Snackable müsst ihr sein!
Klar, wollen wir mehr Leserinnen und Leser. Aber wie nur?? Verrückt, was dabei herauskommt, wenn man mit dieser Frage zu einer der führenden Werbeagenturen geht
Von Kolja Haaf
Berlin Hauptbahnhof: Warten auf den ICE nach Köln, um eine der renommiertesten Werbeagenturen zu besuchen. Links und rechts Menschen, in ihren apathischen Gesichtern der Berliner November. Gegenüber an der Wand eine LED-Werbetafel: „Hey Berlin, Bock auf mehr Philadelphia?“ Dann eine Werbung mit der seltsamen Aufforderung: „Weihnachtskugele deine Tanne.“ Dann das Video einer tanzenden und Nüsse knabbernden Frau: „Snack gut.“ Dann: „Du liest es doch auch. Bild bleibt Bild.“ Und mit einem Mal ist sie klar zu erkennen, die Dringlichkeit dieser Recherchemission. Diese Menschen, diese dem kalten LED-Licht hilflos ausgesetzten Massen – sie müssen erfahren, wer sich diesen ganzen Wahnsinn ausdenkt. Sind das hochintelligente Zyniker, die in unsere schlichten Konsumentenköpfe schauen? Oder Gute-Laune-Bären, die einfach Bock auf mehr Philadelphia haben und munter aus der Hüfte feuern? Höchste Zeit, dass jemand eindringt in die Alchemie der Werbefuzzis und den geheimen Schlachtraum hinter der LED-Werbetafel inspiziert.
Obwohl – leicht ist das nicht. Wenn man Agenturen schreibt, ob man als Journalist mal bei einem Brainstorming dabei sein könne, heißt es: Schleich dich. Geheimhaltungsklauseln, undenkbar, absolutes Betriebsgeheimnis, Vertragsbruch. Ein letzter Versuch: über den Freund eines Freundes, der einen kennt – einen Executive Creative Director bei der Hirschen Group, Deutschlands drittgrößter Kreativagentur. Auf einmal ist alles ganz einfach: Ja klar, komm rum. Aber auch hier das Problem: Man dürfe nur den Kunden selbst in die geplante Kampagnenarbeit spicken lassen. Und dann eine erste Kostprobe werberischer Durchtriebenheit: DUMMY könne doch einfach der Kunde sein, und dann schreibe man, wie über das Magazin gebrainstormt wird?
Handschlag drauf, ohne Zögern. Wenn man in den für Printmedien finsteren Zeiten das Angebot bekommt, von einer der führenden Agenturen ein Gratis-Makeover zu bekommen, schickt die Redaktion natürlich gleich ein Briefing: mehr Leser und Abonnentinnen, mehr Bekanntheit bei geringem Werbebudget. Gleichzeitig die Aufrechterhaltung des Markenkerns: nämlich Geschichten publizieren, die anderen Medien womöglich zu heikel sind. Weil DUMMY den Leserinnen und Lesern nicht nur etwas zutrauen, sondern auch etwas zumuten will. Jawoll.
Das Büro „Zum goldenen Hirschen“ in Köln-Ehrenfeld sieht schon mal mehr nach guter Laune als nach sterilem Marketinglabor aus. Im Eingang ein lebensgroßer goldener Hirsch, überall Geweihe an den Wänden, kitschige Gemälde von röhrenden Hirschen, Jägerdevotionalien, Wirtshausstammtische und ein Zigarettenautomat. Und das W-LAN heißt Reh-LAN. Das alles, zusammen mit einer riesigen Wand mit Edelspirituosen, zwinkert dem Besucher unmissverständlich zu: Wir sind hier ein paar ganz Pfiffige. Stimmt vielleicht, wirkt aber etwas gewollt. Wo ist das Roughe? Die vulgär-kreative „Mad Men”-Atmosphäre? Wo die zugekoksten Typen? Erste Zweifel: Ist man auf einen PR-Gag reingefallen? Wird das eine bloße Scheinperformance?
Dann verbrennt sich am Kaffeeautomat so ein Werbe-Dude an seiner Tasse und raunzt seiner feixenden Kollegin zu: „Boah, dieses Ding fickt mich heute wieder in den Arsch!“ Vielleicht ist die Werbewelt doch noch nicht domestiziert.
