Open Mind
Bei manchen Operationen am Gehirn muss nicht nur der Chirurg hellwach sein, sondern auch der Patient. Nur unsere Autorin fiel fast in Ohnmacht
Von Anuschka Roshani
Das Gehirn kennt keinen Schmerz. Was den Patienten auf dem OP-Tisch aufschluchzen lässt, ist vielmehr der schmerzhafte Gedanke, dass just in dieser Minute ein Fremder die Finger buchstäblich in seiner intimsten Schaltzentrale hat, vielleicht in seinem Wesenskern. Als der Patient von Tränen überwältigt wird, muss der Chirurg innehalten, weil das Gehirn zu sehr bebt.
Dass sich der Patient bei der Entnahme seines Hirntumors dessen bewusst ist, dass er sich des Unheimlichen überhaupt gewahr wird, liegt daran, dass er wach ist. Er hat sich nicht narkotisiert den Händen des Neurochirurgen Philippe Schucht überlassen, er ist während der Operation bei vollem Bewusstsein. Bekommt genau mit, was passiert, auch wenn das Geschehen für ihn nicht sichtbar ist. Ihn verbirgt ein Zelt aus himmelblauen Tüchern; seinen Körper haben Stofflagen unkenntlich gemacht. Seine ganze Menschlichkeit erscheint jetzt verdichtet auf ein tischtennisballkleines Hirnareal. Für diese Blöße bedurfte es einer Art Miniatursäge, und da das Aufsägen der Schädeldecke ein höchst unangenehmes Geräusch mit sich bringt, zu brutal sogar für gesunde Gemüter, ist das der einzige Vorgang, der aus Rücksicht auf die ohnehin angegriffenen Nerven unter Betäubung geschieht.
Die leise Männerstimme, die unter der üppigen Decke hervordringt, offenbart, dass alle Sinne des Patienten auf Empfang sind. Die Wach-OP ist dem Umstand geschuldet, dass sich bösartiges Tumorgewebe im Gehirn äußerlich nicht von den gesunden Nervenzellen drum herum unterscheidet. Zunutze macht man sich deshalb, dass Neuronen mittels elektrischer Impulse kommunizieren – und sie von außen unter Strom gesetzt werden können. Konkret: Der Patient muss dem Arzt sagen, wo er entlangzuoperieren hat, und deshalb fragt ihn eine Logopädin im OP-Saal unentwegt, was er auf den Bildtafeln sieht, die sie ihm hinhält. Währenddessen reizt Professor Schucht mit einem kurzen Stromstoß jene Nervenzellen, die zum Sprachzentrum gehören könnten. Wo sich das befindet, ist individuell verschieden. Tumore können es sogar verschieben, weil das Gehirn zu phänomenaler Plastizität und damit zu Kompensationsleistungen fähig ist. Handelt es sich tatsächlich um die Neuronen, die beim Sprechen aktiviert würden, dann werden sie durch den äußeren ärztlichen Reiz quasi überflutet und schalten ihre normale Aktivität aus: Der Patient gerät ins Stocken, für einen Moment fehlen ihm die Worte.
Mit dieser sogenannten elektrischen Probe vergewissert sich der Chirurg, dass das Sprachvermögen während der Operation nicht beschädigt wird. Das wäre tragisch, weil ein solches „Low grade Gliom“ – ein sehr langsam wachsender Tumor – heilbar ist, wenn sein radikales Entfernen gelingt. Unbehandelt haben daran Erkrankte eine Überlebensrate von fünf bis sieben Jahren.
„Ich bin mein Gehirn“: Hundert Milliarden Neuronen machen den Menschen aus
Schucht ist mit dem Verlauf dieser OP sehr zufrieden – und die ärztliche Zufriedenheit lässt sich in Prognosen ausdrücken: Der Patient hat sicher noch gute zwanzig Jahre zu leben, ohne größere Beeinträchtigungen seines Denkens, Sprechens, Handelns. Hat er Glück, wird er richtig alt.
Insofern ist es keine Übertreibung zu sagen, dass eine gesamte Persönlichkeit auf Schuchts Schneide balanciert. Das Gehirn ist nicht einfach ein Klumpen, dessen Furchen an ein Wattenmeer erinnern – es sind hundert Milliarden Neuronen, die uns in einem Maße bedingen, dass Forschende der verschiedensten Neurodisziplinen sich in den letzten Jahrzehnten vermehrt zu Sätzen hinreißen ließen wie: „Ich bin mein Gehirn.“
Ja, vielleicht. Ob dem wirklich so ist – oder wir mehr sind als unsere Erinnerungen, Gedanken, Emotionen, Ideen, Antriebe –, das spielt vielleicht gar keine so erhebliche Rolle. Denn alles in allem funktioniert das Gehirn in einer Perfektion, die mühelos anmutet – seine Anstrengungen sind eher ablesbar an seiner Energiebilanz: Es wiegt nur zwei Prozent des Körpergewichts, aber es verbraucht zwanzig Prozent aller Energie.
Jedenfalls meistern wir das Leben in seiner Summe überwiegend problemlos, auch ohne zu wissen, was unser Bewusstsein an sich ausmacht. Und selbst wenn Sigmund Freud mit seiner Definition von Ich, Es, Über-Ich den Weg zur heutigen Psychologie gebahnt haben mag, wir alle – Forschung inklusive – tappen in Sachen Wahrnehmungszustände nach wie vor durch ein vorbewusstes Dunkel.
