Wo sind jetzt deine Freibadskills?
Unser Autor musste 35 werden, um erstmals den Mut aufzubringen, vom Drei-Meter-Brett zu springen
Von Steffen Greiner; Fotos: Jo Glinka – aus: DUMMY Nr.68 „unten & oben“, 2020, editiert 7/24
Das Ding, von dem ich gleich da reinspringen soll, sieht aus wie ein Schafott. In einem See. Dabei wirkt der Schermützelsee eigentlich ganz friedlich: blau und umwogt vom grünen Hochsommerwald der Märkischen Schweiz. Aber ich bin noch nie ins Wasser gesprungen. Zumindest nicht von etwas, das höher war als ein Startblock. Heute also Premiere. Der Fünfer ist gesperrt, sagt der Betreiber des Strandbads. Aber der Dreier: immer offen.
Ich habe mich informiert: Für die Rettungsschwimmerausbildung empfiehlt die DLRG verschiedene Sprungarten. Die einfachste ist der Paketsprung, landläufig als Arschbombe bekannt. Dann die Kerze, gerade ins Wasser, die Füße voraus, der Fußsprung. Steffen, du musst einfach mit beiden Füßen voran springen, Beine zusammen, Arme an die Seite, Augen zu, erklärt meine Freundin Ariana. Aber dreht sich dann nicht, wenn ich mich nur ein bisschen verreiße, der Körper rückwärts, sodass ich gegen das Sprungbrett schlage und bewusstlos mit dem Kopf zuerst auf die Wasseroberfläche aufpralle?
Früher versagte meine Vorstellung schon vor dem Sprung. Da oben zu stehen, das malte ich mir in zu grellen Farben aus: Wind, Kälte, Einsamkeit. Ich blieb lieber unten. Der Beckenrand: schon zu hoch. Obwohl ich eigentlich gar keine Höhenangst hatte. Meine Angst war nicht der Sprung, sondern unterwegs die Orientierung zu verlieren, unter Wasser nicht zu wissen, wo oben, wo unten ist. Die Angst, von einer Arschbombe getroffen und herabgedrückt zu werden in das wässrige Reich des Todes.
Ich schwamm also im Wasser und erfand Ausreden, warum ich nicht mit hochkommen konnte auf den Sprungturm. Ich ertrug die Sprüche der anderen Jungs. Ich ertrug die Arschbomben-Dicken, die im Schwimmbad gar nicht dick wirkten, sondern witzig und agil, und die Jungs, von denen die Mädchen schwärmten, wie sie selbstverständlich ihre Köpper vom Dreier vorführten.
„Jetzt endlich weißt du, was es heißt, jung zu sein, betrogen vom Augenschein an den Abgrund geh’n, halbnackt allein auf schwankenden Brettern steh’n, und runterseh’n, und runterseh’n“, heißt es bei Element of Crime: „Und aus endloser Menge erklingen die Rufe der Väter: Jetzt musst du springen“. Popkulturmoment Sprungbrett, das Vietnam der kleinen Männer. Aber wenn ich so an meine Provinzjugend zurückdenke, muss ich feststellen: So richtig interessiert hat es eigentlich niemanden. Mein Vater, in seiner Jugend DLRG-Rettungsschwimmer, bedrängte mich nicht, meine Klassenkameraden zuckten nur mit den Schultern, wenn ich trocken wieder runterkletterte. Heute ärgere ich mich fast. Hat denn wirklich niemand etwas von mir erwartet?
Was hat es mit mir gemacht, nicht zu springen? Ein ewiger Zuschauer von Zurschaustellungen zu sein. Die Schwelle nicht zu übertreten. Und dabei zu ahnen: An irgendeinem Tag wird es passieren. Mein letztes erstes Mal, vielleicht vor Kindern und Eigentumswohnung, Tod der Eltern und erstem Krebs. Manchmal habe es mir als perfektes Date vorgestellt: Blicke im Club und dann schön rüber ins Freibad, an einem Sonntagmorgen.
