Verkehrte Welt
Im Gegensatz zu Erwachsenen haben Kinder in Deutschland nichts zu melden. Andere Länder, die wir gern für rückschrittlich halten, sind da schon weiter
von Vanessa Masing; Foto: Foto: Callescuela, Paraguay
Sechzehn Jahre ist es her, dass die dreizehnjährige Hannah Jones ihre Eltern, ihre Ärzte und überhaupt die britische Gesellschaft vor ein Dilemma stellte. Seit ihrem fünften Lebensjahr litt Hannah an Leukämie, bis zu diesem Tag im November 2008 hatte sie bereits etliche Chemobehandlungen ertragen. Und nun sollte sie auch noch eine riskante Herztransplantation über sich ergehen lassen. Hannah wollte lieber sterben, als ein neues Herz zu bekommen. Aber war die Dreizehnjährige reif genug, um das entscheiden zu können? War es nicht die Pflicht der Erwachsenen, sie vor ihrem eigenen Wunsch zu schützen? Tatsächlich wurde ihr nach einer intensiven gesellschaftlichen Debatte erlaubt, selbst über ihren Körper zu bestimmen. Und ein Jahr später willigte sie doch noch in die Transplantation ein – aus freien Stücken.
Worüber ein Kind entscheiden darf oder nicht, wird überall auf der Welt anders gesehen. In skandinavischen Ländern sind zum Beispiel viele Menschen der Meinung, dass sich Kinder – wenn sie sich dazu in der Lage fühlen – bereits im Alter von drei, vier Jahren in gefährliche Situationen begeben dürfen. Auch wenn sie sich dabei verletzen könnten, billigen Eltern und Pädagogen dem Kind eine selbstbestimmte Entscheidung zu. So dürfen Kinder im Kindergarten zum Beispiel auf hohe Bäume klettern oder mit scharfen Messern umgehen.
In Deutschland dagegen stellen solche Freiheiten unser Verständnis von Kindern und Kindheit auf die Probe. Wir wollen unsere Kinder meist beschützen, alle Entscheidungen für sie treffen und sie von der „Welt der Erwachsenen“ fernhalten. Doch was bedeutet es für unsere Gesellschaft, wenn wir über dreizehn Millionen Menschen nur aufgrund ihres Alters systematisch von allen unsere Gesellschaft betreffenden Entscheidungen ausschließen?
An manchen Tagen scheint die Aufgabe der Schulen eher darin zu liegen, Kinder aufzubewahren, anstatt sie zu fördern
Kinder wie der vierzehnjährige Samuel, der auf seinen Alltag und sein Leben nur wenig Einfluss hat. Von acht Uhr morgens bis vier Uhr nachmittags sitzt er in der Schule. Die Lautstärke im Klassenzimmer ist enorm. Eine Unterrichtsstunde reiht sich an die nächste, nur unterbrochen von einer 45-minütigen Mittagspause. Seitdem er zur Schule geht, hat er schlechte Noten. Im Unterricht starrt er vor sich hin oder stört. Das Niveau in Samuels Klasse ist sehr heterogen, es gibt kaum Spielraum für eine individuelle Förderung. An manchen Tagen scheint die Aufgabe der Schulen eher darin zu liegen, Kinder aufzubewahren, anstatt sie zu fördern.
Wenn Samuel aus der Schule kommt, wartet seine alleinerziehende Mutter zu Hause. Sie spricht kaum Deutsch. Ihre beiden älteren Söhne wurden ihr weggenommen und in Pflegefamilien untergebracht. Nachmittags verabredet sich Samuel oft mit seinen Freunden auf einem Platz, auf dem sich auch Obdachlose und Dealer treffen.
Tausende Kilomter davon entfernt: Paulo, elf Jahre, putzt auf den Straßen der paraguayischen Hauptstadt Asunción Schuhe. Er betrachtet sich als „arbeitendes Kind“ – aus westlicher Sicht ein Albtraum. Paulo hingegen sagt, durch seine Arbeit könne er seine Familie unterstützen, seine Schule finanzieren und Zeit mit anderen Kindern verbringen. Seine Auffassung ist nichts Ungewöhnliches in Paraguay und Bolivien; in beiden Ländern arbeiten rund dreißig Prozent der Kinder. Wie Paulo sind viele von ihnen in Gewerkschaften für arbeitende Kinder organisiert. Ihnen ist es zu verdanken, dass Bolivien das erste Land der Welt war, in dem 2014 ein Gesetz in Kraft trat, dass die rechtlichen Rahmenbedingungen für arbeitende Kinder stärkte. Der Aufschrei des Westens ließ selbstverständlich nicht lange auf sich warten: Kinderarbeit werde aufs Schärfste verurteilt, hieß es. Auch wenn das Gesetz 2018 weitestgehend einkassiert wurde, zeigen die Kindergewerkschaften, dass Kinderinteressen nicht immer dem entsprechen, was Erwachsene sich vorstellen oder auch wünschen.
Viele arbeitende Kinder sagen, es gehe an ihrer Lebensrealität vorbei, wenn Kinderarbeit verboten würde. Solange die Armut ihrer Familien nicht gelindert würde, müssten sie weiter arbeiten, dann eben heimlich und ohne Rechte. Statt unkontrollierter Ausbeutung wünschen sie sich ein gesetzlich verankertes Recht auf Mindestlohn, bezahlten Urlaub und Arbeitszeiten, die ihnen den Schulbesuch ermöglichen. Also nicht weniger als die soziale Anerkennung ihrer Leistung für die Gesellschaft.
