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N° 84, Nerven

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Mach mal Olympia, Mustafa

Fabian Dietrich versucht in den Wettbüros der Hauptstadt das Verlagskapital zu erhöhen

An einem eiskalten Freitag im Februar verließ ich meine Wohnung, um mit Sport ein bisschen Geld zu verdienen. Seit ich vom genialen Schachspieler Dirk Paulsen gehört hatte, der angeblich seit Jahrzehnten von Wetten lebte, wollte ich es unbedingt auch mal probieren. Ich lief in dieser Absicht durch mein Viertel und erkannte es fast nicht wieder. Es war, als wären Kulissenbauer angerückt und hätten es umgebaut. Dort, wo ich früher Biomärkte und Drogerien und Blumenläden gesehen hatte, reihte sich plötzlich ein Wettlokal an das nächste. Sogar an Plakatwänden öffneten sich auf einmal geheimnisvolle Türen, und Männer mit Wettscheinen kamen heraus. Wie blind war ich gewesen, dass mir diese Welt entgangen war. 


Die „Arena“ war mehr eine Höhle als ein echtes Lokal, auf den ersten Blick merkte man: von Männern für Männer gemacht. Schmuddeliger Teppich, blau glimmende LED-Leisten an den Wänden, verstaubte Plastikpalme in der Ecke, schief montierte Klimaanlage, abgestandene Luft. Vereinzelt saßen ältere Herren im Schein der Halogendeckenspots und studierten mit gespitzten Bleistiften das ausgedruckte Tagesprogramm. Die Jüngeren tippten direkt in die Eingabemaschinen hinein. 
„Schlrrp“ machte der Automat. Mein erster Zehn-Euro-Schein ging auf die Reise in Richtung Süden. Wahrscheinlich nach Malta, dort, hatte ich gelesen, saßen die großen Buchmacherfirmen, fernab von störenden Steuern, fernab von übergriffiger Regulation. „Tsssiiii“ machte der Drucker und gab mir im Tausch einen Fetzen Thermopapier. 

Mit einem Bier in der Hand saß ich am Tresen und sah dieses grauenhafte Fußballspiel. Leipzig gegen Augsburg. Querschläger, Zufallstreffer, plumpe Fouls. Es ödete mich an. Die Kommentatoren wirkten hilflos bei ihren Versuchen, Spannung zu erzeugen: 
„Wahnsinn, sind die gnadenlos!“ 
„Hier versuchen die Rothosen alles!“ 
„Hui, das war knapp vorbei!“ 


Das Tor, das die erste Wette meines Lebens endgültig zerstörte, bekam ich schon gar nicht mehr mit, denn ich war in eine Unterhaltung mit meinem Nebenmann vertieft, der ebenfalls verlor. Das Gespräch lief ungefähr so: 
„Futsch.“ 
„Wie, futsch?“ 
„Da oben.“ 
„Augsburg?“ 
„Nee. Augsburg interessiert mich nicht. Kein Tor für Meppen, obwohl Paderborn zwei Rote hat.“ 
„Ach, Paderborn spielt und hat zwei Rote?“ 
„Paderborn ist eine Heldenmannschaft. Das muss man anerkennen.“ 


Paul war ein feiner älterer Herr, der fast jeden Tag in die „Arena“ kam und sich immer einen Kaffee und ein Leitungswasser bestellte. Er sagte es nicht so deutlich, aber Wetten wie meine, bei denen man seinen Einsatz bestenfalls verzwei-, verdrei- oder -vervierfachen konnte, langweilten ihn. Paul tippte Kombinationen. Er wettete quer durch Ligen und Länder. Er sagte zum Beispiel ein Tor in Deutschland, eines in Italien und zwei in der Türkei voraus und bekam dann, aber nur, wenn alles stimmte, die 35-fache Summe seines Einsatzes ausbezahlt. 


