„Großer, pack die Sachen, wir ziehen um!“
Irgendwann kommt „das ganz große Geld“, es müssen nur alle „ready, willing und able“ sein. So sprach mein Vater, bevor es für uns auf eine Odyssee durch Europa ging – auf der Flucht vor Interpol
Von Arno Frank; Foto: José Castanedas
Später habe ich mich oft gefragt, ob ich es hätte ahnen müssen. Wenn ich nur wachsamer gewesen wäre. Ob ich dann vielleicht die feinen Risse hätte erkennen müssen in der Oberfläche dessen, was mein Leben war. Aber nein. Es ereignete sich unverhofft. Und es war ein Abenteuer, zumindest am Anfang. Außerdem interessieren sich Jungs von 13 Jahren für andere Dinge als Anzeichen von Irrsinn bei den eigenen Eltern.
Alles begann im Frühling 1984. Wir wohnten in einem Dorf bei Kaiserslautern, mitten im Wald. Von unserem Haus konnte ich am Schloss vorbei durch die Rapsfelder in 15 Minuten zum Freibad laufen. Oft tauchte ich auf den Grund des Sprungbeckens. Ein dicker Junge, der über das Wasser über sich staunt. Wenn es regnete, saß ich in meinem Zimmer und baute Modelle japanischer Schlachtschiffe zusammen. Oder ich tippte meine ganz eigene Fortsetzung von „Krieg der Sterne“ mit einer mechanischen Schreibmaschine.
Auf den Feldern hinter unserem Haus stand der Mais mannshoch. Darin spielte ich Verstecken mit meiner kleinen Schwester, fünf Jahre jünger als ich. Damals war mein Bruder gerade geboren, ein Nachzügler, laufen konnte er noch nicht. Täglich spazierte ich mit unseren beiden Hunden, einem Riesenschnauzer und einem Zwergschnauzer, zu einer Burgruine in der Nachbarschaft. Der Zwerg war seltsamerweise der Boss des Riesen. Einfach, weil er zuerst da und wohl auch wesentlich reizbarer war. Jeden Morgen wartete ich im Nebel auf den Bus, der mich in die Stadt aufs Gymnasium bringen würde. Humanistisch, mit Latein als erster Fremdsprache. Meine Mitschüler waren die Söhne und Töchter von Apothekern, Chirurgen, Notaren, Zahnärzten, Physikern. Ich war ein gewöhnlicher Schüler.
Wir waren eine gewöhnliche Familie.
Na ja, nicht ganz. Meine Mutter war Hausfrau und verdiente sich hin und wieder etwas dazu. Dann machte sie einen Personenbeförderungsschein, sammelte kleinere Kinder auf den umliegenden Gehöften ein und fuhr sie in die Grundschule im Dorf. Manchmal lud sie andere Frauen nach Hause ein, um mit ihnen bunte Plastikbehälter zu begutachten. Tupperware. Sie liebte ein Parfüm namens „Opium“ und räkelte sich wohlig, wenn einer der Hunde ihre Zehen ableckte. Wenn sie allein war, lag sie gern stundenlang auf der Couch und lutschte an ihrem Daumen. Ich dachte, das würden alle Mütter so machen. Es war also kein Problem. Das Problem war mein Vater.
Mein Vater sah aus wie Andreas Baader – nur mit schlechteren Zähnen vom Gitanes-Rauchen
Ich verehrte ihn, wie ein Sohn seinen Vater nur verehren kann. Wenn ich mich zu erinnern versuche, denke ich immer, dass er gut aussah. Ein wenig wie Andreas Baader, nur mit schlechteren Zähnen vom vielen Rauchen. Mit einer „Gitanes Maïs“ im Mundwinkel und einem Brotmesser in der Hand ging er, als ich mir an der Schaukel einmal das Gesicht blutig gestoßen hatte, auf den Spielplatz und schnitt die Schaukel ab. Mein Vater. Er konnte reden. Und er las gern. Zu Hause hatten wir immer „Auto, Motor und Sport“, die „Bild am Sonntag“ und den „Spiegel“. Spät kam das „Yacht“-Magazin dazu. Ich liebte es, wenn er mich ernst genug nahm, mit mir über die Dinge zu diskutieren, die er zuvor irgendwo gelesen hatte. Nato-Doppelbeschluss, Apartheid, Sowjetunion, egal. Er sprach mit Leidenschaft und schloss immer mit der gleichen rhetorischen Formel: So, und jetzt kommst du!
