Wir Kinder vom Bahnhof Haribo
Kein Hasch, kein Heroin, nicht mal Kokain: Unser Autor ist abhängig von Goldbären. Eine Abrechnung mit dem Dealer
Von Robert Hofmann
Manchmal wird das, was einst die Quelle des Glücks war, irgendwann toxisch und zum Ursprung von Traurigkeit, Verfall und einer ungesunden Abhängigkeit. Hier soll es um Haribo gehen, die Süßigkeiten, die mich begleiten, seit ich denken kann. Und was klingt wie eine Floskel mit mittlerem Wahrheitsgehalt, stimmt leider. Haribo war immer da. Was auch noch stimmt: dass es mir wahrscheinlich nicht guttut, diesen Text zu schreiben. Aber das wird sich zeigen.
Ich wuchs im beschaulich westdeutschen Bonn auf. Die Menschen tranken Kölsch, die Bundespolitik zog gerade nach Berlin, und in der Schule hatten wir plötzlich viele neue Klassenkameraden, die kein Deutsch sprachen, unglücklich wirkten und aus einem fernen Land namens Kosovo kamen. Ebenfalls in Bonn aufgewachsen war Johann „Hans“ Riegel, ein Süßwarenhersteller, der seiner Firma 1920 seinen Namen gab: das Akronym aus den Anfangsbuchstaben seines Namens und des Orts, in dem er lebte. Hans Riegel Bonn. HARIBO.
Dass eine der Hauptzutaten der Weingummi-Produkte äußerst günstig zu beschaffen war, dürfte zum Erfolg des Unternehmens beigetragen haben. Die Gelatine wurde aus Schlachtabfällen hergestellt und sorgte wohl auch für die köstliche Konsistenz: bissig, aber nicht zu fest. Weich, aber nicht matschig.
Bald wollten alle die Goldbären haben. Der Sohn von Riegel, ebenfalls ein Hans, expandierte und machte Haribo zu einer Marke, die man noch heute auf der ganzen Welt kennt. Damit prägte er die Stadt Bonn in vielerlei Hinsicht, mehr, als es Goldbären-Geschmacksrichtungen gibt (sechs). Bis heute identifiziere ich mich stärker mit Haribo als mit Bonn.
Wenn ich als Neun- oder Zehnjähriger bei meinen Großeltern übernachtete, weil meine Mutter als junge alleinerziehende Frau einmal eine Nacht feiern gehen wollte, waren dort immer Süßigkeiten im Wohnzimmerschrank. Der war aus dunklem Holz und in die Wand eingelassen. Auf der rechten Seite war das Süßigkeitenfach, in fast zwei Meter Höhe, für mich also quasi unerreichbar. Als Kinder mussten mein Bruder und ich einen Sessel vor den Schrank schieben, um an Schokolade, Kekse, After-Eight- und Mon-Chérie-Packungen zu kommen. Und natürlich an die begehrten Haribo-Tüten. Nie sah ich meine Großeltern selbst Süßigkeiten essen. Tagsüber gab es bei ihnen drei Hauptmahlzeiten, und abends schälte sich mein Opa mit dem Taschenmesser noch einen Apfel, während meine Oma sich auf dem Sofa mit Wein betrank.
Dieser nie endende Vorrat an Haribo bedeutete für mich, dass unsere Großeltern uns gern bei sich hatten und wollten, dass es uns gut ging. Die Süßigkeiten waren ein Zeichen ihrer Liebe.
Die Haribo-Vorräte, das verstanden mein Bruder und ich schnell, waren nur für uns da. Gleichzeitig waren sie außerhalb unserer Reichweite deponiert, um nicht den Eindruck zu erwecken, dass unsere Großeltern es guthießen, dass wir uns mit Zuckerprodukten vollstopften. Dieser nie endende Vorrat bedeutete für mich, dass unsere Großeltern uns gern bei sich hatten und wollten, dass es uns gut ging. Die Süßigkeiten waren ein Zeichen ihrer Liebe.
In Bonn war Haribo damals überall. Oder zumindest in Kessenich, der Stadtteil, in dem die Fabrik stand. Ein riesiger Gebäudekomplex aus rotem Backstein, der an manchen Tagen den gesamten Bezirk mit dem Geruch von Goldbären, Lakritzschnecken oder Tropi-Frutti umhüllte. Haribo war auf so ziemlich jedem Schulhof, die Kinder sprachen davon mit diesem Leuchten in den Augen, das für die Gier nach Zucker stand.