An einem Tisch saß ein Mann in einem Militärparka, der sich am Telefon über seinen neuen Lebenslauf unterhielt. Seine Beraterin hatte den Lebenslauf nun offenbar erfolgreich auf zwei Seiten ausgewalzt. Er brauchte einen Job, er brauchte Geld, sagte er. Er wollte als Datenverarbeiter arbeiten oder irgendwas in der Art. „Zocken, Zocken, Zocken und dann Disko“, rief er. „Das kostet so viel!“ 


Ein anderer, der durch die „Arena“ tigerte, machte einen gefährlichen Eindruck auf mich. Er schien mir von der Sorte Mensch zu sein, die einem Fremden einfach mal so eine reinhaut, um ein bisschen Druck abzubauen. Er kaute auf diese aggressive Art Kaugummi und schimpfte permanent. „Nie wieder diese Lutscherkombination!“ „Diese Fotzen!“ „Diese Hurensöhne!“ „Alter, so ’ne Scheiße, und in der zweiten Liga knallen sie ein Ding nach dem anderen rein!“ 


Bei meinen ersten Wetten verlor ich ungefähr 30 Euro, das war eine Summe, die mir mehr wie ein Ansporn als eine Warnung vorkam. In einem Ratgeber hatte ich gelesen, dass man auch das Verlieren erst einmal lernen musste und sich durch Niederlagen auf keinen Fall in eine „Abwärtsspirale“ ziehen lassen durfte. Ich wollte mein Geld auf jeden Fall zurück. 
Halbzeitpause, Werbung. In fast allen Spots, fiel mir auf einmal auf, ging es um die Themenkomplexe Macht und Reichtum. Die Spieler des FC Bayern rasierten sich mit dem KLASSENSIEGER. Das Auto war ein GEWINNERAUTO. Das Bier war für KÖNIGE usw. usf. 


Ich verlor jedes Mal und ging trotzdem immer wieder in die „Arena“. An manchen Abenden war es wie in einem Aki-Kaurismäki-Film. Am Tresen saß eine Frau, trank Bier und seufzte theatralisch. Keiner der Männer sagte ein Wort, alle starrten nur auf einen Bildschirm mit Zahlen, die wie Aktienkurse stiegen und sanken. 


Heart of Midioth vs. FC St. Johnstone 
2,70 2,30 3,40 
2,30 3,20 2,80 
nächstes Tor 
Deportivo Capiata vs. Sportivo Luqueno 
2,40 3,30 3,60 
2,10 4,11 2,80 
nächstes Tor
Persepolis Mashhad vs. Esteghlal Jonub 
1,03 11 30 
3,6 1,95 3,2 
nächstes Tor 


Einige Männer schienen auch auf ihren Stühlen zu schlafen. Doch sobald sich eine Zahl in einer für sie günstigen Weise veränderte, sprangen sie in die Höhe, heureka!, flitzten zu einer der Wettmaschinen und stopften hektisch etwas Geld hinein. 
Es musste ja auch nicht unbedingt Fußball sein, sagte ich mir. Vielleicht war ich einfach nicht dafür gemacht. Aber im Tennis, das ich meinte zu kennen, weil ich es mal im Verein gespielt hatte, war es auch nicht besser. Genau in dem Moment, in dem ich meine zehn Euro platziert hatte, stürzte Lucas Pouille, der im ersten Satz wacker gekämpft hatte, in eine Krise. Sein Gegner Andrei Rublev war ein richtiger Sadist. Er drosch die Bälle in die Ecken und jagte den armen Pouille, der nun beinahe weinte, von links nach rechts. Ich rutschte immer weiter in die „Abwärtsspirale“ hinein. 


