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N° 84, Nerven

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Vom Gurren und Murren

Große Aufregung in einer hessischen Kleinstadt: Als Hunderte Stadttauben per Genickbruch getötet werden sollen, gibt es einen riesigen Shitstorm und weltweite Empörung. Und am Ende doch: ein bisschen Frieden

Von Nora Voit; Illustration: Lukas Jülige

Als Marius Hahn eines Tages in seinem Bürgermeisterbüro sitzt, brüllt ihm unten, vom Rathausplatz, eine Gruppe Tierschützer „Mörder!!!“ entgegen. Hahn, 52, ist urlaubsreif. Mehr als ein halbes Jahr hat er bis zum Hals in Diskussionen, Rechtfertigungen und Interviews gesteckt, hat sich bedrohen und beschimpfen lassen, sich über die Presse und Tierschützer geärgert. Bis in die US-amerikanischen Medien haben er und sein beschauliches Städtchen es geschafft – beziehungsweise: die Tauben von Limburg. 

Denn die hessische Kleinstadt hat ein Problem mit ihnen. Es sind einfach zu viele – hochgerechnet rund 700 Stück. Anwohner beschweren sich seit Jahren über eine Plage: Taubenkot zerstöre die Fassaden von Ladengeschäften und Fachwerkhäuschen, Fenster zu öffnen sei unmöglich. Deshalb müssen ein paar Hundert Tiere verschwinden. Der Plan: 400 von ihnen töten, durch Genickbruch. 

„Hey, uhm, Germany. Are you okay?“, fragt diesen Sommer ein einigermaßen brüskierter Stephen Colbert in seiner Late-Night-Show aus New York über den Atlantik in Richtung Mittelhessen. Ein gigantischer Shitstorm hatte die Meldung der geplanten Limburger Taubentötung innerhalb weniger Tage um die ganze Welt getragen. Die Empörung ist riesig. 

Nur wenige Tiere polarisieren so sehr wie Tauben. Auf der einen Seite verkitschen sie Hochzeiten und Eröffnungszeremonien, Märchen und Kunstwerke. Eine Taube ziert die Fahne der Friedensbewegung, als monogam lebendes Tier ist sie außerdem Symbol für lebenslange Treue und Liebe. Und auch als Hobby waren und sind sie bis heute beliebt: In den Hochzeiten der Brieftaubenzucht galten sie als „Rennpferd des kleinen Mannes“.

Auf der anderen Seite klebt am graublauen Gefieder der Taube ein Schmuddelimage. Manche finden die Vögel und ihr eigenartiges Gurren auf Dachgiebeln einfach nur nervig. Viele ekeln und schützen sich mit defensiver Architektur vor den „Ratten der Lüfte“ und ihrem Kot, fürchten sich vor Parasiten und mysteriösen Infektionen. 

Man könnte Tauben auch eine Art Antibabypille ins Futter mischen, wie man es gerade in Köln in einem Pilotprojekt testet

Um Taubenpopulationen in Städten in Schach zu halten, gibt es eine Handvoll Optionen. In Augsburg und einigen anderen deutschen Städten hat man Verschläge mit Futterstellen gebaut, die Eier der Tiere tauscht man regelmäßig gegen Attrappen aus. So vermehren sie sich nicht unkontrolliert. In Limburg hielt man die Kosten dafür, etwa 90.000 Euro, für zu hoch. Man könnte Tauben auch eine Art Antibabypille ins Futter mischen, wie man es gerade in Köln in einem Pilotprojekt testet. Tierschützerinnen und Tierschützer schlagen Alarm, weil es kaum Langzeitstudien dazu gibt. Manche Experten sagen, nichts dergleichen helfe langfristig – das könne nur ein striktes Fütterungsverbot.

Und dann ist da noch dieser andere Lösungsvorschlag, den ein Falkner namens Berthold Geis im Winter vergangenen Jahres, ein halbes Jahr vor dem großen Shitstorm, im kleinen Kreis fernab der Öffentlichkeit an den Bürgermeister von Limburg heranträgt. Geis, ein Mann mit Faible für Holzfällerhemden und Fleecejacken, will mehr als die Hälfte der Tauben in eine selbst konstruierte Falle locken, sie mit einem Stock bewusstlos schlagen und ihnen dann „sach- und fachgemäß“ das Genick brechen. 

