Organversagen

Wie die bundeseigene Conterganstiftung zahlreiche Menschen austrickst anstatt sie zu entschädigen

Von Ralf Pauli

Mathias Carstens ist ein zufriedener Mensch, trotz allem. Er hat einen Beruf, der ihm Anerkennung und finanzielle Sicherheit bringt. Er ist glücklich verheiratet. Vor allem hat er Frieden geschlossen mit seinem Körper, der ihm in seiner Jugend so viel Leid beschert hat. Carstens kam mit zwei missgebildeten Daumen zur Welt, zudem entdeckten die Ärzte bei ihm Fehlbildungen am Kiefer, am Innenohr und dem Magen-Darm-Trakt. In seiner Kindheit wurde er deswegen gehänselt und gemobbt. Aber seitdem er erwachsen ist, führe er ein fast normales Leben. „Ich kann mich noch glücklich schätzen“, sagt Carstens, ­dessen Name für diesen Text geändert wurde. „Mein größtes Handicap ist, dass ich kein Smartphone bedienen kann.“ 

Eines wurmt den 61-Jährigen allerdings wirklich. Die Entschädigung, die ihm eigentlich für seine Beeinträchtigungen zustehen müsste, wird ihm seit Jahren verweigert. Und zwar, wie er findet, mit „ziemlich miesen Tricks“. Deswegen ist Mathias Carstens nun vor Gericht gezogen.

Sollte das Oberverwaltungsgericht in Münster zu seinen Gunsten entscheiden, dürfte das auch vielen seiner Schicksalsgenossen neue Hoffnung schenken. Mehrere Hundert Menschen warten bis heute darauf, von der Bundesrepublik offiziell als Geschädigte des wohl größten Medikamentenskandals der Nachkriegsgeschichte anerkannt zu werden. Viele versuchen seit Jahren vergebens, zu ihrem Recht zu kommen – bei Carstens sind es jetzt zwölf Jahre. Im Mittelpunkt steht dabei eine staatliche Stiftung, die zahlreichen Geschädigten nicht hilft – obwohl das Gesetz sie dazu verpflichtet. Der Pharmakonzern, der den Skandal ausgelöst hat, hat sich früh aus der Verantwortung gestohlen.

Alles beginnt damit, dass im Oktober 1957 das Schlaf- und Beruhigungsmittel Contergan in Deutschland auf den Markt kommt. Weil es rezeptfrei erhältlich ist und besonders sanft sein soll, wird es in den nächsten Jahren millionen­fach verkauft. Auch Schwangere wie Carstens’ Mutter nehmen das Mittel ein – ohne zu ahnen, welche Folgen das für ihr Baby haben wird. Anfang der Sechziger dann stellt sich heraus: Das Medikament ist alles andere als „harmlos wie ein Zuckerplätzchen“, wie der Hersteller Grünenthal behauptet. Rund 5.000 Babys kommen wegen des Wirkstoffs Thalidomid, der in Contergan enthalten ist, mit schweren Fehlbildungen meist an Armen und Beinen zur Welt, fast jedes zweite Kind stirbt kurz nach der Geburt. Weltweit sind schätzungsweise 10.000 Menschen von Thalidomidschäden betroffen. Zunächst bestreitet Grünenthal jeden Zusammenhang mit der Einnahme von Contergan. Erst als der öffentliche Druck zu groß wird, nimmt Grünenthal das Mittel vier Jahre nach der Einführung vom Markt. Das ist im November 1961. Der Monat, in dem Mathias Carstens mit verkrümmten ­Daumen und Darmverschluss zur Welt kommt.