Es ging das Gerücht um, dass der Haribo-Chef Pferde besaß. Die äßen so gern Kastanien wie wir Haribo, weswegen Hans Riegel Kastanien gegen Haribo tausche, im Verhältnis zehn zu eins. Seitdem waren in jedem Herbst meine Jackentaschen voller Kastanien, und ich verlor sie überall. Am Ende lagen sie sogar haufenweise auf der Rückbank des kleinen roten Peugeots meiner Mutter und sogar in unserer Waschmaschine. Zehn zu eins war für mich eine Menge. Leider sah meine Mutter es nicht ein, mich zum Haribo-Chef zu fahren, wo ich den Handel hätte abschließen können, und allein traute ich mich damals noch nicht in die Straßenbahn, weswegen mir im Laufe der Jahre Hunderte Kilogramm Haribo entgangen sein dürften. Viel später erfuhr ich, dass es nie um Pferde ging. Hans Riegel spendete die Kastanien unter anderem an Wildgehege, weil er so gern auf Jagd ging.
Zu Hause waren Süßigkeiten streng rationiert. Nur ganz selten gab es auch bei meiner Mutter Haribo, etwa wenn sie Gäste bekam. Einmal hatte sie eine Freundin zu Besuch, mit der sie abends etwas trinken ging. Am nächsten Morgen lag in der Küche eine Tüte Weingummi herum. Mein Bruder und ich konnten unser Glück kaum fassen. Wir nahmen sie klammheimlich und setzten uns damit direkt vor den Fernseher, den wir fast stumm schalteten, um niemanden zu wecken, während wir die verbotenen Früchte runterschlangen. Aber genau dafür waren sie gedacht: Meine Mutter konnte ihren Rausch ausschlafen. Haribo hatte Kinder froh gemacht und dadurch Erwachsene ebenso.
Ich erinnere mich noch genau an den Moment, als ich mein Verhältnis zu Haribo erstmals infrage stellte. Nicht grundlegend, das dauerte viel länger, aber unsere Beziehung bekam einen Riss. Ausgelöst durch einen Nebensatz meines Vaters. Als wir wieder einmal ein Wochenende bei ihm verbrachten und Weingummi aßen (er war da nicht so rigoros wie unsere Mutter), raunte er, mehr zu sich selbst als zu uns: „Ihr esst da doch nur süßes Knochenmark.“ Wie bitte? Was hat Haribo denn mit Knochenmark zu tun, schoss mir durch den Kopf. Knochenmark ist eklig, Haribo ist geil. Später traute ich mich, meinen Vater zu fragen, der mir erklärte, dass die Gelatine, aus der meine Leibspeise bestand, aus Tierknochen herausgelöst wurde.
Das Wort „Fatshaming“ war noch nicht erfunden, als meine Mutter mir im Urlaub riet, mal weniger Pizza zu essen, damit mein Bauch nicht über die Badehose ragt. Auf einmal sah ich vieles anders.
In den nächsten Tagen versuchte ich einerseits, das widerliche Wissen wegzuschieben, und andererseits, damit anzugeben. Auf dem Schulhof präsentierte ich die eklige Neuigkeit mit unglaublichem Stolz. Ich erzählte meinen Freunden mit gesenkter Stimme und ernstem Blick davon. Ich besaß Erwachsenenwissen, und ich teilte es mit allen, denen ich Erleuchtung wünschte. Mein Essverhalten veränderte sich dadurch nicht. Mein Taschengeld investierte ich nach wie vor in Goldbären, die ich nach der Schule im Zeitungsladen kaufte, der auf meinem Nachhauseweg lag.
Einige Jahre später – ich war mittlerweile fast in der Pubertät – erschien Haribo plötzlich in den Medien. Ich verfolgte es nur am Rande und verstand nicht, worum es wirklich ging, aber erneut spürte ich, dass hinter der glücklichen Fassade etwas Dunkleres schlummerte. Im Jahr 2000 kam die Frage auf, ob Haribo während der NS-Zeit Zwangsarbeiter beschäftigte, weswegen das Unternehmen in einen Entschädigungsfonds einzahlen sollte. Das Thema kam direkt aus dem Bundestag, doch die Geschäftsleitung von Haribo ließ verlauten, dass man zwar das damalige Leiden der Menschen nicht in Zweifel ziehe, aber überzeugt sei, dass man dieses heute nicht wiedergutmachen könne. Außerdem habe Haribo „nachweislich keine Zwangsarbeiter“ beschäftigt. Letztlich zahlte das Unternehmen nicht in den Fonds ein.
