Junge, Junge
Über ein Kind, dessen Pflegefamilie kurz vorm Durchdrehen ist
Von Oliver Gehrs; Illustrationen: Sebastian Haslauer
Irgendwann kriegt man richtig Angst vor Luka.
Es heißt, er habe eine Tür eingetreten, um an sein Handy zu kommen.
Er habe seine Mutter körperlich bedrängt und fettes Schwein genannt.
Er habe ein viel jüngeres Nachbarmädchen aufgefordert, sich auszuziehen.
In seiner Schule hätten die Kinder abgestimmt und alle seien dafür gewesen, dass er die Klasse verlässt.
Weil er sich an keinerlei Regeln halte – nie.
Und dann holt man ihn ab in der psychologischen Tagesklinik, wo er bis 15 Uhr lernt und mit Therapeuten spricht, weil es die Lehrer und Mitschüler in der Schule nicht mehr mit ihm aushalten. Weil er im Unterricht laut und unkonzentriert ist, auch schon mal aus dem Raum geht und alle ständig provoziert.
Bevor er aus dem Klinikgebäude tritt, nimmt Luka noch schnell sein Handy in Empfang, das den Vormittag über weggeschlossen war. Er kann einen daher nur ganz kurz begrüßen, denn erstmal muss alles auf dem i-Phone gecheckt werden: etliche Whatsapp-Nachrichten und einige auf Snapchat, dann viele neue Videos auf YouTube und Instagram. Seine Freundin, die er in einem Feriencamp kennengelernt hat und die in einer anderen Stadt wohnt, will auch noch unbedingt mit ihm telefonieren, ist wichtig. Nur soviel: Sie hat irre Augenringe und ein neues bauchfreies Oberteil.
Luka betreibt jetzt also das berühmte Multitasking: Auf dem Weg zur Dönerbude zeigt er noch ein paar Filmchen auf TikTok. Ein junger türkischer Mann macht sexistische Witze („Die Uschi hat ´ne große …“), und eine koreanische Turnerin bricht sich nach einem Salto beide Beine. Zumindest sieht es so aus. „Kann aber auch KI sein“, sagt Luka. Ach guck mal, hier ist noch ein Video; darin steht ein blitzblanker BMW sehr stylish in einer leeren Parkgarage herum. Die Kamera fährt um das Auto, mal ganz nah, dann entfernt sie sich wieder. Im Hintergrund pumpen Beats. Jetzt tanzt die Kamera mit dem Wagen, am Schluss scheint sie durch das Cockpit zu fliegen, Close-ups von Tacho und Touchscreen. Ein neuer Clip von BMW? „Nee, hab´ ich mit der Drone gemacht“, sagt Luka.
Überhaupt Autos. Auf dem Weg zum Imbiss zeigt Luka auf einen rot-goldenen Maybach, der hier in Hamburg-Eppendorf am Straßenrand steht. „Schon geil, aber leider nicht der ganz neue“, sagt er, der Fachmann. Und der schwarze Mercedes-Van dahinter? „Mag ich total, vor allem in der AMG-Linie. Aber die Felgen sind die falschen. Peinlich.“ Luka erzählt dann noch vom neuen Airbus, der richtig weit fliegen kann, obwohl er gar nicht besonders groß ist – „wegen der neuen Turbinen von Roll´s Royce, die sind sparsamer.“
Kurze innere Zwischenfrage nach so viel Technik-Knowhow und bevor die Döner kommen (für ihn mit allen Saucen außer scharf): Kann man Luka vielleicht irgendwo anders unterbringen als in der Tagesklinik? Zum Beispiel in der Entwicklungsabteilung eines Start-ups, wo man dringend ADHSler braucht, um die Welt noch i-phoniger zu machen. Geht leider nicht, denn Luka ist erst 13.
Für sein Alter beschäftigt sich Luka schon mit ziemlich vielem, aber man muss auch sagen: Mit ihm beschäftigen sich auch ziemlich viele. Psychologen, Jugendämter, Ärztinnen, Ergotherapeuten, Sozialarbeiterinnen und natürlich in erster Linie, quasi an vorderster Luka-Front: seine Pflegeeltern Marc und Tina. Sie haben mittlerweile komplett graue Haare (Marc), ein wenig Kummerspeck (Tina) und einen ganzen Ordner mit „fachärztlichen Stellungnahmen“ und „Entwicklungsberichten“. Auf Hunderten Seiten wird Luka als Kind beschrieben wird, das nur wenig Impulskontrolle hat und kaum Frustrationstoleranz, das sich nichts vorschreiben lassen will und ständig fordert. Vor allem aber: Luka braucht sehr viel Aufmerksamkeit, will immer im Mittelpunkt stehen. Daher wohl auch seine krassen Aktionen. Eltern beschimpfen, Lehrer nachäffen, Mitschülerinnen beleidigen.