Es vergehen fast zehn Jahre, bevor ­Grünenthal erstmals Entschädigungen verspricht. Einhundert ­Millionen D-Mark will das Unternehmen für betroffene Familien zur Verfügung stellen, wenn im Gegenzug weitere Ansprüche an das Unternehmen entfallen. Dank dieses „Vergleichs“, den Grünenthal hinter den Kulissen mit der Bundesregierung ausgehandelt hat, zieht sich die Firma geschickt aus der Affäre. Denn als 1972 mit den Konzernmillionen und Bundesmitteln das „Hilfswerk für behinderte Kinder“ errichtet wird, übernimmt nicht Grünenthal, sondern der Staat die Verantwortung für die Auszahlung von Renten und anderen Leistungen. Wer einen Antrag stellt, verzichtet automatisch auf Forderungen gegenüber Grünenthal. So ist es bis heute. Schöner Nebeneffekt für das Unternehmen: Dank der versprochenen einhundert Millionen D-Mark wird Ende 1970 der Strafprozess gegen führende Grünenthal-Mitarbeiter eingestellt. „Die Verantwortung gegenüber den Geschädigten hat Grünenthal nie wirklich übernommen“, urteilt der ­Historiker Tobias Arndt, der sich seit Jahren mit Medikamentenskandalen befasst. Ein Ausdruck dessen sei, dass sich ­Grünenthal erst 2021 zum ersten Mal bei den ­Betroffenen entschuldigt habe. Dem Unternehmen sei es lange vor allem darum gegangen, die Ansprüche auf Entschädigung zu begrenzen. 

Aber auch der Staat hat sich nicht gerade mit Ruhm bekleckert, findet Arndt. So habe es die Bundesregierung nicht für nötig gehalten, die Betroffenen bei den Verhandlungen über Entschädigungszahlungen miteinzubeziehen. Der Staat drängte die Familien sogar, dem Vergleich zuzustimmen – obwohl sie die Summe als viel zu niedrig ansahen. „Das Interesse am Wirtschaftsstandort Deutschland überwog“, sagt Arndt. Die Versorgung der ­Conterganopfer habe dabei eine untergeordnete Rolle gespielt. Das zeige auch der Blick ins Ausland. Großbritannien, Holland oder Schweden waren wesentlich großzügiger bei der Höhe der Entschädigungszahlungen. Erst in den letzten fünfzehn Jahren hat der deutsche Staat die Conterganrenten deutlich erhöht. Grünenthal hat sich noch mal mit 50 ­Millionen Euro an den Zahlungen beteiligt.

Dass Mathias Carstens ein „Contergankind“ sein dürfte, ist in seiner Familie ein offenes Geheimnis. „Meine Mutter hat immer wieder darüber geredet“, erinnert sich ­Carstens. Entschädigungszahlungen aber haben seine Eltern nie beantragt. Carstens’ Vater machte Karriere bei der Bundeswehr, ein behindertes Kind galt in den Kreisen als unschicklich. Als 1983 dann alle Ansprüche verjährten, stellte sich Mathias Carstens darauf ein, dass er leer ausgeht. Das ändert sich erst Jahrzehnte später. Bei einem Studientreffen in Göttingen erzählt ihm die Frau eines ­früheren Kommilitonen, dass Contergangeschädigte ­wieder neue Anträge auf Entschädigung stellen können. 

Nach dem Treffen denkt sich Carstens: Das versuche ich auch. Ein Orthopäde, der auf Conterganschäden spezialisiert ist, bestätigt: Seine Fehlbildungen sind typisch. Also stellt Carstens einen Rentenantrag bei der Conterganstiftung, der Nachfolgerin des Hilfswerkes. Auch andere Ärzte kommen zu dem Schluss, dass Carstens’ Schädigungen wahrscheinlich mit dem Conterganwirkstoff Thalidomid zusammenhängen. Trotzdem erhält Carstens vier Jahre später einen Ablehnungsbescheid.

