Selber Freak

Experte fürs Angeglotztwerden, Schauspieler, Frauenliebhaber und Taubenfreund. Das alles ist Dennis Seidel.  Aber auch: behinderter Mensch. Über einen, der sich nicht auf eine Rolle festlegen lassen will

Von Daniela Chmelik; Bilder von Robin Hinsch

Wenn ein Mann durch Hamburg geht und dabei mit einer kleinen Pappfigur spricht, die er im Arm hält, dann denken vielleicht manche Menschen: Puh, seltsam, der ist doch nicht ganz dicht. Andere sehen in ihm vielleicht einfach nur einen Mann mit einer kleinen Pappfigur. Hat ja jeder so seine Vorlieben. Und wiederum andere erkennen vielleicht den Schauspieler Dennis Seidel, der oft auf Hamburger Bühnen steht, der bei dem Musiker und Regisseur Schorsch Kamerun im Hamburger Schauspielhaus hospitiert hat und seit ein paar Jahren selbst Stücke inszeniert.

Seidel ist das, was man früher einen Behinderten genannt hätte – und heute, etwas feinfühliger: einen behinderten Menschen. Er leidet am sogenannten Kabuki-Syndrom, was für einen Schauspieler ziemlich gut passt, denn Kabuki ist eine traditionelle japanische Theaterform, die vor allem aus Tanz und Pantomime besteht. Angeblich ähneln Menschen, die das Kabuki-Syndrom haben, ein bisschen geschminkten japanischen Schauspielern. 

„Ich bin mit nur einer Niere zur Welt gekommen“, erklärt Seidel. „Und ich bin durch meine Hüfte beeinträchtigt und kann nicht gut laufen. In der S-Bahn traue ich mich oft nicht, Leute zu bitten, für mich einen Platz frei zu machen. Weil ich Fremden gegenüber schüchtern bin.“

„Meine Behinderung ist für mich etwas Nerviges,  weil es Menschen gibt, die über mich herziehen“

Ist es ihm unangenehm, über seine Behinderung zu sprechen? Seidel nimmt sich viel Zeit für die Antwort. „Für mich ist meine Behinderung etwas Nerviges, weil es Menschen gibt, die über mich herziehen. Angeglotzt zu werden tut weh, weil das Leute tun, die einen Hass haben auf Behinderte, auf Ausländer, auf Menschen, die lesbisch, schwul oder hydrosexuell sind.“ 

Seidel findet es schlicht „asozial“, wenn er angestarrt wird, nur im Theater nicht: „Auf der Bühne ist das etwas anderes. Da ist es Begeisterung, bei mir und beim Publikum.“ Da wird aus dem Angeschautwerden eine Show. Wenn Seidel in Frauenklamotten über die Bühne läuft, freuen sich die Menschen. Wenn er allerdings Frauenklamotten shoppen geht, muss er sich Sprüche anhören. 

Über die Jahre ist Seidel notgedrungen zu einem Experten für das geworden, was heute neudeutsch „Othering“ genannt wird. Also dass Menschen als fremd empfunden und ausgegrenzt werden. Dabei macht er sich nicht nur Gedanken darüber, warum er diskriminiert wird, sondern auch, warum es so viele andere trifft: Menschen mit anderer Hautfarbe, anderer sexueller Orientierung oder mit Migrationshintergrund. „Oft erlebe ich Auseinandersetzungen und kriege mit, wie Leute beschimpft werden, die anders aussehen. In der S-Bahn musste ich mal erleben, wie ein Schwarzer Mensch beleidigt wurde“, erzählt Seidel.

Seitdem er vor circa zwanzig Jahren die Schauspielerei für sich entdeckte, gelingt es dem 44-Jährigen, in ganz unterschiedliche Rollen zu schlüpfen. Vielleicht hat er dadurch gelernt, sich auch im Alltag nicht auf eine Rolle festlegen zu lassen – schon gar nicht auf die des Behinderten. Dabei sah sein Leben zuerst gar nicht so aus, als würde es diese Wendung nehmen, eher schien es auf das hinauszulaufen, was unsere Gesellschaft für Menschen wie Dennis Seidel vorsieht: 1979 in Hamburg geboren, erst Sonderschule, später Behindertenwerkstatt, in seinem Fall: verpacken und montieren für wenig Geld. Doch dann entdeckte er über eine Betreuerin das Theater für sich, trat in sogenannten inklusiven Ensembles auf – aber eben nicht nur. 

In den letzten zwanzig Jahren wurde immer klarer, dass behinderte Menschen auch die Normalität des Kulturlebens aufmischen können, unabhängig von inklusiven Bühnen. Dazu möchte Seidel nicht nur als Schauspieler beitragen, sondern auch als Regisseur und Autor. Für „Meine Damen und Herren“, ein 1995 gegründetes Theaterensemble von professionellen Schauspielern mit geistiger Behinderung, spielt er nicht nur, sondern schreibt oder inszeniert auch Stücke.

