Kalifornski

In den letzten Monaten flohen Zehntausende Russen vor Putin in die USA, darunter viele Homosexuelle – wie Dmitrii und Max, die sich fest vorgenommen haben, beim ehemaligen Klassenfeind ihr Glück zu finden

Von Annett Scheffel; Foto: Pablo López Luz; aus DUMMY Nr.82 zum Thema „Fremde“, Frühjahr 2024

Dmitrii kann sich genau an den Tag erinnern. An das grelle Licht, an die Blicke der Grenzpolizisten und an die Angst. Vor allem an die Angst. Am 1. Februar 2023, um zwölf Uhr mittags, standen er und Max endlich in der Schlange von San Ysidro. Der Grenzübergang in der staubigen Wüste zwischen Mexiko und Kalifornien ist einer der meistfrequentierten weltweit. Und die bekannteste Anlaufstelle für Migranten, die vor Krieg, Armut und Verfolgung in ihren Heimatländern fliehen, um in den USA ein neues Leben anzufangen. Hier warteten die zwei jungen Männer auf den Moment, für den sie so viel riskiert und alles hinter sich gelassen hatten. 

Man kennt diese Szenen von der Südgrenze der USA. Die Bilder und Geschichten der Migranten, Flüchtlinge und Asylbewerber, die von Mexiko aus nach Kalifornien strömen. Die meisten kommen aus süd- und mittelamerikanischen Ländern. Aus Venezuela, Mexiko, Honduras, El Salvador, Guatemala, Kuba und Haiti. Auf der Suche nach ihrem sueño americano. Seit 2022 hat sich hier an der Grenze aber auch etwas verschoben. Unter die Immigranten mischen sich immer mehr Russen, die vor Putin über Mexiko in die USA fliehen. In den vergangenen Jahren ist deren Zahl rasant gestiegen: Von 13.000 im Jahr vor dem Angriff auf die Ukraine auf 57.000 im vergangenen Jahr.

Weil sie Angst haben, wegen kritischer Aussagen im Gefängnis zu landen. Weil sie sich von der Staatspropaganda und der nihilistischen Stimmung im Land erdrückt fühlen. Weil sie nicht für Putins Krieg an die Front geschickt werden wollen. Oder weil sie sich aufgrund ihrer sexuellen Orientierung mit den immer wieder verschärften Anti-LGBTQI-Gesetzen im Land nicht sicher fühlen – so wie Max und Dmitrii, die ohne Nachnamen in diesem Text auftauchen wollen.

Die beiden sind ein Paar. Das haben sie auch an der US-Grenze gesagt. Mit ihrem weißen gebrauchten Van sind sie aus ihrer kleinen Wohnung im San Fernando Valley im Norden von Los Angeles ins Büro von Eugene Maysky gekommen, um ihre Geschichte zu erzählen. Eugene arbeitet für „Imperial Court of Los Angeles and Hollywood“, eine NGO, die sich für Menschenrechte und Gleichberechtigung der LGBTQI-Community einsetzt. Max und Dmitrii haben nach ihrer Ankunft erst einmal in einer Notunterkunft gewohnt. Jetzt sitzen sie unweit von Downtown L.A. auf einem schwarzen Ledersofa, eng nebeneinander. 

Die Grenze zwischen den USA und Mexiko ist 3.145 Kilometer lang

Dmitrii ist hochgewachsen und hat ein rundes Gesicht und einen Undercut, Max ist schmal, mit blonden, zum Zopf gebundenen Haaren und zarten Zügen. Anfangs sind sie still und schüchtern. Erst nach und nach kommen sie ins Reden. Zuerst Dmitrii, dann auch Max. Beide auf Russisch. Ihr Englisch ist noch nicht gut genug. Eugene muss für sie übersetzen. 

Dmitrii ist 26 und in Moskau aufgewachsen. Er hat in Russland viel zurückgelassen. Einen guten Job, ein gutes Einkommen – und seine Familie: Bevor sich Dmitrii das erste Mal in einen Mann verliebte, hatte er mit achtzehn seine Jugendliebe geheiratet. 2021 trennten sie sich. Mit seiner Ex-Frau hat er zwei kleine Kinder. Seine Eltern wussten lange nichts von seiner Homosexualität. Irgendwann schickte jemand seinem Vater eine anonyme Telegram-Nachricht, die ihn outete. „Ich hätte alles abstreiten können. Es wäre einfach gewesen. Aber das tat ich nicht“, sagt Dmitrii und erinnert sich bis heute daran, wie erleichtert er war, als die Wahrheit endlich ans Licht kam. Auch wenn seine Eltern bis zu seiner Abreise in Moskau sagten, sie würden es nie verstehen oder akzeptieren. 

