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N° 89 Wunder

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Lass uns ein Wunder sein

Unsere Gedanken zum neuen Thema

Von Natascha Roshani & Oliver Gehrs

In Österreich gibt es das tolle Wort „Wunderwuzzi“. Es beschreibt Menschen, denen manches gelingt, woran Normalsterbliche scheitern. Zuletzt wurde dieses Prädikat dem Immobilienzampano René Benko verliehen und dem ehemaligen Kanzler Sebastian Kurz. Der eine Wuzzi sitzt im Gefängnis, gegen den anderen wird wegen des Verdachts der Bestechlichkeit ermittelt. Vielleicht zeigen diese Beispiele: Die Wunder sind heutzutage ein wenig auf den Hund gekommen.

Es kann halt auch nicht jeder Jesus sein und übers Wasser gehen oder gar von den Toten auferstehen. Überhaupt scheinen früher auch die Wunder besser gewesen zu sein, als noch Götter und andere übernatürliche Entitäten dafür zuständig waren. Lange Zeit hat es die Kirche geschafft, die Gläubigen mit irren Schnurren über unfassbare Taten bei Laune zu halten. Und noch heute pilgern Heerscharen zu weinenden Madonnenstatuen oder blutenden Hostien, von denen sie sich Linderung körperlicher oder seelischer Qualen erhoffen.

Im Diesseits hingegen ist der Anspruch an Wunder deutlich gesunken. Heute würde es manchem schon wie eines vorkommen, wenn die Züge pünktlich führen oder es eine Regierung in Berlin gäbe, die sich nicht dauerhaft streitet und die dem Rechtsruck in unserem Land mit echten Reformen begegnet. Die Schwelle für Wunder ist niedriger geworden. Und trotzdem wollen wir alle an Wunder glauben.

Doch ist es in diesen Zeiten nicht naiv, gar unpolitisch, sich dem Glauben an das Schöne, Wunderbare und Unverhoffte hinzugeben? Schließlich lesen und hören wir Tag für Tag nur von schlechten Nachrichten, Katastrophen, Kriegen – da scheinen sich die positiven Überraschungen im besten Fall auf (gelungene) Geschenke unterm Weihnachtsbaum zu beschränken. Aber hat die Menschheit nicht immer schon ein wenig Eskapismus gebraucht, selbst in dunkelsten Momenten? Dass dies nicht dazu führen darf, die Wirklichkeit um uns herum komplett auszublenden, versteht sich von selbst. 

Vielleicht sollte jeder und jede von uns dazu beitragen, sich selbst und andere wieder staunen zu lassen. Mit kleinen Gesten und Zeichen, die das Miteinander aufleben lassen, anstatt die Gräben zu vertiefen. Man muss ja andere Ansichten und Meinungen nicht immerzu schlechtreden. Wie wär’s damit, einfach mal an das Gute im Menschen zu glauben. Schon das wäre ein wahres Wunder!

Das Bild zu diesem Editorial, wie auch auf dem Cover, stammt vom finnischen Ethnologen Maximilian Stejskal. In den 1920er und 30er-Jahren zog Stejskal mit dem Fahrrad durch Finnland, um von Bauern und Knechten zu erfahren, wie sie früher den Stärksten und Geschicktesten unter sich gekürt hatten. Und er bat sie, diese Posen vor seiner Kamera nachzustellen. Posen, in denen mit Gegenständen, der Schwerkraft oder anderen Männern gekämpft wurde. All das hielt Stejskal auf 2.000 Textseiten und mit 433 Fotografien für seine Doktorarbeit fest. 

„Maximilian Stejskal – Folklig idrott“, herausgegeben von Marie-Isabel Vogel und Alain Rappaport. Edition Patrick Frey,
Zürich 2016

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