Er arbeitete damals in einem Autohaus als Verkäufer. Jaguar und BMW. Er fuhr gern, oft und schnell, auf der Autobahn immer zu dicht auf und jede Woche einen anderen Wagen. Er konnte mir genau erklären, wie er seine Kunden über den Tisch zog. Oder warum der neue 7er von BMW so viel besser war als die S-Klasse von Mercedes. Später begann er, von Motorbooten zu schwärmen.
Ein paar Jahre zuvor hatte mein Vater noch mit Bausätzen für einen Nachbau des Kübelwagens gehandelt, den Jeep der Wehrmacht. Wenn Kunden kamen, fuhr er mit ihnen im heulenden Kübelwagen die Böschung am Sportplatz hoch. Es kamen nicht viele Kunden. Stattdessen kamen bald Briefe, die meine Eltern finster dreinblicken ließen. Dann kamen die Schulden und immer öfter auch die Polizei. Wir lagen dann still auf dem Boden und hielten sogar den Hunden die Schnauzen zu. Damit die Beamten nicht merkten, dass wir zu Hause waren. Aus einem ähnlichen Grund zogen wir immer wieder um. Wir blieben so lange, wie wir die Miete zahlen konnten. Dann zogen wir weiter ins nächste Kaff, alle zwei Jahre, mindestens. Irgendwann hatte sich das beruhigt. Die Banken wurden halbwegs bedient, die Bahnen wirkten geregelt.
Doch im Frühling 1984 sprach mein Vater immer öfter von einem „großen Geschäft“, das kurz vor dem Abschluss stehe. Immer ging es um Provisionen und Geldgeber, die „ready, willing and able“ sein müssten. Über Monate kündigte er an, morgen würde „das große Geld“ da sein. Und mit dem Geld ein anderes Leben, schlanke Boote in glitzerndem Azur.
Auf diese Weise bildete sich so etwas wie ein Glücksstau. Alles, alles, alles würde gut werden. Aber klar war auch: Es würde aber erst dann gut werden können, wenn das große Geld da war.
Und dann war es plötzlich da, das große Geld. Ich weiß noch, wie meine Eltern in mein Zimmer kamen, aufgeregt kichernd wie Kinder. Ich hatte schon geschlafen, sie weckten mich: Hey, Großer. Wir ziehen um. Gleich morgen! Na?
Oh, ich war „ready, willing and able“! Der Kombi von Mercedes war hellgrün und hatte eine silberne Reling auf dem Dach. Meine Schwester und saßen auf dem Rücksitz, meine Mutter hatte den Säugling auf dem Schoß. Der Zwerg hockte im Fußraum, der Riese hinten zwischen Koffern und Tüten mit allem, was wir mitnahmen. Ich hatte mein „Krieg der Sterne“-Manuskript dabei und ein paar andere Bücher, das weiß ich noch. Lateinische Grammatik. Von keinem meiner Freunde hatte ich mich verabschieden können, auch nicht von Opa und Oma. Es war irre aufregend.
Wir waren verschwunden.
Weil ich einen Trenchcoat trug, nannten mich die Kinder in Südfrankreich „Monsieur Gestapo“
Auf der Autoroute du Soleil wächst Flieder auf dem Mittelstreifen. Ich konnte ihn durch das offene Fenster riechen. Südlich von Lyon werden die Dächer der Häuser flacher, ein mediterranes Ocker gewinnt die Oberhand. Wir quartierten uns erst in Vence ein, danach in einer mondänen Mietwohnung am Hafen von
Golfe-Juan, einem Ort zwischen Cannes und Antibes. Im Erdgeschoss war ein Restaurant, es roch nach Frittenöl und Fisch. Hier zogen wir in schnellem Wechsel von Wohnung zu Wohnung den steilen Hügel hinauf, bis wir schließlich eine Villa mit Blick auf den Golf von Antibes bezogen. Die Straße hieß Chemin de l’Aube, der Weg der Morgenröte.
