traditionell“ und was unter „afrikanisch“ versteht. Doch schon die Frage ist abwegig. Es gibt einfach nichts „Unafrikanisches“, denn es gibt nichts, was nicht afrikanisch sein könnte. 

Afrika ist ein Kontinent, der schon so ziemlich alles erlebt hat, die größte genetische Diversität der Erde besitzt – die indigenen Hadza aus Tansania etwa haben mehr Übereinstimmungen mit Europäern als mit den San aus dem Süden – und wo eines einfach nicht existiert: die afrikanische Kultur, die afrikanische Zivilisation, die afrikanische Geschichte. Unafrikanisch ist es höchstens, Vielfalt und Toleranz zahlreicher traditioneller afrikanischer Gesellschaften zu leugnen. 

Warum aber ist gerade dieses Leugnen heute so verbreitet unter Afrikanern und Afrikanerinnen? Und kann man wirklich immer alles auf den Kolonialismus schieben? Ja, sagen sowohl Gegner als auch Befürworter der Homosexualität. Darin sind sie sich einig: Der Kolonialismus muss schuld sein. Je nach Position mal an der Existenz von Homosexualität, mal an ihrer Unterdrückung. 

Es scheint aber doch eine ganz eigene Art von Rassismus zu sein, wenn mehr als fünfzig Jahre nach dem offiziellen Ende der Kolonialzeit den Menschen noch immer keine Selbstverantwortung zugetraut und zugesprochen wird.

Vielleicht sollte man den Blick einfach mal über Afrika hinaus richten, denn dem, was dort passiert, liegt womöglich die gleiche Tendenz zugrunde wie in anderen Weltregionen. Es ist ein Phänomen, das mit Kolonialismus nur dann zu tun hat, wenn man auch die Globalisierung als Kolonialismus begreift. Wo moderne Medien gleichermaßen der Aufklärung und Bildung dienen wie der Verdummung und Bevormundung, wachsen auch Verunsicherung, Minderwertigkeits- und Ohnmachtsgefühle und das Bedürfnis nach festgefügten Weltbildern – in Kenia ebenso wie in Mississippi oder Sachsen-Anhalt. 

In den Augen mancher gutmeinenden Antirassisten und Antirassistinnen sind an der fanatischen Homosexuellenverfolgung die westlichen Schwulen schuld, die schamlos Menschenrechte einfordern, sich nicht länger verstecken und mit diesem Vorbild das eingespielte „Don’t ask, don’t tell“ vor allem in fundamental muslimischen und christlichen Nationen erschüttern. Wenn es dort nun zu homophoben Exzessen kommt, ist also aufs Neue „der Westen“ verantwortlich. 

Wenn sich westliche Schwule gar erdreisten, auf den Schwachsinn hinzuweisen, der dem Diktum von der „unnatürlichen“ und „unafrikanischen“ Homosexualität innewohnt, kann es vorkommen, dass sich queere afrikanische Aktivisten und Aktivistinnen vor ihre homophoben Landsleute (und Verwandten) stellen. Insgeheim, so scheint es gelegentlich, wird der aktuelle westliche (nördliche) Lebensstil so fundamental verteufelt, dass man sich lieber weiter von Schwarzen diskriminieren lässt, als sich an weißer Liberalisierung zu orientieren. 

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