Am meisten ärgert Carstens die Begründung. Denn obwohl er alle gewünschten medizinischen Gutachten eingereicht hat, zieht die Medizinische Kommission der Conterganstiftung, die über die Anträge urteilt, eine neue Gutachterin zurate. Und die widerspricht den bisherigen Einschätzungen. Ihr Argument: Carstens’ Schädigungen könnten auch andere Ursachen haben. „Diese ­Gutachterin hat sich aber nicht mal die Mühe gemacht, mich anzuschauen“, ärgert sich Carstens. „Sie hat rein nach Aktenlage entschieden.“ Mit seinem Frust ist ­Carstens nicht allein: Die überwiegende Mehrheit der Anträge lehnt die Conterganstiftung ab. Seit 2009 wurden von 978 Anträgen nur 123 positiv beschieden.

Der von Markus Storck gehört nicht dazu. Der 59-­Jährige hat seine Schädigungen erst vor ein paar Jahren mit ­Contergan in Verbindung gebracht. Storck stellt daraufhin einen Antrag bei der Stiftung und reicht die verlangten Gutachten ein. Aus Sicht der Ärzte sind Storcks Schäden allesamt typisch für Contergangeschädigte: die ­verformten Daumen, der verkürzte Unterarm auf einer Seite, die Schäden an Wirbelsäule und Hoden, die fehlende Niere. Doch wieder holt die Conterganstiftung ein neues ­Gutachten ein, auch hier ohne persönliche Untersuchung. Und auch in diesem Fall widerspricht das Gutachten den vorherigen Einschätzungen. Für die Schäden könnte auch eine Generkrankung namens Klippel-Feil-Syndrom verantwortlich sein, heißt es darin.

Doch selbst als Storck nach aufwendigen Tests nachweisen kann, dass er diesen genetischen Defekt gar nicht hat, bleibt die Stiftung bei der Ablehnung. „Da ist mir wirklich der Kragen geplatzt.“ Auch Markus Storck entscheidet sich für den Klageweg. Er hofft, dass ihm die Gerichte nun endlich Recht zusprechen. Für ihn geht es dabei weniger um das Geld, sondern vor allem um die Anerkennung für sein Leid. Mit dreizehn Jahren muss er seiner Leidenschaft, dem Rennradfahren, abschwören, weil ihm eine Niere fehlt. Wegen des Schadens an ­seiner Wirbelsäule hat er eine Zeit lang Lähmungserschei­nungen. Am meisten schmerzt ihn aber, dass er keine Kinder zeugen kann. „Meine Frau und ich hätten uns das sehr gewünscht. Und dann stellt sich so eine Stiftung hin und behandelt dich, als wolltest du dir irgendwelche ­Leistungen erschleichen.“

Der Bundesverband Contergangeschädigter ­bestätigt den Eindruck, dass die Conterganstiftung eher gegen die Geschädigten arbeitet als für sie. Dabei ist der Stiftungsauftrag klar: Es sollen Menschen unterstützt werden, „deren Fehlbildungen mit der Einnahme ­thalidomidhaltiger Präparate der Grünenthal GmbH (…) durch die Mutter während der Schwangerschaft in Verbindung gebracht werden können“. So steht es im Contergantiftungs­gesetz. Oder anders formuliert: Weil ein Nachweis ­darüber, ob die eigene Mutter vor Jahrzehnten ein bestimmtes ­Medikament eingenommen hat, kaum zu erbringen ist, reicht dem Staat eine gewisse Plausibilität. Die Conterganstiftung jedoch scheint den Spieß umzudrehen: Solange andere Ursachen nicht ausgeschlossen werden können, lehnt sie die Anträge ab. Mal könnte das seltene Holt-Oram-Syndrom verantwortlich sein, mal das Okihiro-Syndrom, mal das Klippel-Feil-Syndrom