„Das fand man dann eine schnelle, einfache Methode“, sagt Bürgermeister Hahn in breitem Hessisch und meint damit die Stadtverordneten, aber offenbar auch sich selbst. Geis bekam den Zuschlag und begann, sich auf seinen Einsatz vorzubereiten. Für ihn, dessen Vater ausgerechnet Taubenzüchter war, ist das „Arbeit“ – wie für Kammerjäger das Rattenvergiften. Das Recht dafür hat er sich in mehreren Prozessen über sechs Jahre lang vor dem Hessischen Verwaltungsgerichtshof erstritten. Seitdem gelten Tauben unter bestimmten Bedingungen offiziell als Schädlinge.

Malte Zierden stromert durch seine Hamburger Altbauwohnung. Er ist in den Videocall gesprintet, sein Kopf ist voll und sein Körper ständig in Bewegung. Zierden, 32, ist Content Creator, Tierschützer und seit ein paar Jahren gern gesehener Gast in Talkshows – für alle möglichen Themen, von Kieferproblemen über ehrenamtliches Engagement in Krisengebieten bis zur mentalen Gesundheit. Dass er sich als einer der Lautesten für die Stadttauben von Limburg einsetzt – immerhin 500 Kilometer von seiner Wohnung entfernt –, 

liegt daran, dass er quasi über Nacht zum passionierten Taubenfreund wurde. Und das wiederum liegt an Oßkar, einer Hamburger Stadttaube, die seit einem Jahr den Fenstersims von Zierdens Badezimmer bewohnt.

Malte Zierden ist auf einem Hof in Ostfriesland unter Tieren groß geworden, in ihrer Gesellschaft habe er sich schon immer am wohlsten gefühlt, sagt er. Zierden leidet an sozialen Ängsten, Menschen machen ihm manchmal Sorgen. Als er mit Ende zwanzig das erste Mal in der Großstadt lebte, bemerkte er, dass fast täglich auf seinem Fenstersims Tauben saßen. Und irgendwann beschloss Zierden, mit einer Taube befreundet sein zu wollen. „So wie andere jeden Tag Liegestütze machen, wollte ich, dass eine Taube bei mir einzieht.“ 

Die Tauben sollten tatsächlich, nun auch demokratisch bestätigt, getötet werden. Malte Zierden sagt dazu: „Es ist von allen Seiten einfach scheiße.“

Jeden Morgen, so erzählt er es, stellte er sich also mit ein bisschen Körnerfutter auf der ausgestreckten Hand an sein Fenster und pfiff die Melodie von „Zelda“, einer japanischen Videospielreihe. Irgendwann pickte Oßkar, so nannte Zierden sein neues Quasihaustier, die Körner von seiner Hand. Heute besitzt Oßkar, die „wohlhabendste Taube der Welt“, ein selbst gebasteltes Fenstersims-Apartment in DIN-A4-Größe. Inklusive Fischgrät-Parkettboden, Puppenhausmöbeln vom Flohmarkt, Zimmerpflanzen und einem Taubenporträt. „Natürlich ist das eine Vermenschlichung“, sagt Malte, „aber ich wollte diesem heimatlosen Tier symbolisch ein Zuhause geben.“ Auf Social Media erreichte Zierden mit dieser Geschichte Millionen. 

Seitdem Malte Zierden durch seine Begegnung mit Oßkar seine anfänglichen Vorurteile abgelegt hat, hält er Tauben für zutiefst missverstandene Kreaturen. Und weil neben ihm ganz schön viele andere Menschen mit Oßkars Artgenossen mitfühlten, entschied sich die Stadt Limburg dazu, die Bürger selbst über die Zukunft der Vögel abstimmen zu lassen. Am 9. Juni, dem Tag der Europawahl, stimmten 53 Prozent der Limburgerinnen und Limburger für den Beschluss der Stadtverordneten. Die Tauben sollten tatsächlich, nun auch demokratisch bestätigt, getötet werden. Malte Zierden sagt dazu: „Es ist von allen Seiten einfach scheiße.“ 

Die Meldung von dem Bürgerentscheid ging um die Welt. Und der „Bürgermeister von Schlimmburg“, wie nicht nur Zierden Marius Hahn öffentlich nannte, war zur Zielscheibe von Tierfreunden geworden. In den vergangenen Monaten hat Hahn 1.800 Mails aus der ganzen Welt bekommen. Ihm haben fremde Menschen gedroht, auch ihm das Genick zu brechen – vorher werde man ihm aber noch die Eier abschneiden. Von Social Media hat sich Hahn zurückgezogen. Manche hat er angezeigt. 

„Der Fehler war, dass man das Töten öffentlich gemacht hat“, sagt er heute. „Natürlich klingt es martialisch, dass den Tauben das Genick gebrochen wird.“ Aber: Schon jetzt würden Hunderte Tauben jährlich umgebracht, nicht nur in Hessen, sondern auch in anderen Bundesländern. Und: Was passiere eigentlich mit Ratten? „Das sind doch auch Geschöpfe Gottes. Die haben nur keine Lobby“, sagt Hahn.