Es machte mir keinen Spaß. Überhaupt keinen Spaß. Es fühlte sich schäbig an, auf so sinnlose Weise sein Geld an irgendwelche Malteser zu verlieren. Obwohl ich mich schämte, kam ich immer wieder, um mir mein Geld zurückzuholen. Tagsüber spielte ich bei „Hattrick“, abends in der „Arena“. 
Paul versuchte mich aufzumuntern. 
„Ja, es ist scheiße, wenn du verlierst, aber noch beschissener ist es, wenn du gewinnst.“ 
„Warum denn das?“, fragte ich. 
„Weil du dann denkst, dass du es kapiert hast. Du denkst, du hast es kapiert, und danach hörst du nie wieder mit dem Wetten auf.“ 
„Nie wieder?“, fragte ich. 

Ich war kurz davor, Schluss zu machen, als das Unfassbare geschah. Die Olympiade in Pyeongchang hatte begonnen, niemanden in den Wettbüros interessierte das, Olympia war etwas für Clowns und Idioten. Obwohl mich die anderen Männer auslachten, hatte ich aus Neugier einfach mal gesetzt. Es passierte im letzten Lauf des Doppelrodelns der Herren. 
Ich bekam Herzrasen, denn mein Tipp lag vorn. Jetzt nur keinen Fehler machen. Zwei muskulöse, schwere Kerle in hautengen Anzügen legten sich wie Sandwichscheiben aufeinander und warteten auf den Start. Auf einmal fühlte es sich an, als sei ich selber dort oben in Südkorea auf dem Hang. Es war bitterkalt, der Trainer klopfte mir aufmunternd auf den Rücken. Das Flutlicht blendete grell, ich schob das Visier nach unten, atmete ein und patschelte los. Ich ritt auf diesem muskulösen, schweren Mann mit mehr als 100 km/h durch die Eisrutsche und ihre tödlichen Kurven ins Ziel. „Sieg! Gold für mich!“, rief ich und ballte die Faust. 


Hinter mir stand Jonny. Wie jeden Tag in ausgetretenen Turnschuhen, Jogginghose, die Kapuze über die Baseballmütze gezogen. Jonny war permanent sauer, Jonny führte Selbstgespräche. Jonny setzte auf Fantasiekombinationen im Fußball, die aus drei Euro 3.000 machen konnten, aber mehr als 200 hatte er noch nie rausgeholt. Ursprünglich hatte ich gedacht, er könne mich nicht leiden, aber jetzt, als ich gewann, strahlte er mich an. Er sah sich selbst in mir, er sah, dass ich mich freute, und jetzt freute er sich auch. Endlich verstand ich das alles, nun kannte ich dieses Gefühl. 


„Dreizehner-Quote ist nicht so schlecht“, sagte Mustafa, der Mann am Schalter von „Hattrick“, und zahlte mir 247,52 Euro in bar aus. Er verriet mir, dass noch viel mehr möglich war. Einmal habe hier jemand 140.000 Euro abgeräumt. 


Stundenlang taumelte ich durch die Stadt und dachte an diese irre Fahrt im Eiskanal. Erst am Abend verebbte dieses schöne Gefühl. Ich begann zu grübeln. Warum hatte ich eigentlich nur 20 Euro und nicht 200 auf diesen Rodelschlitten gesetzt? Morgen würde ich es noch mal tun, nur besser, heftiger, mehr. 

Bald hatte ich nichts anderes mehr als Sportwetten im Kopf. Es fiel mir schwer zu arbeiten, es fiel mir schwer, Gesprächen zu folgen, deren Inhalt etwas anderes als Wetten waren. Ich wurde wie der Lieferfahrer Tim, ein Stammgast bei „Hattrick“, der, wenn er redete, praktisch nur noch Zahlen von sich gab. Er philosophierte über die Gesamtheit der geworfenen Körbe in einem indischen Basketballspiel, berechnete blitzartig irgendwelche Wahrscheinlichkeiten fürs Eishockey in Kanada, kannte sogar die Schießquoten im Biathlon und wusste immer, wo etwas zu holen war. Jeden Vormittag parkte er seinen Lieferwagen vor „Hattrick“, um während der Pause ein paar Scheine zu ziehen. „Dreißig Prozent seines Geldes darf man verspielen“, sagte Tim. Diese eiserne Regel hatte er von seinem Vater gelernt.