Kinder – wie Hannah, Samuel oder Paulo – schon in jungen Jahren als gleichberechtigte Menschen zu sehen, das forderte der polnische Kinderarzt Janusz Korczak in seiner bahnbrechenden „Magna Charta Libertatis“, einer Art Grundgesetz für Kinder, geschrieben im Jahr 1919. Jedes Kind habe das Recht auf den eigenen Tod, das Recht auf den heutigen Tag und das Recht, so zu sein, wie es ist, hieß es darin. Korczak wollte das Kind von gesellschaftlichen Erwartungen befreien und wurde damit zum Vorreiter der UN-Kinderrechtskonvention, die Kinder 1989 erstmals als Subjekte definierte, nicht – wie über Jahrhunderte hinweg – als Geschenk Gottes oder als Besitz des Vaters. Sein pädagogisches Konzept setzte Korczak konsequent in dem von ihm in Warschau gegründeten Waisenhaus um. Es wurde von Kindern und Jugendlichen geleitet; ein Kinder- und Jugendparlament fällte alle Entscheidungen, und ein Gericht von fünf Mädchen und fünf Jungen sprach Recht. Vor diesem Gericht mussten sich auch Korczak und die anderen Erwachsenen verantworten.
In einer bolivianischen Gemeinde ist eine 12-Jährige Bürgermeisterin
Yordana ist zwölf Jahre alt und seit dem 11. Oktober 2023 Bürgermeisterin in Ascensión de Guarayos, einer bolivianischen Gemeinde. Sie übt dieses Amt gemeinsam mit Pablo, dem erwachsenen Bürgermeister, aus. Yordanas Aufgabe ist es, jungen Menschen eine Stimme bei politischen Entscheidungsprozessen zu geben. Zwar ist Yordanas Wahl zur Bürgermeisterin Teil eines Projektes der Kinderrechtsorganisation Plan International, aber gleichzeitig führt sie eine Tradition im Hochland von Bolivien und Peru fort. Kinder im Alter von zehn bis zwölf Jahren werden dort traditionell zu Bürgermeistern gewählt, um ihre Interessen zu vertreten.
Anders in Deutschland. Hier werden Kinder nur beteiligt, wenn es um Lebenswelten geht, von denen Erwachsene nicht unmittelbar betroffen sind. Dazu zählen die Gestaltung eines Spielplatzes oder Projekte im Schulumfeld wie ein „Klassenrat“ oder ein „Schüler:innenhaushalt“.
Fordert man Samuel und seine Freunde auf, in der Schule für ihre Rechte und mehr Mitsprache zu kämpfen, reagieren sie ablehnend: „Kinderrechte sind doch nicht für mich!“, „Mein Vater würde mich umbringen“, „Dann bekomme ich eine schlechte Note“ oder „Wir können sowieso nichts ändern.“ Kinder und Jugendliche fühlen sich in Deutschland macht- und rechtlos. Auch wenn es inzwischen zahlreiche Schulen gibt, die Mitbestimmung von Kindern in Grenzen ermöglichen, bleiben sie Institutionen, die Kinder in der Regel kaum beeinflussen können. Begehren sie auf, gelten sie schnell als schwierig, als „Problemkinder“ oder „Systemsprenger“, die ärztlich behandelt werden müssen. Ob es das Beste für Kinder wie Samuel ist, sich jeden Tag durch ihren Schulalltag zu quälen, wird kaum hinterfragt. Oder ob es für ein unangepasstes Kind das Beste ist, ein Medikament wie Ritalin zu schlucken, um in der Schule zu funktionieren.
Vor 35 Jahren unterzeichneten 196 Staaten die UN-Kinderrechtskonvention. Wie sieht die Zukunft aus? Gesellschaftliche Teilhabe von Kindern beinhaltet auch das Recht, wählen zu dürfen. Einige Initiativen plädieren inzwischen für ein Wahlrecht ab der Geburt, das Kinder dann ausüben, wenn sie sich reif genug fühlen und für Politik interessieren. Viel Unterstützung findet diese Forderung allerdings nicht. Kinder sind die letzte gesellschaftliche Gruppe, die in der politischen Unmündigkeit gehalten wird. Sprachlich schlägt sich das ständig im Alltag nieder: „Das kannst du noch nicht“, „Dafür musst du erst noch älter werden“, „Das verstehst du noch nicht“ oder „Das ist etwas für Erwachsene“ – alles Äußerungen, die Kinder aufgrund ihres Alters diskriminieren und dazu beitragen, sie in einem Zustand der Unmündigkeit zu halten.
Das Wahlrecht ab der Geburt klingt wie eine Utopie. Ein erster Schritt könnte das Wahlrecht für Kinder ab sechzehn Jahren sein. Es wäre ein starkes Zeichen für die Gleichberechtigung, das Politiker motivieren könnte, die Interessen von jungen Menschen in ihren Wahlprogrammen zu berücksichtigen.
Denn man muss sich nur mal vorstellen: Jahrhundertelang war sogar das Schlagen von Kindern als Erziehungsmethode verbreitet – und vor allem erlaubt. Erst im Jahr 2000 wurde es in Deutschland gesetzlich verboten. Vielleicht wird es eines Tages sogar ein Grundgesetz für Kinder geben, wie es der polnische Kinderarzt Janusz Korczak schon 1919 gefordert hat.
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