Großbritannien will keine Kolonialmacht mehr sein (in Afrika)
Vor fast 60 Jahren vertrieb die englische Regierung die Einwohner einer Inselgruppe im Pazifik, um sie den Amerikanern als Militärbasis zu verpachten. Seitdem kämpften die Chagossians um ihre Rückkehr – wie es nun aussieht, mit Erfolg. Großbritannien löst sich von seinem letzten afrikanischen Kolonialbesitz
von Steffi Unsleber; aus: DUMMY „Insel“, Sommer 2015, neu editiert 10/24
Diego Garcia liegt 733 Kilometer südlich der Malediven und 1.863 Kilometer östlich der Seychellen. Zwischen Afrika, Australien und Indien. Genauer geht es leider nicht. Wenn man den Namen bei Google eintippt, kommen Fotos von einem kleinen Stück Land, gebogen wie ein sehr kurviges Hufeisen. Unter so weißen Wolken, in so blauem Meer, derart menschenverlassen, dass man sich eigentlich nicht vorstellen kann, dass es diesen Ort wirklich gibt.
Im August ist Winter, dann sind es durchschnittlich25,6 Grad. Im März ist Sommer bei 28,2 Grad. 105 Kilometer Küstenlinie, an manchen Stellen nur wenige Meter breit. Man muss sich dort verloren fühlen im riesigen Ozean. Aber es gibt auch andere Fotos. Solche, auf denen ein sauberes Quadrat in den Palmenwald geschnitten ist. Darin stehen weiße Quader. Senior Master Sergeant John Rohrer hat dieses Foto geschossen, von der U.S. Air Force. Es zeigt eine GEODSS-Anlage, das steht für: Groundbased Electro Optical Deep Space Surveillance. Damit überwachen die US-Amerikaner Objekte im Weltraum.
Diego Garcia ist seit fast 60 Jahren eine Militärbasis der USA. Von dort aus sind Kampfflugzeuge in den Irak gefl ogen, nach Afghanistan und Pakistan. Die NSA hört von dort den Schiffsverkehr ab. Manche vermuteten, dass es auf der Insel auch ein Foltergefängnis wie in Guantanamo gibt. Nur besser versteckt.
Die Insel wurde einst von den Portugiesen entdeckt, von den Franzosen erobert und nach den Napoleonischen Kriegen an England übergeben. Die ersten Bewohner waren Europäer – Leprakranke und die Gründer einer Kokosnussplantage. Dazu kamen ihre Sklaven aus Mosambik und Madagaskar. Später Arbeiter aus Indien. Seit dem 18. Jahrhundert mischten die Menschen hier Gene und Bräuche, ihre Nachfahren wurden die Chagossianer. Chagos, so heißt das ganze Archipel. Es gibt dort neben Diego Garcia noch kleinere Inselgruppen wie Peros Banhos oder die Salomon Islands.
1966 wurde Diego Garcia von den Briten an die Amerikaner verpachtet, damit die dort eine Militärbasis errichten konnten. Die 1.500 Chagossianer mussten verschwinden. Sie wurden zwangsumgesiedelt – auf Mauritius und die Seychellen. Wahrscheinlich dachten sich die Briten damals: Die paar Insulaner sind so mit dem Überleben beschäftigt, die werden uns schon keinen Ärger machen.
Die Menschen deportiert, die Tiere vergast
Crawley, West Sussex, England. Auf der anderen Seite der Welt. Es regnet, der Himmel ist grau, obwohl es doch jetzt schon Ende Mai ist. Sabrina Jean hat sich mit ihren Freunden bei Starbucks verabredet. Sie ist Vorsitzende der Chagos Refugee Group. Da ist Bernard Nourrice, 60, in Diego Garcia geboren, Ex-Polizist und geschieden, mit durchdringendem Blick, aber gestrandet, allein in England. Er sagt, er will seinen Ruhestand dort verbringen, wo er herkommt. Er hofft, dass er dort sein Glück wiederfindet. Da ist Clifford Volfrin, 53, der auf einen Krückstock gestützt Starbucks betritt. Er starrt auf zwei Lottoscheine in seiner Hand. Wenn man ihn anspricht, wandert sein Blick nach links oben. Er sieht viel älter aus, als er ist. Die Insel, sagt er, war sein Paradies. Jetzt sei er an einem sehr schlechten Ort angelangt.
Nachdem die Briten Diego Garcia an die Amerikaner vermietet hatten, begannen sie, die Inseln zu entvölkern. Die Menschen, die mit dem Schiff nach Mauritius gefahren waren, um dort ins Krankenhaus zu gehen oder Werkzeug einzukaufen, durften nicht mehr zurückkommen. Sie erfuhren nur, dass ihre Insel verkauft worden war. Auch die Familie von Clifford Volfrin. Sie musste in Mauritius bleiben. Für die Inselbewohner war dort nichts vorbereitet, sie landeten größtenteils in den Slums der großen Städte. Die, die ihr Land bis Anfang der 70erJahre nicht verlassen hatten, wurden deportiert, ihre Tiere vergast.
Es dauerte Jahre, bis sich die Chagossianer in der Diaspora so weit zurechtgefunden hatten, dass sie sich organisieren konnten. In den Achtzigern wurden die ersten Chagos Refugee Groups gegründet, auf Mauritius und den Seychellen. 2.000 erstritten sie sich vor Gericht das Rechtauf einen britischen Pass.
Die erste Gruppe von Chagossianern landete 2002 mit einem Flugzeug am Londoner Flughafen Gatwick. Sie hatten keinen Ort, an den sie gehen konnten, und organisierten spontan einen Sitzstreik. Er endete erst, als ihnen der Bezirk West Sussex eine Unterkunft anbot – in dem Ort, der am nächsten am Flughafen lag: Crawley. Heute leben dort etwa 3.000 Chagossianer. Es ist die größte Gemeinde außer halb von Mauritius oder der Seychellen.