Monatelang saßen sie erstmal in Georgien und überlegten, ob sie wirklich in die USA sollten. Einer ihrer Freunde saß schließlich in Louisiana in „Einwanderungshaft“

Die Entscheidung zu gehen hatte er da ohnehin schon getroffen. Das war in den Wochen nach dem Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar 2022. In den Fernsehnachrichten klang es so, als ob Putin damit Menschen schützen und Leben retten wollte, aber Dmitrii wusste, was Menschen wie er wirklich erlebten. Er las von Entführungen und Gewalttaten an schwulen Männern, besonders in den Gebieten des Kaukasus. In Tschetschenien etwa werden Homosexuelle seit Jahren vom Staat verfolgt, gefoltert und getötet. Dmitrii wusste, das könnte ihm auch in Russland passieren. 

Max ist 22 und kommt aus einer kleinen Stadt in der Nähe von Kursk unweit der ukrainischen Grenze. Eine Gegend, in der viele junge Menschen perspektivlos und drogenabhängig seien, sagt er, und die in Reichweite ukrainischer Raketen liegt. Seine Mutter sei froh, dass er es rausgeschafft hat. „Sie hat neulich am Telefon zu mir gesagt: ‚Wenn eine Bombe bei uns einschlägt, bist du wenigstens am Leben.‘“ Dass er schwul ist, weiß seine Familie bis heute nicht. 

In Russland hatte Max ein Psychologiestudium begonnen. Als ihn der Algorithmus einer Dating-App im Mai 2022 mit Dmitrii verknüpfte, leistete er gerade seinen Wehrdienst in der Armee ab. Auf den Fotos dieser Zeit sieht Max aus wie ein anderer Mensch. Kurzer Militärschnitt, kämpferische Pose in Uniform. Dabei litt er unter Panikattacken. Seine Einheit war in der Nähe der Grenze stationiert. Immer mehr von ihnen wurden an die Front geschickt. „Uns wurde gesagt, dass wir unser Land verteidigen würden, aber niemand hat verstanden, wofür wir kämpfen“, sagt er. Mit viel Glück fand Max einen Arzt, der ihm ein neurologisches Leiden bescheinigte, und am 31. Mai wurde er vorzeitig aus dem Wehrdienst entlassen. 

Als er eine Woche später nach Moskau fuhr, zu Dmitrii, sei er aufgeregt gewesen und misstrauisch, sagt er. Es passiert in Russland immer wieder, dass schwule Männer über Dating-Apps zu Treffpunkten gelockt werden, wo dann ein Schlägertrupp auf sie wartet. Es habe ihm gefallen, wie groß und stark Dmitrii war, es habe ihm aber auch kurz Angst gemacht. Dann ging alles ganz schnell. Nach zwei Tagen schenkte ihm Dmitrii einen Ring, „als Symbol für den Beginn unserer Beziehung“. Es war klar, dass sie ab jetzt zusammen waren. 

Zu diesem Zeitpunkt hatte Dmitrii schon alle Vorbereitungen getroffen, um im Juli das Land zu verlassen. Max war das bisher nicht in den Sinn gekommen; er war noch nie woanders gewesen und wollte nicht weg, zumindest nicht so bald. „Es war eine schwere Entscheidung“, sagt er heute. „Ich wollte nicht, dass meine Freunde und Familie mich für einen Verräter halten. Das wurde uns ja von der Staatspropaganda eingebläut.“ 

Für die meisten Russen, die auswandern wollen, wäre Europa ein naheliegendes Ziel, allerdings ist es so gut wie unerreichbar, da die meisten kein Schengen-Visum bekommen. Und weil Mexiko anders als viele andere Länder von russischen Menschen kein Visum für die Einreise verlangt, sind die USA die beste Option, die sie haben. 