Sie handeln von verlorenen Schwestern, von einer US-Präsidentin namens Mimi Kennedy, von Westernheldinnen und singenden Pferden, manche sind spannend, oft sind sie schießwütig, immer glamourös. Ein bisschen wie der ganz alltägliche Theaterirrsinn aus schrillem Crossdressing und dadaistischen Dialogen, der einst die Berliner Volksbühne groß gemacht hat. Neulich hat sich Seidel für eine Produktion zum Thema Großstadt mit Tauben beschäftigt, weil er die Tiere, die so viele hassen, sehr liebt. Schon ihr Gang sei lustig, wie sie hintereinander herliefen und gurrten. Natürlich kann der Schauspieler sie perfekt imitieren.

„Ein Freak ist jemand, der Sachen sammelt, die er liebt. Ich bin einer, weil ich auf Papppuppen stehe und mit ihnen rede“

Besuch bei Seidel zu Hause. Mittlerweile lebt er in einer Zweieinhalbzimmerwohnung, nachdem er sich in Wohngruppen jahrelang dem Regime unterschiedlicher Betreuer und Betreuerinnen aussetzen musste. Als eine mal ausrastete, weil eine Mitbewohnerin nicht duschen wollte, stand er blöderweise im Weg und bekam aus Versehen einen Bilderrahmen über den Schädel gezogen. Fast wie in einem Seidel-Stück. Einen gesetzlichen Betreuer hat er immer noch, der ist zuständig für seine Finanzen und Gesundheit. Außerdem eine Assistentin, die ihm bei Alltagsangelegenheiten hilft.

An den Wänden seines Wohnzimmers hängen Plakate der Volksmusik-Ikone Stefanie Hertel. Seidel sitzt auf dem Sofa und schmust mit einer Figur aus Pappe. Auf Nachfrage erklärt er, dass es sich um die Schlagersängerin Sonia handelt – seit Silvester ist sie seine Freundin. 

Dumme Frage, Dennis Seidel: Ist das nicht ein bisschen freakig? „Klar, ein Freak ist jemand, der Sachen sammelt, die er liebt“, entgegnet Seidel. „Ich bin einer, weil ich auf Papppuppen stehe und mich mit ihnen unterhalte. Auf YouTube habe ich mal einen Typen gesehen, der mit seinen Meerschweinchen spricht. Das war lustig. Der ist auch ein Freak.“ Und bitte, das mit seiner Freundin Sonia soll auf jeden Fall prominent im Text stehen.

Jetzt legt Seidel seine Papp-Sonia zur Seite, um seine „Kissenschwestern“ vorzustellen. Dabei handelt es sich um Kissen, auf die er mit einem Edding Frauennamen geschrieben hat. Mit den „Kissenschwestern“ inszeniert er kleine Stücke, wie etwa zurzeit eine kürzlich geschriebene Erinnerung aus Seidels Teeniejahren. Ein Auszug daraus: „Zum Einschlafen kuschele ich mich an meine Kissenschwester Kathleen. Sie trägt einen rosa Seidenbezug und knistert ganz leise mit ihren Schaumstoffbällchen. Im Licht kommt es mir vor, als hätte sie kleine Härchen, aber das sind nur 

die Mikrofasern. Neben Kathleen liegt Jessica. Sie hat den gleichen Bezug wie Kathleen, besteht aber aus Daunen, die viel lauter sind. Ich kann mir ein Leben ohne Kissenschwestern nicht vorstellen. Alle Menschen, die keine große Schwester haben, sollten sich eine Kissenschwester zulegen.“

Wäre Seidels Leben ein Theaterstück, es wäre besetzt mit tollen Frauenrollen. Da gäbe es nicht nur ihn selbst in pinkfarbenen Stiefeln, nicht nur die Kissenschwestern und die Papp-Sonia, sondern auch Frauen, die schießen können und Kampfsport machen.

„Meine Traumfrau sollte jeden, der mich blöd anmacht, umhauen können“, sagt Seidel. Und im Blöd-angemacht-Werden hat er ja so seine Erfahrung. „‚Du Scheißbehinderter‘, hat schon mal jemand zu mir gesagt. Ich tue dann so, als wäre nichts. Weil ich mich nicht traue, etwas zu sagen.“

Die Kissenschwestern haben gerade ein paar Federn verloren, die Seidel nun auf dem Wohnzimmertisch zu einem kleinen Häufchen zusammenschiebt. „Ich hasse es, wenn Menschen auf Menschen losgehen, nur weil sie anders sind. Ich bin ein normaler Mensch, aber ich bin behindert. Ich kann nichts mit Gewalt anfangen und möchte das auch nicht“, sagt Seidel – und dabei fließen ihm Tränen über das Gesicht.

Dann nimmt Dennis Seidel seine Sonia in den Arm, erhebt sich, geht in den Flur, zieht seine orthopädischen Schuhe und seine dunkle Jacke an und geht raus in diese behinderte Welt.

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