Hier und heute, im Inselspital Bern, dagegen wird klar, dass es wahrlich um ein Leben am Limit geht: um die Grenzverläufe zwischen Gut und Böse, auf physischer und psychischer Ebene.
Philippe Schucht und seinen Kollegen wird der nächste Fall in den Saal gerollt: ein Hirntumor, der unter Narkose mit einem „Ultraschall-Aspirator“ vollständig mikroskopisch herausoperiert werden soll. Dieses Gerät ist der moderne Ersatz für das frühere Skalpell: Ultraschallstrahlen zertrümmern das Tumorgewebe, anschließend wird es aufgesaugt. Der exakte Ort des höchst aggressiven Tumors wird auf Monitoren angegeben. Nachdem Schucht in seinen sterilen Kittel geschlüpft ist und auf dem aufwendig sterilisierten Rollhocker Platz genommen hat, schaut er nun hochkonzentriert von oben auf das kranke Gehirn und übersetzt sich dank seiner langen Erfahrung die MRI-Aufnahmen mittels Mikroskop in mögliche Operationsstrategien.
Plötzlich verharrt er, weil ihm die drei Anästhesisten, die hinter der Tuchwand am Fußende des Patienten stehen, Herzstillstand signalisieren. Wer das dramatische Geschehen als Zaungast miterlebt, empfindet spätestens in diesem Augenblick echte Ehrfurcht. Was für ein Knochenjob, was für eine immense Verantwortung, was für ein Wissen über das höchste Regelwerk des Menschen. Und was für eine Abstraktionsleistung: sich bei jedem Handgriff zu vergegenwärtigen, wo sich was im zentralen Nervensystem befindet, welches feinste Blutgefäß auf keinen Fall verletzt werden darf, welche Nervenzelle unbedingt unversehrt bleiben muss, damit der vor ihm liegende Mensch in Gänze intakt bleibt.
Das Hirn wiegt nur zwei Prozent des Körpergewichts, verbraucht aber zwanzig Prozent der Kalorien
Allein das langwierige Aufschneiden der zwei Hirnhäute, bis Schucht zum Eigentlichen vorgedrungen ist, und das anschließende Veröden der offenen Ränder erfordern eine Sorgfalt, die zum Schluss im Vernähen der feinen Hirnhaut gipfelt. Dazu braucht es Mut und innere wie äußere Ruhe bei all den Abläufen. Als das Herz des Patienten für Sekunden aussetzt, weil Schuchts Pinzette die Haut des Hirnstamms berührt, bleibt das Personal gelassen – offensichtlich vom Vertrauen ins eigene Handwerk geleitet.
Am Ende wird diesem blassen, weichen, gelbrosa Etwas, das auch fürs bloße Auge erstaunlich heftig pulsiert, die bösartige Geschwulst entfernt. Und doch zwingt einen während des Anblicks nie Ekel dazu, sich in Selbstbeschwichtigungen zu flüchten, zu Schutzbehauptungen wie: „Nüchtern betrachtet, ist das Hirn auch nichts anderes als ein reines Netz organischer und elektrischer Nervenverbindungen.“ Nicht einmal, als Schucht danach den Haufen toter Tumorzellen für die Histologie präpariert –
das Ganze folgt stets einer in ihrer Präzision geradezu anmutigen Choreografie. Im hochmodernen OP-Saal leisten alle ihren Beitrag mit beeindruckender Akribie. Nach knappen Kommandos reicht die technische Assistentin dem Chefarzt die Instrumente.
Eine solche Operation, sagt Schucht, sei aber immer auch Teamarbeit zwischen Arzt und Patient. Zu der sind Menschen unterschiedlich gut in der Lage (Frauen meist besser). Mancher tut sich schwer mit der totalen Ohnmacht, dem völligen Kontrollverlust: dass es über viele Stunden nicht mehr in seiner Macht steht, auf welche Weise er sich preisgibt. Auf dem OP-Tisch ist jeder nackter als nackt.
Der Quantenphysiker, dem Schucht gestern einen aggressiven Tumor entfernt hat, machte sich große Sorgen, mit neurologischen Defiziten weiterleben zu müssen – während sich der frisch operierte Briefträger unbekümmert Schucht überantwortet hat. „Für Geistesarbeiter ist die Vorstellung häufig schwieriger. Sie sind es gewohnt, sich ganz und gar auf ihren Kopf zu verlassen und gedankliche Höchstleistungen abzuliefern. Und dann macht die Diagnose Hirntumor allen Plänen auf einmal einen bösen Strich durch die Rechnung.“
An dieser Stelle drängt sich die alte Wahrheit auf, seine Tage nicht im Wartestand zu verbringen und nichts Wichtiges auf die lange Bank zu schieben – aber außerhalb des OP-Saals, wieder unter Gesunden, ist die Tragik eines aufgeschobenen Lebens schnell vergessen. Offenkundiger hat sie sich in die Fakten eingeschrieben: Laut Statistik sind nur sechs Prozent von denen, die sich der Entfernung eines Glioblastoms unterzogen haben, fünf Jahre danach noch am Leben.Das ist nicht nichts. Der medizinische Aufwand und die Strapazen einer mehrstündigen Operation seien durchaus gerechtfertigt, sagt Schucht. In der Regel würden die Patienten zwei wertvolle Jahre gewinnen – ohne OP blieben ihnen lediglich ein paar Monate. Genug Zeit und Souveränität, so Schucht, um sich in Würde zu verabschieden.