Ich sprach kein Wort Französisch, lernte es aber schnell. Ich ging auf eine internationale Privatschule mit angeschlossenem Gymnasium, auf die Geschäftsleute aus aller Welt ihre Kinder schickten. Mich nannten sie, weil ich einen Trenchcoat trug, nur „Monsieur Gestapo“. Die bürgerkriegserfahrenen Jungs aus dem Libanon meinten, die deutschen Maschinengewehre von Schmeisser seien die besten. Sie sagten „Ratatatat“ und klopften mir lachend auf die Schulter. Täglich fuhr ich mit meinem Mofa von Piaggio durch die Pinienhaine in die Schule. In meiner Freizeit spielte ich mit dem Luftgewehr, das mein Vater mir geschenkt hatte. Ich schoss auf die Laternen vor unserem Haus. Und auf eine Ratte, die am Rand unseres Pools kauerte. Ich traf das Tier, aber es entkam. Meistens fuhr ich mit dem Mofa herum, bis nach Nizza oder Cannes. Einmal spazierte ich während der Filmfestspiele über die Croisette. An einem offenen Fenster des Hotel Carlton fiel mir ein Mann auf, der mich an den Regisseur Wolfgang Petersen erinnerte. Gerade lief sein Film „Enemy Mine“. Ich winkte dem Mann. Er winkte zurück, und ich machte ein Foto. Das Bild von der gewaltigen Fassade mit dem kleinen winkenden Mann habe ich heute noch. Ich glaube, es war wirklich Wolfgang Petersen.
In den großen Ferien schickte mich mein Vater auf die Île Sainte-Marguerite. Ich sollte einen Segelschein machen, entschied mich aber vor Ort für das Surfen. Ich lernte es in den Wellen zwischen der Insel und Cannes, immer auf der Hut vor den röhrenden Motorbooten.
Es war das Paradies.
Irgendwann ging mein Vater wieder arbeiten. Das heißt, er fuhr jeden Abend nach Nizza, Cannes oder Monaco ins Casino. Roulette, er habe da ein „todsicheres System“, was ich bezweifelte. Es wollte mir einfach nicht einleuchten, wie man berechnen kann, wann die Kugel auf Schwarz und wann auf Rot fiel. Mein Vater gab sich viel Mühe, mir die statistischen Berechnungen zu erklären. Am Ende sagte er: „So, und jetzt kommst du!“
Einmal war ich bei einer englischen Schulkameradin eingeladen, vor deren Villa ein großer Rolls-Royce stand und daneben ein kleiner Kinder-Rolls-Royce mit Elektroantrieb. Als mein Vater mich abholte, meinte er scherzhaft, es gäbe sicher ein „feines Lösegeld“ für das Mädchen. Ein anderes Mal waren wir im Supermarkt, als ich an der Kasse noch Kaugummis haben wollte. Mein Vater war schon weitergegangen zum Ausgang, und ich lief ihm mit der Packung hinterher. Da drehte er sich um und flüsterte: „Steck sie ein!“ Es war Winter und kalt geworden an der Côte d’Azur. Der Mercedes kam in die Reparatur und blieb dort. Die Heizung im Haus ging irgendwann aus.
Es war kein Geld mehr da, weder großes noch kleines.
„Wie ziehen wieder um?“ „Naja, eigentlich wandern wir aus.“
Dann hatte mein Vater seinen Zusammenbruch. Heulend saß er auf dem Sofa und erklärte, was ich schon länger geahnt hatte. Es war kein Geld mehr da. Kein großes Geld, kein kleines Geld, überhaupt kein Geld. Und bei dem „großen Geschäft“, schluchzte mein Vater, habe er Geld unterschlagen. Nicht wenig, aber auch nicht genug für den großen Fuß, auf dem wir lebten. Es müssen rund 300.000 Euro gewesen sein. Und die waren jetzt weg. Außerdem, hatten ihm Bekannte aus Deutschland erzählt, würde uns die Polizei suchen. Zwar hatte ich schon gelernt, mich vor der Polizei zu fürchten, aber jetzt hörte ich zum ersten Mal das Wort „Interpol“. Wir würden wieder umziehen müssen, erklärte mein Vater. Sie wären hinter uns allen her, sagte er, denn wir steckten doch unter einer Decke, nicht wahr? Er wisse auch schon, wohin. Diesmal würde alles klappen, keine Sorge. Er habe da einen Plan. Meine Mutter stand daneben und lutschte am Daumen.