Und tatsächlich wird’s jetzt auch irgendwie aufregend, denn es geht in die „Hirschenstube“, den Konferenzraum. Auftritt der vierköpfigen DUMMY-Kreativ-Taskforce der Hirschen. Angeführt wird sie von einem prächtigen Zwölfender, komplett in Schwarz gekleidet, der Geschäftsführer des Kölner Rudels. Neben ihm sitzt, auch in Schwarz, eine junge Frau, Art-Direktorin, die – das erwähnt der Zwölfender während der Vorstellung aus irgendeinem Grund – verlobt ist. Außerdem ist da noch ein vollbärtiger Typ mit Basecap, Senior-Online-Konzeption, auch in Schwarz, und eine Senior-Texterin in Lederjacke, die aussieht, als wäre sie auf einer alten Vespa vorgefahren.
Es wird nicht lange gefackelt. Der Zwölfender verkündet, dass man, um DUMMY zu pushen, als Erstes ein Narrativ brauche, das man „medienneutral“ erzählen könne: „Wir müssen Sprungbretter finden, wo man sagt, okay, hier ist ein Kosmos, ein Suchfeld, in dem lässt sich die Story erzählen!“
Also gehirnstürmt man drauflos, in knackigem Tempo, kritzelt munter aufs Whiteboard und garniert immer wieder eigene und fremde Einfälle mit Zwischenrufen à la „Das is geil!“. Erste Erkenntnis: So ein Brainstorming ist vor allem sehr unterhaltsam. Zweite Erkenntnis: Man wird nicht ganz ohne Grund „Agentur des Jahres“. Ein „Weihnachtskugele deine Tanne“-Niveau wird einem hier nicht zugemutet. Aber vielleicht liegt’s auch einfach an dem verdammt guten Produkt? Hier jedenfalls ein unvollständiges Protokoll der Ideen, mit denen DUMMY, glaubt man den Hirschen, in der deutschen Zeitschriftenszene so richtig aufräumen könnte:
Was, die gibt’s noch?
Als Erstes geht’s um die Zielgruppe. Im Briefing steht, dass man alle Schichten und Milieus erreichen will und dass zu den DUMMY-Abonnenten sowohl Professorinnen als auch Kfz-Mechaniker zählen. Skeptische Gesichter in der Runde.
Basecap spöttelt: „Kfz-Ingenieure wohl höchstens.“
Lederjacke: „Also ich muss ehrlich sagen, ich kannte DUMMY gar nicht.“
Zwölfender: „Ich hab die auf jeden Fall mal gelesen. Und irgendwann vergessen. Hab dann stattdessen ‚brandeins‘ gekauft. Aber genau das kann doch die Erzählung sein: Scheiße, unsere Zielgruppe stirbt aus. Oder: Was, die gibt’s noch?“
Verlobte: „Das darf aber nicht so verzweifelt rüberkommen wie dieser Hilferuf von der ‚Titanic‘.“
Zwölfender: „Also mich hat das abgeholt.“
Lederjacke: „Man geht zu ehemaligen Abonnenten, klingelt bei denen, filmt das und fragt: Na, Frau Reuter, Sie haben vor acht Jahren Ihr Abo gekündigt, was ist da los?“
Finden alle geil. Und sowieso: Video! Es folgt eine kleine Schelte, dass DUMMY unbedingt TikTok bespielen müsse: „Um TikTok kommt. Ihr. Nicht. Drumrum.“ So im „Stromberg“-Style würde man das aufziehen, sagt der Zwölfender. In einer kleinen Schauspieleinlage mimt er DUMMY-Redakteure, die einfach nicht begreifen wollen, warum die Abonnements trotz großartiger Inhalte nicht mehr werden: „Harry, du hast doch vier Wochen recherchiert für die Geschichte! Das ist pures Gold! Wieso liest das keine Sau?!“ Die Verlobte lacht laut – und wirklich, es ist ziemlich ulkig.
„Ihr scheißt komplett auf Mafo“
Apropos Redaktion. Der Leser wolle unbedingt sehen, was für Leute das Magazin machen. „Im Briefing stand ja auch, dass ihr keine Tests macht, keine Marktforschung“, sagt der Chef, jetzt auf der Tischkante sitzend. Und das könne man nutzen.