Er wollte nie nach England, sagt Clifford Volfrin. Er wollte immer nur auf seine Insel. Da ist auch Martin France, ein junger Mann mit Rastazöpfen und Goldkettchen, der viel lächelt. Er ist mit 17 allein nach Großbritannien gekommen und hat am Anfang mit acht anderen in einer Zwei-Zimmer-Wohnung gewohnt. Er sagt, er wollte ein anderes Leben als in Mauritius, wo sie, die Insulaner, immer diskriminiert wurden. Er wollte Stabilität. Er suche immer noch, sagt er. Er hat extra Stadtplanung studiert, um irgendwann die Dörfer von Chagos wieder aufzubauen, einen Besiedlungsplan zu erstellen. Sein Vater kommt von dort, er kennt die Geschichten. Er glaubt fest daran, dass es ein guter Ort ist.
Die Unternehmensberatung KPMG hatte im Auftrag der Verwaltung des Britischen Territoriums im Indischen Ozean eine Studie erstellt und ist zu dem Schluss gekommen, dass eine Wiederbesiedlung der Chagos-Inseln prinzipiell möglich ist. Aber es gab eine starke Lobby dagegen, auch von Umweltschützern, die eine Zerstörung der Korallenriffe befürchten. Die Great Chagos Bank ist das größte Korallenatoll der Welt und hat eines der gesündesten Riffe im saubersten Wasser. 2010 wurde es deshalb von der britischen Regierung zur Marine Protected Area erklärt, was unter anderem das Fischen verbietet.
Sabrina Jean, die Vorsitzende der Chagos Refugee Group in England, kämpft seit 25 Jahren dafür, dass die Chagossianer zurück auf ihre Inseln dürfen. Eigentlich, sagt sie, wollten sie erreichen, dass die amerikanische Militärstation schließen muss. Inzwischen sind sie so weit, dass sie deren Gegenwart akzeptieren würden, auch wenn es ihnen nicht gefällt. Sie haben mit Leuten in Italien gesprochen, die direkt neben einer solchen Militärbasis leben und die nichts davon mitbekommen. Das hat ihnen Hoffnung gegeben.
Die Chagossianer haben vor Gericht erreicht, dass sie ihre Inseln zumindest von Zeit zu Zeit besuchen dürfen. Sabrina Jean war 2011 dort. Sie wohnte mit 15 anderen Chagossianern im „Chagos Inn“ und saß im Restaurant stumm neben US-Militärs. Diego Garcia, erzählt sie, ist ein kleines Amerika geworden. Es gibt dort sogar Nachtclubs – die einen für Amerikaner und Briten, die anderen für die philippinischen und mauritischen Arbeiter. Peros Banhos, wo ihr Vater herkommt, ist dagegen ein verlassener Ort. Von den Hütten sind nur noch die Fundamente übrig, alles ist von Pflanzen überwuchert. Auf Salomon sieht es etwas besser aus. Dort legen öfter Yachten an. Reiche Touristen können sich von der Verwaltung der Britischen Überseegebiete Visa ausstellen lassen und dürfen dann für 50 Pfund in der Woche in Chagos ankern und das
traumhaft reine Wasser genießen. Sie habe sie gesehen, sagt Sabrina Jean, die Yachten der Australier. Die Chagossianer haben am Strand ihre Whiskyflaschen gefunden, Reste eines Grills und ein Volleyballnetz. Sie wollte immer in Chagos leben, sagt sie. Sie hat sich bei ihrem Besuch zu Hause gefühlt, auch wenn sie noch nie vorher dort war. Und ihre Kinder? Angel, die zwölf jährige Tochter, die beiden Söhne, 16 und 19? Sie sollen es sich ansehen und selbst entscheiden, sagt Sabrina Jean. Was weißt du über Chagos, Angel? Nichts, sagt sie und schaut wieder auf ihr Smartphone. Sie trägt einen pinkfarbenen Bademantel, Leggins mit roten Kussmündern, pinkfarbenen Nagellack, der abblättert. Wie stellt sie sich die Insel vor? Sie schaut wieder auf. Bunt. Es riecht nach Kokosnuss und Meer. Hat sie Sehnsucht danach, so wie ihre Mutter? Not at all, sagt sie. Überhaupt nicht.
„Laba“ fasst die Sehnsucht mancher Chagossianer in ein Wort, es heißt „dort draußen“. Sie meinen damit ihre Inseln. „Sagreen“ ist ein anderes wichtiges Wort. Es bedeutet „Traurigkeit“. Und ist gleichzeitig eine Erklärung für die vielen Krankheiten geworden, die die Chagossianer im Exil bekommen haben. Auch Clifford Volfrin, der Mann mit dem Krückstock, sagt, er leide an Sagreen. Er hat Herzprobleme, Diabetes, Epilepsie. Er sagt, er würde gesund werden, wenn sie ihn zurück nach Chagos bringen würden. Das frische Essen, sagt Sabrina Jean. Die Früchte, sagt Clifford Volfrin. Der Fisch, sagt Sabrina Jean. Die frische Luft, sagt Clifford Volfrin. Kein Stress, sagt Sabrina Jean.
Ob das alles so wirklich so ist? Sie könnten es nun überprüfen, wo England die Chagos-Inseln an Mauretanien abgibt. Bis auf die eine Insel: Diego Garcia. Der Pachtvertrag mit den US-Amerikanern läuft dort noch 99 Jahre.
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