Mein Luftgewehr verschwand, meine Stereoanlage verschwand, mein Moped verschwand. Und wieder standen meine Eltern im Zimmer.
„Morgen früh um vier Uhr. Pack ein, was du mitnehmen willst.“
„Wir ziehen wieder um? Wohin?“
„Naja, eigentlich wandern wir eher aus. Nach Lissabon. Du wirst schon sehen. Dort fangen wir völlig neu an, versprochen.“
Es war noch dunkel, als wir zu einem Portugiesen ins Auto stiegen. Zwei Erwachsene, drei Kinder, zwei Hunde. Es war ein riesiger Kombi mit einem Anhänger voller Zeug, über das eine Plane gespannt war. An der Grenze nach Spanien sollten wir uns schlafend stellen. Danach ging es endlos durchs kastilische Hochland. Der Riesenschnauzer war krank geworden. Er hatte Durchfall und kackte das Auto voll. Mein kleiner Bruder brüllte. Ich hatte wenigstens meinen Walkman dabei und hörte darauf Musik, die ich im Radio mitgeschnitten hatte. An einer Raststätte lüftete ich die Plane ein wenig. Da stand, sauber festgezurrt, mein Mofa. So, und jetzt kommst du!
Unsere erste Station war Guarda, ein trauriges Provinznest im Zentrum von Portugal. Es war diesig und kalt, die Landschaft schroff und grau. Wir schliefen in einem Schuppen, dessen Fenster mit Plastikplanen gegen den Wind abgedichtet waren – auf mit Stroh gefüllten Bettlaken. Wir hatten Hunger. Keinen Appetit, sondern richtigen Hunger. Wenigstens die Hunde wussten sich zu helfen. Sie schafften es, den Mülleimer im Hof umzuwerfen, und rissen die verschissenen Windeln meines kleinen Bruders in Fetzen. Es sah aus, als hätte es geschneit. Natürlich machte dem Portugiesen seine rechtschaffene Familie die Hölle heiß, weil er uns angeschleppt hatte.
Und so nahmen wir den Bus nach Lissabon. Jetzt, sagte mein Vater, als wir am Bahnhof ausstiegen, würde alles gut werden. Er führte uns zu einem Hotel auf einem Hügel und quartierte uns dort ein. Es hieß „Senhora do Monte“, ist ganz entzückend und wird heute noch betrieben. Dem Portier muss er weisgemacht haben, dass wir eine ganz normale Familie auf Urlaub wären. Wir teilten uns ein Zimmer zur Straße. Die Eltern meiner Mutter hatten uns Geld angewiesen, wir holten es auf der Post ab. Escudos: wunderschöne Scheine mit den entschlossenen Gesichtern bärtiger Seefahrer und Karavellen mit geblähten Segeln darauf.
Ich trieb mich viel in der Stadt herum, allein oder mit den Hunden. Auf der Zitadelle gab es Pfauen, es waren die ersten Pfauen meines Lebens. Besonders schön war es dort ganz früh am Morgen. Auf dem Tejo die Ozeandampfer, im Himmel wie eine Perlenschnur die Reihe der ankommenden Flugzeuge. Abends saß ich gern in der Bar auf dem Dach, und der Barkeeper legte immer das gleiche Lied von den Waterboys auf, während es nach Salz roch und der Mond hinter der rostigen Hängebrücke hing: „You saw the whole of the moon“.
„Weißt du, was ein Escortservice ist, mein Großer?“
Mein Vater hatte große Pläne. Auf dem Postamt hatte mein Vater eine junge Portugiesin aufgegabelt. Sie hinkte, trug eine dicke Brille, lächelte ständig und sprach ein wenig Deutsch. Ich hatte Mitleid mit ihr, weil sie meinen Vater bewunderte, wie ihn alle immer bewundert hatten. Mein Vater wiederum brauchte sie für die Annoncen, die er aufzugeben gedachte. Das gehörte zu seinem Plan. Er war so zuversichtlich, dass wir uns sogar wieder Wohnungen anschauten, Häuser sogar.