Jetzt habe ich kein Date am Sprungturm, sondern nur Jo. Jo macht die Fotos. Ich mag Jo, aber dass Jo der Einzige ist, der mich begleitet, der unten auf mich wartet, ist schon ein bisschen ernüchternd. Hätte ich das doch mal mit dreizehn gemacht, denke ich mir. Dann hätte ich Applaus gekriegt und vielleicht einen schüchternen Kuss von Hanna, später, auf einer Party, auf die ich vielleicht eingeladen worden wäre. Jo kann nicht mal klatschen, er muss ja knipsen.
Und dann stehe ich da. Und natürlich sind auch die anderen da. Die kleinen Jungs, zwei Brüder, die bestimmt schon fünfzigmal gesprungen sind an diesem Morgen. Mit Köpper, Salto und auch mal vom Geländer abspringen, um noch mal siebzig Zentimeter draufzupacken. Ich reihe mich ein, lächle gequält. Die beiden nehmen sofort Witterung auf: Was, zum allerersten Mal? Noch nie? Nein, echt, noch nie.
Für einen so großen Moment geht dann alles banal schnell. Die Treppe rauf aufs Schafott ist gar nicht so steil, das Holz oben angenehm warm. Ich spüre, wie der schöne Anblick der im Morgenlicht glitzernden Wasseroberfläche die Stresshormone zurückpfeift. Nur das flaue Gefühl im Magen will sich nicht so ganz vertreiben lassen. Einer muss ja noch daran erinnern, dass jetzt etwas zu tun ist, wovor ich mich jahrzehntelang gedrückt habe. Aber die Hinrichtungsstätte hat sich jetzt schon in ein einfaches Sprungbrett verwandelt. Wohl auch, weil ich verstanden habe, dass Springen jetzt wirklich das Einzige ist, was ich tun kann. Und dann tue ich es.
Ich bin ein ängstlich Wartender. Der erste Kuss mit 20, der erste Sex mit 22, die erste Line mit 31. Ich mochte meine ersten Male immer gern, aber sie waren nie das, was man mir versprochen hatte. Ich glaube, es gibt diese Schwellen, aber ich glaube, sie sind es nur für kurze Momente in der Biografie eines Menschen. Man soll ihre identitätsstiftende Bedeutung nicht überschätzen. Nicht von einem Sprungbrett gesprungen zu sein war für mich wesentlich prägender, als es vermutlich gewesen wäre, der Erste in der Klasse zu sein, der sich den Kopfsprung vom Dreier traut. Ich habe keine rites de passage mitgefeiert, mich nie gewagt. Ich bin nicht gesprungen, wurde nicht auf die Party eingeladen, und eine Hanna gab es auch nicht. Der erste Sprung ins Wasser ist die Passage vom Kind zum Pubertierenden. Eine weitere Etappe, ein systemkonformes Sich-Beweisen, das ich verweigerte, das mir fehlt. Ich verstehe mich im Nachhinein selbst nicht, und vielleicht gehört das zu den Dingen, die ich über mich lernen muss: dass verpasste erste Male sich nicht einfach aufschieben lassen, dass die Lücken durch das Aufschieben schon geschlossen werden.
Mein Sprung jedenfalls war kein Ritual und keine Schwelle mehr, sondern kaum mehr als ein Fotoshooting. Da stand jemand im Spagat über mir und sagte: „Okay. Jetzt!“ Und ich habe lange genug „Germany’s Next Topmodel“ geschaut, um zu wissen, dass man tun muss, was der Kunde will. Ich liefere. Ganz gut sogar, wie ich finde. Ein bisschen schief eingetaucht vielleicht, und die Arme hätten schneller zum Körper finden können. Dass es so kurz nur dauert, damit war ja nicht zu rechnen, so hoch, wie das aussieht.
Danach Mail an Papa, erster Sprung, Antwort: „Du bist ganz schön mutig gewesen im Gegensatz zu früher. Respekt! Da bist du nicht mal vom Einer. Warum sollte man dich auch zwingen, wenn’s Springen nicht nötig war?“ Danke, Frage berechtigt. Wie der Aufprall war, fragt Ariana später. „Absurderweise richtig gut, wirklich. Das Wasser war so schön blau, da oben.“
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