Für Malte Zierden ist das „Whataboutism“. Ein argumentatives Ablenkungsmanöver. Zierden ist tief in die Materie eingetaucht. Er kennt jedes Detail, von der Mangelernährung der Stadttauben über deren Lebenserwartung bis hin zur Zusammensetzung des Stadtrats in Limburg. Aber Zierden ist niemand, der Menschen gegeneinander aufhetzt. Im Gegenteil: Er wirkt eher wie der Typ Kindergärtner, ein Pädagoge mit Sinn für Diplomatie. 

Im Juli schreibt er dem Bürgermeister einen durch und durch anständigen Brief, der so beginnt: „Sehr geehrter Bürgermeister Marius Hahn, ich würde mich freuen, mit Ihnen in den Austausch gehen zu dürfen und Sie unter gewissen Voraussetzungen zu unterstützen.“ Beigelegt hat er ein von ihm geschriebenes Bilderbuch – eine Geschichte von einem Jungen, der auf einer Taube die Welt entdeckt und dabei seine Ängste hinter sich lässt. Das Antwortschreiben des Bürgermeisters veröffentlicht Zierden auf Instagram. Der bedankt sich – und ruft Tierschützerinnen und Tierschützer dazu auf, sich bei der Stadt Limburg mit Ideen zu melden. 

Als sich Zierden und Hahn Anfang August zum ersten Mal persönlich begegnen, scheint in Limburg die Sonne. Zierden ist mit einer befreundeten Tierschützerin gekommen, man empfängt beide im Rathaus. Er ist so aufgeregt, dass er die Begrüßung vermurkst und seiner Kollegin den Vortritt nimmt. Aber: Beide Seiten finden sich deutlich sympathischer, als sie dachten. Aus einem Termin von einer Stunde werden drei, inklusive Führung durch Limburgs hübsche Altstadt. 

Bei all dem Dissens zwischen dem 32-Jährigen veganen Influencer und dem 52-jährigen Sozialdemokraten gibt es ein Thema, über das sich die beiden bei ihrem Treffen in Limburg sofort einig sind: Das Problem mit den Tauben ist menschengemacht. 

Die Tiere, die wir heute kennen, stammen von der Felsentaube ab. Wie viele ehemalige Wildtiere hat der Mensch sie domestiziert. In nahezu allen Kulturkreisen der Welt galt Taubenfleisch als Delikatesse, in Ägypten servierte man es den Pharaonen, in Frankreich dem Hochadel. In Kriegen setzte man Tauben als Postboten ein, das internationale Unternehmen Reuters startete seinen Nachrichtendienst 1851 mit Pressetauben. Später entdeckte man die Vögel als Leistungssportler, veranstaltet noch heute Wettkämpfe mit ihnen. Damit sie dem Menschen mit ihrem Fleisch und ihrem Orientierungssinn dienen, hat man über Jahrhunderte ihr natürliches Brutverhalten durch Zucht erhöht. Deshalb brüten sie heute bis zu sieben Mal im Jahr, haben quasi pausenlos Nachwuchs. 

Mitten im Shitstorm meldete sich völlig unerwartet der österreichische Gnadenhof Gut Aiderbichl und bot an, 200 Tiere in einer Auffangstation unterzubringen. Limburg stimmte zu. Eigentlich eine gute Nachricht, aber: Dutzende Küken müssten zurückgelassen werden. Und das gefällt Malte Zierden gar nicht. Auch darüber spricht er bei seinem Treffen mit Marius Hahn.

Malte Zierden sagt: Es tue ihm im Herzen weh, dass Hahn so viele Hassnachrichten bekommen habe. „Ich wünschte mir, dass wir eine diplomatische Lösung für die Tauben finden. Alles für die Tiere.“

Marius Hahn sagt: Das war ein anständiges Gespräch. Er habe eine große Ernsthaftigkeit und den Willen gespürt, zu einer guten Lösung zu kommen. Und: „Wenn wir es schaffen, dass keine Taube den Tod finden muss, ist das eine wunderbare Sache.“

Man munkelt, es wurde an diesem Donnerstag Mitte August eine Lösung gefunden. Eine für den Bürgermeister, der jetzt erst mal in den Urlaub fährt. Eine für Malte Zierden, der Ende August wieder in die Ukraine reist und dort zusammen mit anderen Tierschützern ein Tierheim aufbaut. Und vor allem eine für die Limburger Tauben, die von dem ganzen Drama wahrscheinlich nichts mitbekommen haben.

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