Tage des Zorns

Ab den Fünfzigerjahren kamen Millionen sogenannte Gastarbeiter nach Deutschland, darunter auch viele Frauen, die man noch besser ausnutzen konnte als die Männer. Bis sie erfolgreich auf die Barrikaden gingen. Über ein zu Unrecht vergessenes Kapitel der Emanzipation

Von Natascha Roshani

Der Wecker klingelt – erbarmungslos. Es ist fünf Uhr morgens, vielleicht auch 5.15 Uhr. Aber welche Rolle spielen schon fünfzehn Minuten in einer unerzählten Geschichte? Dieser Morgen ist einer von vielen, der Beginn eines mühevollen Arbeitstags von unzähligen sogenannten Gastarbeiterinnen: aus der Türkei, aus Griechenland, aus Italien, aus Spanien. 

Neuss, 13. August 1973 

Als die Frühschicht um sieben Uhr im Werk des Automobilzulieferers Pierburg KG in Nordrhein-Westfalen beginnt, ahnt noch niemand, dass dieser Tag in die Geschichtsbücher eingehen wird. Doch alle spüren schon, es wird ein heißer Sommertag werden. Die Stimmung unter den 1.700 ausländischen Arbeiterinnen ist bereits aufgeheizt. Seit Monaten schon gärt es. Die immer gleiche Routine – stundenlange stupide Akkordarbeit in den großen Fabrikhallen – setzt den Frauen zu. Es ist laut und der Arbeitsdruck enorm: 1.300 Vergaser werden pro Fließbandeinheit in einer Schicht gebohrt und gefräst, zwischen fünfzig und siebzig Frauen müssen das bewältigen, sonst gibt es Lohnabzug. Wer ausfällt, dem droht die Entlassung. Jeder Gang zur Toilette wird registriert. Gezahlt werden 4,70 D-Mark pro Stunde. Das entspricht der sogenannten Leichtlohngruppe 2, dem Tariflohn, den (ausschließlich) Frauen seit den Fünfzigerjahren für angeblich „leichte körperliche Arbeit“ bekommen. Dreißig bis vierzig Prozent weniger Geld, als Männer bekommen – für die gleiche Arbeit. Wie anders, wie verheißungsvoll klangen dagegen die Annoncen in den türkischen oder italienischen Zeitungen, mit denen deutsche Konzerne die ausländischen Arbeiterinnen in das Wirtschaftswunderland lockten! 

Doch die Zeiten haben sich geändert. Die Inflation in Deutschland steigt seit Beginn der Siebziger, und die erste große Wirtschaftskrise – ausgelöst durch die enormen Energiepreise – macht den Unternehmen zu schaffen. Gleichzeitig realisieren die Menschen, dass es auf der Wohlstandsleiter nicht immer weiter nach oben geht. Die Stimmung auf dem Arbeitsmarkt ist angespannt, Ende des Jahres 1973 tritt unter der Regierung von Willy Brandt ein „Anwerbestopp“ in Kraft. „Gastarbeiter-Welle vorerst gestoppt“, titelt der „Trierische Volksfreund“ Ende 1973. Und auch die „Bild“-Zeitung heizt die gesellschaftliche Gemengelage mit fremdenfeindlichen Schlagzeilen an: „Ein Gast, der sich schlecht beträgt, gehört vor die Tür gesetzt.“

Sie habe sich unter den Deutschen wie ein Zweiter-Klasse-Mensch gefühlt, erinnert sich Emine Orhanoğlu in einem Interview. „Da ist die Tür, du kannst gehen, wenn es dir nicht passt“, habe man damals zu ihr gesagt. Orhanoğlu ist eine der ausländischen Frauen, die am 13. August 1973 die Nase voll haben von ihrem Arbeitgeber Pierburg. Seit neun Jahren arbeitet sie nun schon in Deutschland als unqualifizierte, billige Arbeitskraft, mittlerweile ist sie im Betriebsrat. In der Lohnhierarchie stehen sie und ihre Kolleginnen dennoch an unterster Stelle: Netto bekommen sie für ihren kräftezehrenden Job 600 D-Mark im Monat. Und davon geht noch die Miete für das schäbige Zimmer im Wohnheim ab, das sich drei bis vier Frauen miteinander teilen. 

Zurück zum Werkstor in Neuss 

Kurz vor Beginn der Sieben-Uhr-Schicht verteilen circa zwanzig migrantische Arbeiterinnen Flugblätter, in denen sie die Abschaffung der Lohngruppe 2 und eine Mark mehr Stundenlohn fordern. Es ist ein sogenannter wilder Streik, den sie anzetteln. Das heißt: Er ist unangekündigt und wird weder von der Gewerkschaft noch vom Betriebsrat unterstützt. Und doch erfahren die Frauen wenig später bereits große Unterstützung. Von den Menschen, die zu ihrer Schicht eilen, schließen sich immer mehr den Streikenden an. Es sind vor allem Frauen aus Griechenland, der Türkei und anderen südeuropäischen Ländern, aber auch der ein oder andere ausländische Mann. Siebzig Prozent der 3.800 Beschäftigten bei Pierburg haben keine deutschen Wurzeln.