Der Arzt Rudolf Beyer von der Schön Klinik in Hamburg-Eilbek hält diese Argumentation für wenig schlüssig. „Es gibt nicht das eine Alleinstellungsmerkmal für Contergan“, erklärt Beyer am Telefon. Neben typischen Merkmalen wie verkürzte Extremitäten und fehlgebildete Daumen könne Thalidomid eine ganze Reihe sehr unterschiedlicher Schäden verursachen, je nachdem, wie alt der Embryo zu dem Zeitpunkt der Einnahme war und ­welche Abläufe in der Entwicklung dadurch gestört ­wurden. „Selbst eineiige Zwillinge können sehr unterschiedliche Schäden haben.“ Seit zehn Jahren leitet Beyer die Contergansprechstunde an seiner Klinik und begutachtet Personen, die einen Rentenantrag stellen wollen. Seine Faustregel: Je mehr Schädigungen nachgewiesen werden, die ins Spektrum passen, desto wahrscheinlicher ist ein Conterganschaden. 

Am Oberverwaltungsgericht in Münster kommt nun allerdings noch eine andere, eher juristische Ungereimtheit zur Sprache. Laut der Rechtsanwältin, die Mathias ­Carstens vertritt, verstößt die Medizinische Kommission der Conterganstiftung gegen das eigene Stiftungs­gesetz. In vielen ihr bekannten Fällen habe der Vorsitzende der Kommission im Alleingang ein neues Gutachten ein­geholt. Diese Entscheidung aber könne nur die Kommission als Ganzes treffen. Ein zweiter Kritikpunkt: Es gibt keine unabhängige Stelle für Widerspruchsverfahren. Das Ganze lande dann einfach noch mal bei der Medizinischen Kommission. ­Beides verhindere, dass die Anträge in der ­Conterganstiftung rechtmäßig bearbeitet werden können. Folgt das Oberverwaltungsgericht dieser Argumentation, müssten Hunderte Fälle, die bereits abgelehnt wurden, erneut beurteilt werden.

Die meisten Contergangeschädigten sind heute zwischen 62 und 66 Jahre alt. Die Mediziner sind sich einig, dass diese Gruppe im Alter besonders starken Belastungen ausgesetzt ist. Dazu komme die eingeschränkte Bewegungsfähigkeit und unzureichende medizinische Versorgung, so Klinikarzt Beyer: „Wenn man bedenkt, dass Herz-Kreislauf-Erkrankungen die häufigste Todesursache im Alter sind, dann sind Contergangeschädigte mangels Prävention besonders gefährdet.“

An einem kalten Tag Ende November reist Mathias ­Carstens nach Münster, um live dabei zu sein, wenn das Urteil fällt. Im Gerichtssaal sind rund zwanzig Contergan­geschädigte. Menschen wie Carstens, deren Anträge die Conterganstiftung abgelehnt hat. Sie alle sind gespannt, ob sie an diesem Tag ihren Glauben an die ­Gerechtigkeit zurückgewinnen. Als die Richter schließlich ihre Entscheidung bekannt geben, dringt langsam die Erkenntnis zu ihnen durch: Carstens’ Kampf hat sich gelohnt. Die Stiftung, so das Gericht, hat gegen die gesetzlichen Vorgaben verstoßen und muss seinen Fall neu ­bewerten. Also keine Alleingänge mehr in der Medizinischen ­Kommission. Für Carstens heißt das: Er darf sich Hoffnung machen, dass sein Antrag nun doch anerkannt wird.

Auch für Markus Storck könnte das Urteil Folgen haben. Seine Klage ruhte bislang, bis die Entscheidung aus Münster steht. „Ich bin glücklich über das Urteil.“ Er weiß aber auch: „Es braucht einen langen Atem.“ 

Den hat vielleicht auch Mathias Carstens nötig. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, die Richter haben die Revision zugelassen. Gut möglich also, dass sich demnächst der Bundesgerichtshof mit der Frage ­befassen muss, ob die Conterganstiftung ihrem Auftrag nachkommt: die Ansprüche derjenigen, die vor über sechzig Jahren durch Contergan geschädigt wurden, eines Tages zu gewähren.

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