Warum ist Luka so? Was ist in den ersten zweieinhalb Monaten seines Lebens passiert, die er nicht bei ihnen war?
Luka kam schon als Säugling zu Marc und Tina. Seitdem versuchen sie alles, damit aus ihm ein empathischer Mensch wird, fragen sich aber angesichts andauernder Erfolglosigkeit auch: Warum ist Luka so? Was ist in den ersten zweieinhalb Monaten seines Lebens passiert, die er nicht bei uns war?
Tina sitzt auf einem sehr großen, weißen Ledersofa in einer sehr großen Dachgeschosswohnung. Sie ist eher klein, voller Energie und wenn sie von ihrem Pflegesohn spricht, wird sie gleich noch energischer. Denn mal ehrlich, wo soll sie da anfangen?
Vielleicht damit, als sie ihn zum ersten Mal sah – ein kleines Bündel mit dunklen Haaren auf dem Arm einer Kurzzeitpflegerin. Tina, die damals Mitte vierzig war, und ihr um neun Jahre jüngerer Mann Marc hatten sich so sehr ein gemeinsames Kind gewünscht, aber irgendwie hatte es nicht geklappt. Sie erkundigten sich schließlich beim Amt nach der Möglichkeit eines Pflegekindes und bekamen erstmal einen Vordruck mit vielen Fragen:
Können Sie damit leben, wenn die leiblichen Eltern im Knast sind?
Würden Sie auch ein blindes Kind aufnehmen?
Eins mit Behinderung?
Schwierige Themen allesamt, wie überhaupt der ganze Prozess, ein Pflegekind zu bekommen: deutsche Bürokratie at it´s best. Aber in diesem Fall vielleicht auch mal vertretbar, denn es gibt genügend Pflegeeltern, die Kinder nur aufnehmen, damit ihr Haushaltseinkommen steigt. Das war bei Tina und Marc anders. Die beiden waren wie geschaffen für ein Pflegekind: gut situiert, ineinander verliebt und bereit, diese Liebe an einen kleinen Menschen weiterzugeben.
Nach einigen Monaten bekamen sie dann einen Anruf. Da sei ein Baby von seiner rumänischen Mutter mit nur zweieinhalb Monaten im Krankenhaus abgegeben worden, weil sie es mit ihrem Leben, das sich vor allem nachts abzuspielen schien, nicht vereinen konnte.
Das Jugendamt versuchte, den Kontakt zur Mutter nicht abbrechen zu lassen, das Familiengericht entzog ihr dann aber doch das Sorgerecht. Der Säugling war derweil vom Krankenhaus in eine Kurzzeitpflege gekommen, wo ihn – inzwischen siebeneinhalb Monate alt – Tina und Marc kennenlernen durften. Erst bei kurzen Besuchen, die dann immer länger und intensiver wurden, bis sie ihn schließlich ganz zu sich nehmen durften.
„Wenn ein Neugeborenes schreit, und es kommt keiner, dann gräbt sich das tief in das Gefühl des Kindes ein“, sagt die Ärztin und Pädagogin Dr. Bettina Bonus, die sich mit Pflege- und Adoptivkindern beschäftigt. Solche Kinder hätten zwar häufig eine für sie existenzielle Bedrohung überlebt, aber die Ohnmachtsgefühle würden oft bleiben. Ein später aggressives Kind, das alle Regeln verletze, versuche, diese Ohnmacht zu bewältigen, so Dr. Bonus. Nicht, weil es bösartig sei, sondern aus einer tiefen seelischen Not heraus
Luka habe von Anfang an sehr viel geschrien, sagt Tina, beruhigen ließ er sich nur schwer, wenn überhaupt, dann von Marc. Auf den war er so fixiert, dass Marc keine ruhige Minute hatte, selbst auf die Toilette gehen konnte er nicht ohne das Baby. Das änderte sich erst, als Tina überraschenderweise doch noch schwanger wurde und Luka mit anderthalb Jahren einen kleinen Bruder bekam. Plötzlich konzentrierte er sich voll auf Tina, wollte von ihr genauso viel Zuwendung wie das Neugeborene. „Vielleicht war das für ihn so, als ob er zum zweiten Mal seine Mutter verlor“, sagt Tina heute.
