Nichts wie rein

Zweihundert Konzerte im Jahr – darunter macht es Manne nicht. Und bei den meisten zahlt er nicht mal dafür.  Über einen, der nicht allein zu Hause sitzen kann

Von Oliver Geyer; Fotos: Tobias Kruse; aus DUMMY Nr.81 zum Thema „Verlangen“; Dezember 2023

Alles beginnt vor der Berliner Verti Music Hall, als es mit ein paar Freunden zum Konzert von Christine and the Queens geht. Da quatscht er uns an: 

Habt ihr eine Karte über? 

Haben wir – woher weißt du das? 

Erkenne ich.

Der sympathisch verschrobene Mann, der sich mit seinem feinen Sensorium für Restkarten vor uns aufbaut, wechselt dann auch gleich in die Smalltalk-Offensive. In wenigen Minuten erfahren wir: Er arbeitet schon seit Anfang der Zehner nicht mehr und besucht seitdem fast täglich Konzerte. So richtig hardcore konzertsüchtig sei er und belegt seine Abhängigkeit sofort mit Zahlen. In den letzten achteinhalb Monaten seit Jahresanfang war er schon auf 131 Veranstaltungen, von denen er nur für 55 bezahlt habe, nicht den vollen Preis, versteht sich. Mein oberes Limit ist ein Zwanni, erklärt er uns. Wie heißt er eigentlich? Für uns „Manne“. Seinen richtigen Namen will er nicht in der Presse lesen, sagt er. Denn auf die gibt er nicht mehr viel, seit er beim Lesen der Konzertkritiken ständig das Gefühl habe, dass die Journalisten gar nicht da waren – oder auf irgendeinem ganz anderen Konzert. 

Die schreiben, es war rappelvoll, und ich hab gesehen, wie sich die Leute auf den Bänken breitgemacht haben!

Er hingegen ist immer vor Ort. Vielleicht kann er Stille nicht ertragen? Ich stehe total auf Stille – in der Wüste, sagt er. Da ist er aber selten, sein Leben spielt sich seit Jahrzehnten im lauten Berlin ab, und zum Reisen kommt er kaum, er muss ja ständig auf Konzerte. Wenn er doch mal einen Abend zu Hause bleibt, lässt er pausenlos die alten Mixtapes laufen. Sein Methadon. Aber heute Abend will er den echten Stoff, den er jetzt ja von uns kriegt. Im Gegenzug gibt er uns seine Handynummer und verspricht, dass wir ihn mal einen ganzen Abend auf der Jagd nach Konzertkarten begleiten dürfen. 

Nächste Woche spielt Jethro Tull im Admiralspalast, sagt Manne ein paar Tage später am Telefon und warnt: Das wird aber ein harter Fight, ist das teuerste Event an diesem Abend in Berlin. Seine Ticketsammlung will er auch mitbringen. Als Beweismaterial, dass das nicht alles nur Gerede ist.

Jethro Tull also. Ist das nicht dieser bärtige Typ, der zu Hardrock immer Querflöte spielt, und das schon seit ­Jahrzehnten? Unglaublich, diese Band ist immer noch da und ihr Publikum scheinbar auch. Was da über den Hof des Admiralspalastes gelaufen kommt, sieht aus wie Hunderte Varianten von Harry Rowohlt und bildet an diesem Abend die vermutlich höchste Lederwesten-Dichte der Hauptstadt. 

Gedanken, die beim Warten auf Manne kommen und gehen: Klar, in Berlin ist viel los – aber jeden Abend? Wie viele Konzertkröten muss man als Konzertsüchtiger schlucken? Es kann ja nicht jeden Tag was Tolles los sein. Welches Konzert war Manne mal so richtig peinlich? Und: Wird Manne, wenn er sich seinen Stoff beschafft, überhaupt Muße haben für solche Fragen? 

Ja, hat er. Manne steht entspannt vor dem Eingang zum Konzertsaal, und kaum erblickt er Reporter und Fotograf, ist er schon wieder im Redefluss. Während sein Blick über sein heutiges Einsatzgebiet schweift, kommentiert er wie ein Fußballreporter: 

Wird ganz schön schwer heute Abend, habe ich dir ja gesagt Viel Konkurrenz. Oha, jetzt kommt auch schon die Ratte. 

Die Ratte? 

Ja, eine von den ganz harten Bimmlern. 

Bimmler? 

Na, die Leute, die Karten auf dem Schwarzmarkt verbimmeln. Die Ratte macht wirklich alles, sammelt auch Becherpfand, verkauft Regenponchos, Bier und sonst was. O nein, jetzt kommt auch noch Psycho zwei. Fehlt nur noch der lächelnde fliegende Teppich. 

Wie viele Konzertkröten muss man als Konzertsüchtiger schlucken?

Wo für den arglosen Gelegenheitskonzertbesucher nur ein paar Leute herumstehen, die Schilder hochhalten und etwas zum Verkauf anbieten, erblickt der Konzertsüchtige ein komplexes Kampf- und Konkurrenzgebaren. Mit lauter ihm bekannten Strategen, die ihren persönlichen Profit aus so einem Abend zu ziehen wissen. Je mehr von ihnen kommen, desto doller dreht Manne auf. Für längere Fragen bleibt da kein Raum, höchstens mal für eine kleine dazwischen: Und, bimmelst du auch? Nein, ist schlecht fürs Karma, sagt er. Manche von den Hardcore-Bimmlern machten bis zu 70.000 im Jahr. Das will er nicht, er will einfach nur rein ins Konzert. 