Doch diese Geschichte beginnt nicht erst im Jahr 1973 in Neuss. Schon seit dem Ende der Fünfzigerjahre kommen Menschen aus Ländern, in denen sie glauben, keine Zukunft zu haben. Insgesamt vierzehn Millionen Arbeitswillige von 1955 bis 1973. Wie gut, dass sie in der Fremde während des Wirtschaftsbooms willkommen sind, denken sie. Bei Siemens, Opel, Ford und Bahlsen wirbt man um sie als Arbeitskräfte. So wie auch beim Automobilzulieferer Pierburg in Nordrhein-Westfalen. Besonders Frauen sind beliebt, können sie fast ebenso hart arbeiten und bekommen doch viel weniger Geld als Männer. 706.000 ausländische Arbeiterinnen werden 1973 in Deutschland gezählt – das sind dreißig Prozent der sogenannten Gastarbeiter dieser Zeit. 

Viele von ihnen sind allein gekommen, ohne Familie. Oft Verheiratete, die in ihrer Heimat ihre Kinder zurückgelassen haben und nun die Ernährerinnen der Familie sind. Und auch Ledige, die auf ein Studium sparen. Sie alle vereint dasselbe Ziel: Sie wollen nach ein paar Jahren des Geldverdienens zurück nach Hause. Und sie alle sind selbstbewusste Frauen, die nun für sich selbst verantwortlich sind. Viele von ihnen tragen Miniröcke, nur wenige, eher ältere, haben ein loses Tuch um den Kopf gebunden. Wie viel autonomer scheinen sie zu sein als die deutschen Ehefrauen in der Bundesrepublik, die laut Gesetz nur arbeiten gehen dürfen, „soweit dies mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar ist“. Nicht einmal ein Drittel der westdeutschen Frauen ist in den Siebzigerjahren berufstätig.

Ein türkischer Arbeiter droht, sich vor dem Werkstor zu verbrennen

„Ich habe für meine Rechte kämpfen müssen“, sagt Emine Orhanoğlu, die mit Anfang zwanzig mit dem Zug aus der Türkei nach Deutschland kommt. Mit ihr gehen im Sommer 1973 zahlreiche Kolleginnen bei Pierburg auf die Barrikaden. Sie leiden unter den Ungerechtigkeiten und haben endgültig genug davon.

Schon einige Monate zuvor, an Pfingsten, hatten sie einen Katalog mit ihren Forderungen aufgestellt. Es waren sehr viele Dinge, dreizehn Punkte, die sie verändern wollten. Zu viele, um sich damit bei der Unternehmensleitung Gehör zu verschaffen. Aber nun im August haben die Frauen aus dem Fehlschlag gelernt, ihre Forderungen auf zwei Punkte begrenzt und auf einen schmissigen Nenner gebracht: „Eine Mark mehr, eine Mark meehr, eine Mark meeeehr“, schallt es durch ihre Reihen vor dem Werkstor von Pierburg. Wenige haben ein Megafon, die anderen fallen in den rhythmischen Sprechgesang ein, pfeifen und klatschen dazu. Die positive Energie wandert von einer zur anderen, von einer jüngeren zu einer älteren, von einer griechischen zu einer jugoslawischen Frau. Angst scheint keine der Streikenden zu haben, obwohl sie eine Menge riskieren. Ihre Aufenthaltsgenehmigung ist an ihre Arbeitsstelle gebunden. Werden sie entlassen, werden sie sofort des Landes verwiesen.

Zwischen der von der Geschäftsleitung gerufenen Polizei und einigen Protestierenden kommt es zum Handgemenge, drei Menschen werden verhaftet und stundenlang verhört. Und doch scheitern die Einschüchterungsversuche, und immer mehr strömen aus den Fabrikhallen und schließen sich dem Pulk vor dem Werkstor an. Fast 600 Menschen legen im Laufe des Tages ihre Arbeit nieder. 