„Weißt du, was ein Escortservice ist, mein Großer?“
Weder wusste ich es, noch wollte ich es wissen. Musste ich aber. Mein Vater wollte, dass ich dabeiblieb, wenn er den Prostituierten sein Geschäftsmodell erklärte. In den folgenden Tagen war ein Kommen und Gehen. Dicke Frauen, dünne, alte, junge, schwarze, weiße. Ich saß auf dem Sofa und hörte meine Kassette. Noch heute fällt mir, immer wenn ich eine Prostituierte sehe, die Melodie von „Mrs. Robinson“ sein.
Der Damenbesuch war es wohl, der das Fass zum Überlaufen brachte. Der Direktor des Hotels mochte weder länger auf sein Geld warten noch die Verwandlung des Hauses in ein Bordell dulden. Mein Vater hatte Schweiß auf der Stirn, als er von der entsprechenden Unterredung an der Rezeption zurückkehrte und uns erklärte, dass wir morgen abreisen würden. Abreisen, nicht umziehen. Ihm war mit der Polizei gedroht worden. Er leerte seinen Geldbeutel auf dem Tisch aus. Ein paar tausend Escudos nur. Mit etwas Glück würde das Geld für genug Benzin bis Paris reichen. Dort habe er einen Geschäftsfreund. Das väterliche Netz aus Geschäftsfreunden war weitmaschig. Mein Vater hatte ein Auto gemietet, das er zu stehlen beabsichtigte. Weil wir keine auffälligen Taschen mitschleppen konnten, zogen wir so viele Kleidungsstücke wie möglich übereinander. Ich trug vier Hemden und zwei Hosen, darin versteckt mein einziger Besitz. Ein Walkman und eine „cassete de longa duração“. Mit pochenden Herzen schlichen wir am Empfang vorbei, einer nach dem anderen, im Abstand von fünf Minuten. Ich ging zuletzt, an der Leine den furzenden Riesenschnauzer. Der Pförtner sah nicht einmal von seiner Zeitung auf.
Von Lissabon nach Paris sind es 1.800 Kilometer. Ich verbrachte die Fahrt in Agonie und zählte die Regentropfen auf der Scheibe. Mein Vater fuhr sparsam, gab nur schubweise Gas. Ging es bergab, kuppelte er aus und ließ das Auto rollen. Die Hunde kotzten und kackten ins Auto, aber wir hielten nur an, wenn wir selbst aufs Klo mussten. Bevor wir ausstiegen, besprühte uns meine Mutter mit ihrem „Opium“-Parfüm. Dazu der Angstschweiß vor jeder Grenze. Wenn der Tank leer ist, hatte mein Vater verkündet, dann ist Ende der Fahnenstange. Dann sind wir geliefert. Dann sind wir gestrandet, meine Herrschaften. Meine Schwester klatschte fröhlich in die Hände: Strand! Strand!
Eines Nachts, wir waren schon in Frankreich, hörte ich, wie mein Vater auf meine Mutter einredete. Wir könnten es uns ersparen, sagte er ruhig, uns und den Kindern. Gleich am nächsten Brückenpfeiler, was meinst du? Meine Mutter sagte, sie sei es leid, so unendlich leid. Dann weinte sie leise. Ich weinte lautlos. Meine Geschwister schnarchten. Die Hunde kotzten. Wir fuhren unter der nächsten und allen folgenden Brücken hindurch, bis nach Paris, bis nach Montmartre. Mein Vater stieg allein aus, verschwand in einem vietnamesischen Restaurant und kehrte nach 30 Minuten zurück. Alles klar, weiter geht’s.