Zwölfender: „Man holt zum ersten Mal ein Mafo (Anmerkung der Redaktion: Marktforschungsteam) zu DUMMY, und die erklären euch, wie man das Heft eigentlich machen müsste, damit es so richtig die Massen abholt. Auch als Video. Und dann noch eine Meinungsumfrage, bei der dann rauskommt: DUMMY braucht keine Sau.“
Verlobte: „Aber ihr scheißt dann da komplett drauf! Ihr wollt niemandem gefallen! Denn genau das ist euer Markenkern.“
Zwölfender: „Genau. Und daraus macht man eine Kampagne gegen die Glattheit, gegen die Anpassung!“
Lederjacke: „Was euch ausmacht, ist, dass es keine Regeln gibt!“
Der Chef hat eine geniale Idee
Gleich kommt dem Chef eine weitere geniale Idee: Für jede Ausgabe könne man eine neue Kleinkampagne machen, die provokant mit dem jeweiligen Thema spielt. Beispiel „Verlangen“: Dafür könne eine einzige Ausgabe mit Blattgold bedruckt werden, die wäre dann 7.000 Euro statt sieben Euro wert. Und irgendein Abonnent würde die dann bekommen, per Zufall. „Und da drum baut man auf allen Kanälen eine Story auf – wie wird dieses Gold-Heft hergestellt? Wer bekommt es? Und so weiter.“
Von einer weiteren Eingebung heimgesucht, schreibt der Zwölfender ans Whiteboard: „Wer kein Budget hat, braucht Mut.“ Man müsse verschiedene Social-Media-Bubbles mit provokanten Posts kapern und dadurch Aufmerksamkeit generieren. Am besten funktioniere das, und hier senkt er seine Stimme verschwörerisch, mit schwarzer Magie. Heißt: Die Redaktion lässt sich vorab von der Agentur Themen empfehlen, die sich besonders anbieten: „Wenn man zum Beispiel einen Monat lang dafür sorgt, dass alle DUMMY hassen – die Hip-Hopper, die AfD, die Grünen, die Kirchen, die Atheisten –, dann baut man damit eine Rampe für eine Ausgabe zum Thema ‚Hass‘.“
Die Verlobte ergänzt: „Ich finde, man sollte aber nicht alles mit Negativität aufladen. Verlangen hat ja auch ganz viel Gutes!“ Sie hat wohl verstanden, dass noch über das Beispiel „Verlangen“ geredet wird. Zwölfender schaut sie leicht verwirrt an. Dann meldet sich Basecap. „Auch noch mal zum ‚Verlangen‘: In U-Bahnen Plakate aufhängen, auf denen ‚Crack für die Welt‘ steht. Und darunter kleben wir Baggys mit weißem Pulver zum Mitnehmen.“ Darin sei dann aber kein Crack, sondern Mehl, wegen „Brot für die Welt“. Und der Twist wäre dann im Heft eine große Story über den Welthunger. Zwölfender etwas verhalten: „Hm, ja, find ich gut, aber ich würde das noch ein bisschen größer aufziehen.“
„Und zwar hängen wir an das Plakat Euroscheine, richtige Kohle.“ Oder, noch besser, man würde einfach einen Prada-Mantel für vier Mille aufhängen. Lederjacke lacht entzückt: „In der U-Bahn, auf die andere Seite der Gleise, dazu der Spruch: ‚Was ist dir dein Verlangen wert?‘“ Na ja, oder eher an eine hohe Hauswand, meint Zwölfender. Da drüber würde dann stehen: „Wir haben, was du verlangst.“ Oder einfach: „Hol ihn dir!“ „Und dann filmt man, wie die Leute versuchen, den runterzuholen, und das postet man auf den Social Channels.“ Und nach einem User-Kommentar wie: „Hä? Gucci ist doch voll lame!“ würde man am nächsten Tag statt Gucci einen Balenciaga-Mantel aufhängen. Er skizziert all das völlig unkenntlich auf dem Whiteboard.
