Was blinkt denn da?
Der Fernseher, die Klimaanlage und die Feuermelder. Nachts im Hotelzimmern leuchten immer mehr Lichter – aber nicht nur deshalb kommt unser Autor nicht in den Schlaf. Aufschrei eines Angeknipsten
Von Oliver Geyer; Bild: Alessa Ahrens
Manchmal überkommt ihn in diesen Nächten, in denen er sich wie unter elektrischer Spannung fühlt und an Schlaf nicht zu denken ist, die blanke Wut. Er schnappt sich das Smartphone vom Nachttisch und beginnt fieberhaft zu googeln. Irgendwo muss es doch eine Beschreibung dieser Symptomatik geben oder ein Forum von anderen Betroffenen. Doch immer stößt er nur auf einen Begriff, der es höchstens so halb trifft: „First Night Effect“. Demnach gibt es Menschen, die in Hotelbetten und generell in fremden Umgebungen grundsätzlich ein Problem haben, Schlaf zu finden. Eine Frage der Gewöhnung, heißt es, nach ein paar Nächten lege sich das. Doch bei ihm legt sich gar nichts. Selbst wenn er für mehrere Tage bleiben muss, liegt er Hotelnacht für Hotelnacht da, die Augen wie von einem Puppenmechanismus aufgeklappt, blickt im Zimmer umher und kann es nicht fassen: Warum können die anderen einfach so überall schlafen und er nicht? Und wie kann man als Hotelkette bloß auf die Idee kommen, die Zimmer so zu gestalten, dass sie sich nach dem Löschen des Deckenlichtes in eine Disco verwandeln? Fernseher, Klimaanlage, Feuermelder, Radiowecker, alles blinkt. Er selbst fühlt sich wie angeknipst.
Haben die vielen Menschen, die vor ihm in diesem Raum lagen, mit ihrem ganzen Stress und Lebensdrama eine Art atmosphärischer Ladung hinterlassen?
In seinem Bekanntenkreis wird neuerdings viel über chronische Insomnie geklagt. Das Problem hat er nicht, zu Hause schläft er meist gut. Betritt er aber ein Hotelzimmer, ist da gleich diese überspannte Atmosphäre, die fast physischen Charakter hat. Die nächtliche Lightshow ist nur das eine, das kleinere Problem. Über die regt er sich auf, während er aus rätselhaften anderen Gründen nicht schlafen kann. Es ist, als läge hier etwas in der Luft. Eine feine Vibration. Haben die vielen Menschen, die vor ihm in diesem Raum lagen, mit ihrem ganzen Stress und Lebensdrama eine Art atmosphärischer Ladung hinterlassen? Oder ist er jetzt völlig durchgeschallert? Letzteres denken sich wohl auch seine eher rationalistisch orientierten Freunde, wenn er sich hinreißen lässt, solche Vermutungen und Empfindungen offen auszusprechen. Für verrückt muss ihn auch der Mitarbeiter einer großen Hotelkette gehalten haben, als er eines Nachts gegen drei Uhr nur noch ein Nervenbündel war und einen Notruf an die Rezeption abgesetzt hat. Vorangegangen war dem ein verzweifelter Versuch, mit Zahnpasta die Leuchtdioden der Klimaanlage und des Feuermelders zu überdecken. Vergeblich. Der Nachtportier hatte Mitleid, rückte mit einem Stück Pappe und Tesafilm an und klebte die Dioden, Screens und Devices sorgfältig ab. Was für ein Engel. Schlaf hat es trotzdem nicht gebracht. Aber immerhin ein paar Stunden, in denen die zwanghaft geöffneten Augen beim Blick ins Dunkel etwas Ruhe fanden.
First Night im Hotel, wenn es das allein wäre. Es ist das, was ihn wirklich kirre macht: dieses Gefühl, allein zu sein mit einem Leiden, das in dieser Form nirgendwo beschrieben wird. Denn dieses Phänomen, wie unter elektrischer Spannung und deshalb schlaflos zu sein, begleitet ihn keineswegs nur in Hotels, sondern auch in vertrauten Schlafräumen. Als da zum Beispiel wären: das Gästezimmer im Haus seiner Mutter. Oder diese bestimmten zwei Zimmer im Ferienhaus von Freunden. Ausgerechnet in den beiden besonders begehrten Räumen mit Seeblick kriegt er kein Auge zu. Nur sechs Meter weiter auf der anderen Seite des Ferienhauses schlummerte er gleich in der ersten Nacht wie ein Baby.
Ihm ist klar, dass die meisten darüber lachen und ihn für irre erklären werden
Wahrscheinlich wäre es besser, auf die Frage „Gut geschlafen?“ öfter mal mit einer höflichen Lüge zu antworten. So würde er sich die nervigen Klärungsversuche der besorgten Mitmenschen ersparen, die man bei massivem Schlafdefizit am Morgen danach erst recht nicht gebrauchen kann. Ist dir die Matratze zu hart? Ist sie zu weich? Bestimmt liegt in dem Zimmer irgendein Geruch in der Luft, auf den du empfindlich reagierst. Wie ist es in Räumen, in denen nur natürliche Materialien verwendet wurden? Oder ist es das WLAN?
Es ist sinnlos. Zu Hause steht der Router im selben Raum, und dort schläft er tief und fest, auch wenn wieder einmal vergessen wurde, das Gerät auszuschalten. Auch im Zelt mit Schlafsack auf der Isomatte, also umgeben von nichts als Kunststoff, schläft er wie ein Murmeltier. Im Gästezimmer seiner Mutter hingegen blieben jahrelange Investitionen in neue Matratzen und zusätzliche Topper ohne jeden Effekt. Hotels sind fast immer ein Problem. Ansonsten weiß er inzwischen, dass es gute und schlechte Räume gibt – und im Dunkeln liegt, was sie dazu macht.
Bleiben noch die parawissenschaftlichen Theorien: unterirdische Wasseradern, von denen eine Strahlung ausgeht? Energetische Abdrücke, die andere Menschen im Raum hinterlassen haben? Ihm ist klar, dass die meisten darüber lachen und ihn für irre erklären werden. Aber wenn er sich wieder einmal von einer Seite auf die andere wälzt und dabei auch die Erklärungsversuche in seinem Kopf dreht und wendet, ist ihm das ab einem gewissen Punkt egal. Diese Beschreibungen treffen seine Empfindungen am besten. Es gibt da offenbar eine Erklärungslücke, und die raubt ihm den Schlaf.
Zum Heft