Okay, ein bisschen Becherpfand sammelt er bei Gelegenheit schon auch, gibt Manne zu. Kommt immer drauf an, wo er gerade ist. Überhaupt, dieser ganze Kosmos der Berliner Veranstaltungsorte. Die klingen bei dem alten Konzertjunkie richtig liebevoll: die Verti, das SO (SO 36), die Schmeling (Max-Schmeling-Halle), das Huxleys (Huxleys Neue Welt), die Benz (Mercedes-Benz Arena), die Wuhle (Wuhlheide). Beim Thema Säle, Hallen und Arenen angekommen, liefert Manne Anekdoten und Insiderwissen wie schnelle Beats: Wo der Sound gut ist, wo er Mist ist, wo sie manchmal schon nach ein paar Songs aufhören, Tickets zu kon­trollieren, und die Türen öffnen, wo sie viel zu viele Leute reinlassen, wo sie wen im Service beschäftigen (Ich sehe das alles, ich habe ein ganz genaues Auge entwickelt). 

Entwickelt hat Manne auch dieses starke Mitteilungsbedürfnis. Es entlädt sich in verbalen Druckwellen, die zu unterbrechen dem Versuch gleichkommt, während eines Motörhead-Konzerts ein paar persönliche Fragen an Frontman Lemmy in Richtung Bühne zu brüllen. Also erst mal nur mitwippen und vielleicht später einen guten Moment abpassen.

Der kommt, als Manne eine Unregelmäßigkeit im Zustrom weiterer Harry Rowohlts erkennt und unverhofft innehält. Der richtige Moment für die zentrale Frage: Und woran genau, lieber Manne, erkennst du nun, ob einer eine Karte übrig hat? Ganz oft sind es Männer, sagt er, deren weibliche Begleitung ausgefallen ist. Diese Lücke neben ihnen, die sehe ich. Richtig abgehen wird es demnächst wieder, wenn Grippesaison ist und alle flachliegen, darauf freue ich mich schon. Manchmal regnet es aber auch einfach Karten, erklärt Manne. Letztes Jahr bei den Ärzten war es so, da war der Markt völlig überschwemmt, ich bin allein auf drei Konzerten gewesen. 

Sein ganzer Stolz: Die alten Tickets hat er gesammelt.

Und heute? Der Konzertbesucher, den Manne kurz angepeilt hatte, läuft einfach weiter. Den heutigen Abend habe ich schon fast abgeschrieben, sagt er, die Konkurrenz ist zu groß. Heute unterhalte mich dann eben mit euch. 

Gut, denn wir müssen auch noch über Musik reden, Manne. Besonders wählerisch kannst du nicht sein, was war dein schlimmstes Konzert?

Ehrlich gesagt Element of Crime hier im Admiralspalast, weil der Sound so unglaublich grottig war. Krass war auch Katja ­Krasavice im Huxleys. Die stellt sich da vorne hin, singt irgendwas wie „Dank euch kann ich mir jetzt einen tollen roten ­Mercedes leisten“ und wird dafür von allen abgefeiert. Heute kann wirklich jeder Idiot mit Musik Geld machen.

Wie weit würdest du gehen, bloß um nicht zu Hause Mixtapes hören zu müssen?

Na ja, ich war auch schon bei Helene Fischer und Roland Kaiser. 

Und deine musikalische Heimat, die liegt doch sicher woanders. 

Punk, Elektropunk, Industrial. Aber bei mir reicht das bis zu weichgespültem Pop. Ich liebe auch Aha und Take on me. In der Szene nennen sie mich den Mann mit dem schlechten Geschmack.

Dein geilstes Konzert?

Ganz klar die Krupps zusammen mit Frontline Assembly im ­Kesselhaus. 

Wie oft schaust du dir dieselbe Band immer wieder an? 

Bei Exploited war ich mindestens schon zwanzigmal. Bei UK Subs bestimmt auch schon zehnmal. 

Die schwierigste Entscheidung zwischen zwei Konzerten? 

Neulich gab es Patty Smith und Nino de Angelo an einem Abend. Ich bin tatsächlich nicht zu Patty Smith, bei der ich schon ganz oft war, sondern zu Nino de Angelo, der sehr krank sein soll. Wer weiß, vielleicht ist es sein letztes Konzert. 

Und wie geht es deinen Ohren? 

Einmal hatte ich schon Tinnitus. Aber ich benutze immer Ohropax. Einmal die Woche wird gewechselt.

Der Eingangsbereich des Admiralspalastes hat sich nun geleert, die meisten Besucher sind schon drin. Das Vorprogramm ist beendet, aber der Hauptact lässt noch auf sich warten. Manne hat diesen Abend endgültig abgehakt, sagt er, will aber noch auf einem der Stehtische seine Ticketsammlung 2023 für uns ausbreiten. Combichrist, Iron Maiden, Nick Cave, Megaloh, Two Steps from Hell – zweifellos könnte er zu jedem Namen abendfüllende Rezensionen von sich geben, beschränkt sich aber auf Drei-Wort-Kritiken: NF, ganz schlechter Rap. Thinder Sticks, ist doch Selbstmordmusik. Sharon van Etten, das war sensationell. Kurz geht Manne zum Mülleimer, um irgendwas wegzuwerfen – kommt wieder und wedelt mit einem Ticket. Gibt’s doch nicht! Come on, das habt ihr doch da deponiert, gebt es zu, ruft er. Manne hat eben keine gute Meinung von den Medien und ihrer Aufrichtigkeit. Was er aber hat, ist Glück. Tut mir leid, sagt er, wir können heute nicht weiterreden. Ich muss da jetzt sofort rein.

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