Zwölfender: „Der Witz ist: Wir reden nicht nur über Verlangen, wir lösen es aus. Und dann reagiert man auf den nächsten Kommentar mit ’nem Versace-Teil. Bäm. Und dann rasten die komplett aus. Man muss so schnell wie möglich aus einer zweidimensionalen in eine dreidimensionale Welt kommen: Interaktion, mitmachen, Rabatz machen!“
Verlobte: „Emotionen erzeugen statt drüber reden – richtig geil!“
„So ein Instakanal wie eurer tut einem richtig weg“
Jetzt kreist alles um Social Media und junge Leser, Basecaps Revier. Er dreht sein MacBook um, und alle beugen sich über den Instagram-Kanal von DUMMY.
Basecap: „Ihr hattet beim Thema ‚Brüche‘ so ein megageiles Cover, auf dem André the Giant jemandem das Genick bricht. Aber davon sehe ich auf Insta nichts. Sehr, sehr viel Text. Ist aus der Sicht junger Nutzer nicht cool. Ein Reel im September, davor eins im Juli – das reicht nicht.“
Verlobte: „Kein Kanal, der funktioniert, hat so viel Text.“
Basecap: „Der Mensch hat ’ne Aufmerksamkeitsspanne von acht Sekunden! Ihr braucht Thumb-Stopping Moments! Das ist zu elitär, junge Leute haben da keinen Bock drauf.“
Zwölfender: „Ihr beschreibt zu viel. Ihr löst zu wenig aus.“
Verlobte: „Snackable sein.“
Basecap: „Sonst geht’s euch wie zum Beispiel Intro – Hammerinhalte, aber die haben nie wirklich gecheckt, was ‚digital‘ bedeutet. Und jetzt sind die weg.“
Zwölfender: „So ein Kanal wie eurer tut einem richtig weh. Weil da so viel Liebe drinsteckt, da sind Überzeugungstäter am Werk.“
Lederjacke: „Aber eben overthinking!“
Zwölfender: „Genau. Und das ist der Eindruck, den ich dann auch vom Heft bekomme: anstrengend. Zu viel Substanz, um reinzukommen. Wie ’ne Schweinshaxe als Vorspeise. Dabei könnte man mit so viel Content sogar schauen, wie man mit den Kanälen selbst Geld verdient. Wenn man Social erst mal richtig hochjazzt. Wenn einem erst mal eine Million Leute folgen. Machbar.“
Wie auf ein geheimes Zeichen setzen sich alle wieder, eine Stunde ist schon vorbei. „Lange Rede, kurzer Sinn: Da könnte man einiges reißen“, fasst Zwölfender zusammen, während er mit einem Auge den nächsten Termin auf seinem Handy im Blick hat. Der wilde Ritt ist vorbei, taumelnd verlässt man die Hirschenstube. Mit einem Gefühl, als ob man auf dem Schulhof bei den Coolen stehen durfte und die einen endlich mal ernst genommen haben. Sagte der Chef nicht noch, dass man sich bei einem Kunden wie DUMMY auch überlegen könnte, ob man einfach einen „Case“ draus macht? Also eine Gratiskampagne, fürs Portfolio. Weil da an Budget ja wahrscheinlich eh nicht viel zu holen sei. Auf einmal erscheint die Zukunft groß und schön und saftig.
Erst später, im Zug zurück nach Berlin, die dritte Erkenntnis: Ein Marken-Brainstorming in Anwesenheit des Kunden ist immer auch Werbung zweiter Ordnung. Da wird Werbung für die eigene Werbung gemacht. Und mit etwas Abstand: Eigentlich war – wie bei jedem Brainstorming – zwischen ein paar charmanten Ideen natürlich auch der ein oder andere Schmarrn dabei.
Ausstieg in Berlin: „Hey Berlin, Bock auf mehr Philadelphia?“ „Weihnachtskugele deine Tanne.“ „Snack gut.“ „Du liest es doch auch. Bild bleibt Bild.“ Dann: „DUMMY – Wir haben, was du verlangst.“ Es materialisiert sich wie von Zauberhand eine Prada-Jacke auf dem Bildschirm. Und durch die apathisch Wartenden geht ein Glucksen, Gesichter hellen sich auf, spontan wird geklatscht. Einige Mutige rennen los, über die Gleise, werden vom einfahrenden ICE zerfetzt, während andere das filmen und posten. Bäm. Rabatz. Binnen weniger Minuten werden überall im Bahnhof Handys herausgeholt und Abos abgeschlossen, eins nach dem anderen. Richtig geil.