 
Das Wetten war Routine geworden, ich fühlte mich wie ein Bauer, der seine Äcker bestellt. Meine Tage begannen mit der Recherche von Sportereignissen. Eisschnelllauf, Rodeln, Skispringen. Irgendwann erntete ich – oder auch nicht. Nie setzte ich auf die Favoriten, sondern immer nur auf aussichtsreiche Außenseiter. Das war mein System. Jeden Tag um zwölf Uhr ließ ich mir von Mustafa Olympia auf den Monitor schalten und rodelte wieder mit meinem hyperschnellen Schlitten in Südkorea auf der Bahn. Ich probierte es auch mit Langlauf, Skeleton und Bob, eigentlich mit allem, was es so gab. 


Um die Dosis zu erhöhen, fing ich an, parallel im Internet zu spielen. Wenn der Wettkampf begann, war es, wie auf Speed zu sein. Ich kaute Kaugummi, um die Spannung in meinen Kiefern abzubauen. Haarscharf entging mir eine Riesensumme beim Staffelrodeln. Nur das Curlingteam der schwedischen Frauen rettete mich vor einem bösen Verlust. Das Teamskispringen endete für mich in einem Desaster, doch wenigstens hatte mein Norweger im Eisschnelllauf gesiegt. 


Wo konnte ich die nächste Wette platzieren? Wann kamen endlich die neuen Angebote? Wie konnte ich die Risiken ausbalancieren? Lohnte es sich vielleicht, eine leichtfertig abgegebene Wette umzutauschen? Diese Gedanken schoben sich mit einer Heftigkeit in meinen Alltag, die kein anderes Thema mehr zuließ. Immer hatte ich noch einen Schein am Laufen. Immer kam das nächste Ding, auf das es sich zu freuen lohnte. Mustafa, mach bitte Olympia an. 


Nachts träumte ich von all diesen Gestalten, mit denen ich jetzt verbunden war. Esther Bergsmaa, Håvard Holmefjord Lorentzen, Mariama Jamanka, Esme Visser und dem schwedischen Frauencurlingteam. Manchmal stand ich morgens auf, wettete im Halbschlaf auf irgendeinen Bob und merkte erst eine halbe Stunde später, dass ich schon im selben Rennen auf einen anderen Bob gewettet hatte und das Konstrukt in seiner Gesamtheit überhaupt keinen Sinn mehr ergab. 


Bald spielte ich zehn oder mehr Wetten an einem Tag. Ich setzte mal 5 Euro, mal 100 Euro, einen Überblick über Gewinne und Verluste hatte ich schon lange nicht mehr. Auch mit Fußball fing ich wieder an. Ich hatte mich auf hässliche Ergebnisse spezialisiert. Wenn ich gewann, was manchmal passierte, freute ich mich, aber es war nicht mehr so herrlich wie beim ersten Mal. 


Nun war ich wieder ein guter Zuschauer. Nun hatte ich wieder Gefühle für den Sport, aber es waren einfach zu viele, zu heftige, es war, als feuerte jemand mit einem Maschinengewehr in mein Gehirn. Ich merkte, dass das Leben sehr anstrengend wurde, wenn man ununterbrochen Wettkämpfe im Fernsehen sah. Ab und zu machte ich einen Tag Pause und wettete am nächsten Tag nur umso mehr. 


In den letzten Tagen der Olympiade beschloss ich, dass mich nur noch eine Überdosis heilen kann. Ich hob noch einmal 200 Euro ab und spielte mich durch so ziemlich jede Wettstube zwischen Kreuzberg und Neukölln. Es war ein großes Fest der verpassten Chancen, mehr eine Opfergabe als eine Investition. Ich wettete auf Fußball, Badminton, Eishockey, Wintersport. Ich schickte mein Geld mit den besten Grüßen nach Malta. Ich hoffte, die Schmerzen würden stark und langanhaltend sein.

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