Mir war das ziemlich egal, damals war mein Interesse an der deutschen Geschichte noch nicht sonderlich ausgeprägt. Deswegen hinterfragte ich auch nicht groß, warum der Freund meiner Mutter so offen über „die Türken“ lästerte. Was mir plötzlich eher zu schaffen machte, war mein Körper. Das Wort „Fatshaming“ war noch nicht erfunden, als meine Mutter mir im Urlaub riet, mal weniger Pizza zu essen, damit mein Bauch nicht über die Badehose ragt. Auf einmal sah ich vieles anders. Hatte meine Großmutter mir noch beigebracht, den Teller leer zu essen, galt nun Verzicht als Tugend. Ich wollte keinen dicken Bauch, doch der wuchs und wuchs und hat, bis auf kurze Unterbrechungen, eigentlich bis heute nie wirklich damit aufgehört. Dummerweise konnte ich dennoch nicht von Haribo lassen, allerdings aß ich nun mit schlechtem Gewissen.
Selbst als ich schon lange nicht mehr in Bonn lebte, blieb Haribo ein Teil meines Lebens. Wenn ich am Sonntag nach einer durchfeierten Nacht in meiner Berliner Studi-WG aufwachte, ging ich oft zuerst zum Fried-Chicken-Laden um die Ecke und kaufte auf dem Rückweg noch zwei oder drei Tüten Haribo beim Späti. Ich liebte es, die Katerstimmung mit Zucker zu betäuben. Weil ich es als Kind so gelernt hatte, blieb das Weingummi für mich ein Seelentröster – nach Trennungen, Streits mit Freunden oder einfach an melancholischen Tagen. Immer war Haribo für mich da.
Goldbären, Schlümpfe, Balla-Balla, Schnuller und Schnüre, das weiß ich mittlerweile, sind keine Liebe, kein Glück oder Familienersatz.
2012, da lebte ich bereits seit drei Jahren in Berlin, musste der Konzern ein Bußgeld zahlen, weil er illegale Absprachen mit Konkurrenten über Rabatte für den Einzelhandel getroffen hatte. Sechs Jahre später hörte ich dann, dass Haribo seinen Geschäftssitz von Bonn in ein Kaff in Rheinland-Pfalz verlegen würde – zwar nur rund 30 Kilometer entfernt, aber dennoch empfand ich das als Frevel. Gelatine aus Schlachtabfällen, womöglich eine unaufgearbeitete NS-Vergangenheit, Preisabsprachen, Verrat an Bonn – es hätte für mich also genug Gründe für einen richtigen Goldbären-Boykott geben können. Zumal auch mein Körper immer allergischer auf die Zuckerattacken reagierte.
Zwar hatte ich mit Ende zwanzig verstanden, dass ein bisschen Krafttraining reichte, um einen jungen Körper nicht völlig auseinandergehen zu lassen. Aber mein Stoffwechsel alterte mit mir, und eines Tages schenkte mir eine Tüte Haribo kein Glücksgefühl mehr, sondern Herzrasen und Schweißausbrüche. Eine Stunde später wurde ich regelmäßig todmüde, bekam Kopfschmerzen und fühlte mich tieftraurig. Manchmal begannen meine Füße und Hände ein paar Stunden nach dem Haribo-Konsum plötzlich zu kribbeln, mir wurde schwindelig, und ich musste mich setzen, um nicht umzukippen.
Bis heute kann ich nicht nur einen Goldbären essen. Wenn ich einmal anfange, esse ich eine ganze Tüte und dann noch eine. Und ich weiß, dass ich auch während der nächsten zwei Tage immer wieder aus dem Nichts heraus unbändige Lust auf Haribo bekommen werde. Am dritten Tag ist der Spuk dann vorbei, und die Attacken bleiben aus. Zumindest bis ich das nächste Mal im Supermarkt am Süßigkeitenregal vorbeigehe.
Goldbären, Schlümpfe, Balla-Balla, Schnuller und Schnüre, das weiß ich mittlerweile, sind keine Liebe, kein Glück oder Familienersatz. Sie machen nicht froh, sie überzuckern Welt und Körper nur. Das Produkt, das Haribo mit so bunter und rührseliger Werbung verkauft, ist Gift für mich. Eine Droge, die meinen Körper in Beschlag genommen hat, weil ich ihr so freizügig Zutritt gewährt habe.
Ich würde sehr gern behaupten, dass ich eine Abneigung gegen Haribo entwickelt habe. Tatsächlich aber läuft mir sogar der Speichel im Mund zusammen, während ich diese Zeilen schreibe. Zum Glück aber habe ich keinen Süßigkeitenschrank in meiner Wohnung.
Zum Heft