Wie viele Flüchtende aus Russland entschieden sich Max und Dmitrii im September 2022, zunächst mit dem Auto über die Grenze nach Georgien zu fahren und von dort weiterzureisen. Gut 38 Stunden standen sie in der kilometerlangen Autoschlange an der georgischen Grenze. Kurz zuvor hatte Wladimir Putin die Mobilmachung der Armee bekannt gegeben. „Es herrschte eine apokalyptische Stimmung. Diese vielen Menschen auf der Flucht. Es gab kein Essen, keine Toi-letten“, sagt Dimitrii. Viele hätten ihr Auto einfach zurückgelassen, um zu Fuß weiterzugehen. „Alle wollten weg, nur weg, egal wie.“ 

In Georgien angekommen, zögerten sie lange. Ein Freund von Dmitrii saß nach der illegalen Einreise in Louisiana in Einwanderungshaft. Jedes Jahr landen Tausende in den für ihre harten Bedingungen bekannten Lagern. Max und Dmitrii waren plötzlich unsicher, ob die Flucht in die USA so eine gute Idee war. Drei Monate überlegten sie hin und her. Dann, Anfang Januar 2023, bestiegen sie schließlich das Flugzeug. Wie viele Russen flogen sie nicht direkt nach Mexiko-Stadt, sondern über Dubai, damit niemand Verdacht schöpfte. Nach einer Nacht in Mexiko-Stadt fuhren sie mit dem Taxi nach Toluca, einem kleinen Flughafen, den vor allem Einheimische benutzen, um nach Tijuana weiterzufliegen. 

Russen und Russinnen haben viel bessere Chancen, in den USA Asyl zu erhalten, als Migranten aus Mexiko oder Südamerika

Als die beiden in Tijuana an der Grenze zu Südkalifornien ankamen, hatte die US-Zoll- und Grenzschutzbehörde CBP im Kampf gegen die illegale Einwanderung gerade die Einführung einer App angekündigt, die es so noch nie gegeben hat: Über „CBP One“ werden Termine für geordnete Grenzübertritte vergeben. Die werden allerdings nicht nach besonderer Schutzbedürftigkeit vergeben, sondern abhängig davon, wie schnell man sich zum richtigen Zeitpunkt durch das Anmeldeformular klickt. Und die Nachfrage übersteigt die verfügbaren Termine erheblich. Manche versuchen monatelang vergebens, einen zu buchen. 

Max und Dmitrii waren zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Migration, das ist immer auch ein Glücksspiel. In Tijuana strandeten sie zwar zunächst in einer Notunterkunft, ihnen war das Geld ausgegangen. Aber weil die App noch nicht überlastet war, hatten sie schon nach drei Wochen ihren Termin. Max sagt, beim Anblick des Grenzzauns und der amerikanischen Flagge habe er sich ein bisschen gefühlt wie in einer Netflix-Show. So surreal sei es für ihn gewesen, in diesem Land zu sein. Fast alles, was er darüber weiß, kennt er aus amerikanischen Filmen und Serien. 

Am Abend des 1. Februar 2023 kamen sie in Los Angeles an. Jetzt warten sie darauf, dass ihr Asylantrag bearbeitet wird. Nicht selten dauert das Verfahren bis zu vier Jahre und umfasst mehrere Anhörungen. Arbeiten dürfen Geflüchtete vorerst nicht; sie sind also auf die Unterstützung von Hilfsorganisationen, wohltätigen Vereinen und sozialen Wohnprojekten angewiesen. „Ich habe von Amerika viel weniger Hilfe erwartet, als wir tatsächlich bekommen haben“, sagt Dmitrii. „Die russische Propaganda behauptet, dass Amerikaner sich nur um sich selbst kümmern und die Russen nicht mögen.“ 

Tatsächlich aber haben sie als Russen überdurchschnittlich hohe Erfolgschancen. 2023 fielen sechzig Prozent der entschiedenen Anträge auf Asyl positiv aus – besser als bei Antragstellern aus den meisten anderen Ländern. Zum Vergleich: Die Chance für Asylsuchende, die aus Guatemala vor Korruption, Bandenkriminalität und Armut in die USA flüchten, liegt bei acht Prozent. Den amerikanischen Traum dürfen eben nicht alle träumen. Und selbst wenn Amerikaner die Russen wirklich nicht so sehr mögen: Menschen mit nichtweißer Hautfarbe mögen sie noch weniger. 

Max und Dmitrii wollen bald heiraten, vielleicht schon dieses Jahr. Bis dahin lernt Max Englisch. Er will weiterstudieren. Am besten, sagt er, gefalle ihm in den USA, dass er weniger darüber nachdenken müsse, was andere Leute denken. Er hat sich Ohrlöcher stechen lassen und angefangen, Make-up zu tragen. Dmitrii sagt, der Max, den er in Russland kennengelernt habe, und der Max jetzt, das seien zwei verschiedene Menschen. Er selbst träumt davon, bald arbeiten zu dürfen. Derweil macht er sich anderweitig nützlich: 

In Chatgruppen hilft Dmitrii anderen russischsprachigen LGBTQ-Flüchtlingen auf der mexikanischen Seite der Grenze. Denn sie werden immer mehr. 

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