Dienstag, 14. August 

Das gleiche Spiel am zweiten Streiktag. Morgens zur Frühschicht sind es diesmal schon 350 Frauen, die sich vor dem Eingang versammeln, und sofort fahren Polizeiautos vor, aus denen Polizisten springen, die auf die Arbeiterinnen einschlagen. Das Ganze eskaliert. Doch plötzlich ist da auch das Fernsehen, das die Prügeleien filmt. Und der Polizeichef von Neuss, der über den Streik spricht, der für ihn „revolutionären Charakter“ besitzt. Warum man so hart einschreite, wird er gefragt. „Das Vorgehen der Polizei ist dann immer barbarisch, wenn es gegen Rechtsbrecher vorgeht“ ist seine schlichte Antwort.

Auch am Mittwoch, dem 15. August, passiert: nichts. Kein Entgegenkommen, kein Zeichen von der Geschäftsleitung, trotzdem die Fließbänder bei Pierburg inzwischen stillstehen. Selbst nicht, als der türkische Arbeiter Eroglu Galip damit droht, sich vor dem Werkstor zu verbrennen, wenn bis zum Mittag keine Verhandlungen zustande kommen. Es scheint ihm ernst zu sein. Panik macht sich breit – bis es dem Betriebsrat gelingt, Eroglu Galip zu beruhigen. 

Doch nicht nur der Druck von den Protestierenden auf die Geschäftsleitung wächst. Im Neusser Pierburg-Werk werden achtzig Prozent aller Vergaser in Deutschland produziert. Und so ist es nur eine Frage der Zeit, wann die gesamte deutsche Autoindus-trie stillsteht. Eigentlich hatte die Geschäftsleitung vorgehabt, den Unmut auszusitzen und im Herbst 1973 einen Großteil der mi-grantischen, schlecht bezahlten Frauen durch neue „Gastarbeiterinnen“ auszutauschen. 

Jetzt scheint ihr Plan nicht aufzugehen. 

Donnerstag, 16. August

Am vierten Tag nimmt der Protest eine unerwartete Wendung. Die deutschen Facharbeiter bei Pierburg solidarisieren sich mit den ausländischen Frauen, die euphorisiert und dankbar Blumen an die Männer verteilen. Und auch Neusser Bürger und Bürgerinnen beginnen sich auf die Seite der Streikenden zu schlagen. Selbst die platte Meinungsmache, wie sie die „Bild“-Zeitung praktiziert, kann dagegen nichts ausrichten. Mal heißt es: „Die Türken proben den Aufstand“, mal sollen angeblich „die Kommunisten“ hinter dem Protest stehen. Ein Blick auf die Situation vor Ort allerdings zeigt friedliche Frauen und vereinzelte Männer, die vor der Fabrik stehen, sitzen, diskutieren, essen und stricken. Und nun, um zehn Uhr, nimmt der Betriebsrat endlich Verhandlungen mit der Unternehmensführung auf. 

17. August, fünfter Streiktag, 6.30 Uhr das erste Angebot von Pierburg! Knapp hundert Stunden haben die Frauen durchgehalten, und doch will die Konzernleitung nur zwölf Pfennig pro Stunde mehr zahlen. Jemand ruft: „Wenn es bei zwölf Pfennigen bleibt, werden wir zwölf Jahre weiterstreiken!“ 

Langsam wird auch dem Arbeitgeberverband die Tragweite des Streiks bewusst. Der aufrührerische Funke ist nämlich von Neuss auf Lippstadt übergesprungen, wo in den Hella-Werken Autoscheinwerfer hergestellt werden und jetzt auch gestreikt wird. Die gesamte Automobilproduktion, die Vorzeigeindustrie Deutschlands, ist plötzlich lahmgelegt.

16 Uhr: Auf einem Stuhl stehend ruft der Vertreter des Betriebsrates das neue Verhandlungsergebnis in die Menge: 75 Pfennig mehr pro Stunde, und Lohngruppe 2 wird abgeschafft! Fünf Tage Hartnäckigkeit und Mut haben sich gelohnt. 

Am kommenden Montag kehren alle an ihren Arbeitsplatz zurück. Und noch am selben Tag erreicht der Betriebsrat, dass niemand der Streikenden entlassen wird und vier von fünf Streiktagen bezahlt werden.In diesem Sommer 1973 spielt sich in der Bundesrepublik ein Lehrstück der Arbeiterbewegung und Emanzipation ab: Frauen, die kaum Deutsch sprechen, ausgebeutet und ausgegrenzt werden, gelingt es, eine gemeinsame Stimme zu finden. Gegen ein alteingesessenes Familienunternehmen, das weltweit jährlich 350 Millionen Mark mit Vergasern umsetzt. Gegen alle Klischees und Stereotype, die diese Frauen als rückständig, ungebildet und wehrlos beschreiben. Und gegen rassistische Schlagzeilen von Medien, die versuchen, sie als „Gastarbeiterinnen“ zu denunzieren. Sie, die Deutschland mit aufgebaut haben und fünfzig Jahre später schon längst wieder unsichtbar geworden sind.

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