Nach weiteren 800 Kilometern parkten wir vor einem freundlichen Reihenhaus in einem Vorort von München. Uns begrüßte ein anderer Geschäftsfreund meines Vaters. Er half, das portugiesische Nummernschild abzuschrauben. Ich weiß nicht, was meine Eltern ihm erzählt, versprochen oder gezahlt hatten. Er brachte uns in seinem Hobbykeller unter. Dort verlebten wir weitere Monate in verhältnismäßiger Normalität. Wir lebten dort, ohne dort zu leben. Es war eine Art tiefergelegter Alltag. Mit den Nachbarn oder deren Kindern durften wir nicht sprechen, sie wollten mit uns zwielichtigen Gestalten auch nichts zu tun haben. Die Apathie war vollkommen. Es war, als würde es immer so weitergehen. Als wären wir aus der Welt gefallen und in einer anderen Dimension gelandet.
Zu Weihnachten ein Snickers
Mein Vater telefonierte wieder viel. Erzählte von Geschäften. Es wurde Herbst, es wurde wieder Weihnachten. Meine Eltern schenkten mir ein Snickers. Ohne Geschenkpapier. Aber mit Karamell, Nüssen, Schokolade. Ein Snickers eben. Kurz darauf setzte unser Gastgeber uns endlich vor die Tür, weil sich meine Eltern weigerten, meine Schwester und mich auf die Schule zu schicken. Und weil wir ihm auf die Nerven gingen. Damit schienen meinem Vater endgültig die Geschäftsfreunde ausgegangen zu sein.
Wir stiegen in die S-Bahn und fuhren so weit aufs Land, wie es ging. Dann nahmen wir einen Bus und fuhren bis zur Endstation. Über den Wipfeln der Bäume die Gipfel der Alpen. Wir liefen, bis wir an eine Pension kamen. Mein Vater gab uns als urlaubende Familie aus. Wir bezogen Zimmer mit Kruzifixen an den Wänden, und mein Vater verschwand. Geschäfte. Pläne.
Er kam nicht mehr wieder.
Dafür kam eines Tages ein einsamer Streifenwagen. Wieder legten wir uns in unserem Zimmer flach auf den Boden, wieder hielten wir den Hunden die Schnauzen zu. Reine Routine. Da stand mein kleiner Bruder plötzlich auf und öffnete die Tür. Der Beamte erklärte uns freundlich, dass mein Vater am Flughafen von Zürich verhaftet worden sei, dass er bald nach Deutschland ausgeliefert würde. Und dann nahm der Mann, das weiß ich noch, die Mütze ab und uns in Augenschein. Gespenster. Er legte den Kopf schief und fragte milde, ob er uns irgendwie helfen könne.
Es war vorbei.
Freundliche Leute vom Sozialamt schickten uns mit dem Zug zurück nach Kaiserslautern. Sie brachten uns in einem Sozialwohnsilo unter und versorgten uns mit Klamotten aus der Kleiderspende, deren Mottenkugelgeruch sich nicht herauswaschen ließ. Es hatte wilde Gerüchte über den Grund für unser plötzliches Verschwinden gegeben. Meine Mutter und meine Schwester wurden psychologisch betreut, es wurde ihnen ein Trauma attestiert. Mich schätzten sie als stabil genug ein, dass sie mich wieder auf die Schule schickten.
Nach mehr als zwei Jahren und 4.000 Kilometern besuchte ich wieder meine alte Schule. Nicht meine alte Klasse, ich musste wiederholen. Ich kann nicht behaupten, dass all die Töchter und Söhne all der Zahnärzte, Professoren, Apotheker und Notare der Stadt über mein Erscheinen erfreut gewesen wären. Ich aber war es. Es fühlte sich an, als nähme das Leben langsam wieder Fahrt auf.
Für eine Weile konnte ich aus einem Fenster meines Klassenzimmers hinüber in den Gefängnishof schauen und meinem Vater beim Freigang zuwinken. Wir steckten doch alle unter einer Decke, oder? So, und jetzt kommst du!
Seit dieser Zeit verehre ich Simon and Garfunkel. Ich mag Bayern und bin oft in Paris oder Lissabon. Ich mache mir nichts aus Autos und fahre gerne Motorrad. Pläne mache ich selten, Geschäfte nie. Und ich stürze mich nur noch in Abenteuer, die ich mir selbst ausgesucht habe.
Zum Heft