Von da an seien die Probleme immer größer geworden. Luka habe sich auf seinen kleinen Bruder geworfen, ihn gebissen und gekniffen. Auf dem Spielplatz habe er fremde Kinder entweder geküsst oder ihnen das Spielzeug weggenommen. Einmal schrie er so lange, dass er in eine Schreiambulanz musste, weil Tina und Marc nicht mehr weiter wussten. Wenn er spielte, dann alle zwei Minuten mit etwas anderem, bis wirklich alles aus den Regalen auf dem Boden lag. Schon seit der Grundschule gelang es weder Lehrern noch Mitschülern, an ihn ranzukommen. Freunde? Eher nicht. Wer Luka einmal zum Geburtstag eingeladen habe, tat das kein zweites Mal.
Natürlich sind Tina und Marc mit ihm zu Therapeuten gegangen, immer und immer wieder.
Natürlich bekam er Medikamente gegen ADHS.
Natürlich haben sie sich gefragt, was in zweieinhalb Monaten nach Lukas Geburt passiert ist. Lag er irgendwo schreiend herum, ohne dass sich jemand gekümmert hätte? War seine Mutter drogenabhängig, eine Prostituierte? Hat sie während der Schwangerschaft Alkohol getrunken? Wo kommt ihre Familie her? Ist sein Verhalten genetisch zu erklären?
Tina und Marc haben versucht, mehr über Lukas erste Lebensmonate zu erfahren. „Biografiearbeit“ heißt das im Kinderpsychologen-Jargon, aber: Das Jugendamt rückt bis heute nichts raus. Schutz der leiblichen Mutter heißt es. Der Schutz der Pflegeeltern scheint weniger wichtig.
An der X-Box spielt er lieber einen Bus-Simulator als – wie die meisten Gleichaltrigen – irgendwelche Ballerspiele. Lieber will er gemütlich mit dem Flixbus durch Europa cruisen als im virtuellen Raum Menschen abschießen
Als Luka größer wurde, wurde das Schreien weniger, aber nun zeigte er andere problematische Verhaltensweisen. Zuerst setzte die Beschimpfungsphase ein, sagt Tina, später kam die Klau- und Lügenphase hinzu. Luka fing an, seinem Bruder Klamotten wegzunehmen, auch Geld und überhaupt Sachen, die man verkaufen kann. Wenn sie ihn zur Rede stellten, fand er das eher lustig. Erklären konnte er sein Handeln nie. Sie installierten an den Türen Zahlenschlösser, aber auch das hielt Luka nicht auf. Als er mal wieder an sein Handy wollte, brach er die Tür einfach auf, da war gerade der Familientherapeut bei ihnen.
Überhaupt das Handy: allergrößtes Reizthema. Marc und Tina wollen – wie viele Eltern – nicht, dass Luka den ganzen Tag am i-Phone hängt. Doch Grenzen zu ziehen, fällt ja schon bei Kindern schwer, die als normal gelten, weswegen viele Eltern resignieren. So einfach wollen es sich Marc und Tina nicht machen – doch Luka etwas wegzunehmen, das wie geschaffen ist für Kinder mit Hang zum Kontrollverlust, gleicht einer titanischen Aufgabe. Daher gibt es jeden Tag Streit und endlose Diskussionen: Erst wirft man sich Schimpfworte an den Kopf, dann knallen Türen, dann folgen Tränen. Wirklich jeden Tag.
Aktuell gibt es (mal wieder) eine Art Vertrag, der genau regelt, wann Luka sein Handy benutzen darf. Nämlich unter der Woche nach der Tagesklinik bis halb neun, am Wochenende sogar bis halb zehn – aber nur, „wenn keine roten Linien“ überschritten werden. Rote Linien sind „keine körperlichen und verbalen Aggressionen gegenüber Familienmitgliedern“ und dass Luka keinem in der Familie „etwas wegnimmt“. Eigentlich zwei selbstverständliche Dinge, aber die Vereinbarung ist ebenso fragil wie es Koalitionsverträge sein können. Immerhin hat Luka feierlich unterschrieben. Und nun liegt der „Vertrag“ sehr ordentlich in einer Vitrine seines Kinderzimmers.
Tatsächlich gibt es auch einen anderen Luka. Keinen, der herumwütet, der seinen Bruder nervt, in dem er immer mit ihm kuscheln will, obwohl der das mit nun zwölf Jahren nicht mehr will. Der seine Pflegemutter nicht beschimpft oder ihr – natürlich ganz aus Versehen – auf den Fuß tritt.
Dieser Luka sitzt auf dem Sofa und schaut sich völlig versunken die Babybilder von seinem jüngeren Bruder an. Dieser Luka lässt sich von seiner Pflegemutter immer wieder erzählen, wie schön es war, als sie ihn das erste Mal sah. Dieser Junge legt sich zu ihr ins Bett, legt den Kopf an ihren Po und lässt sich von ihr massieren. Dieser Junge lässt seinen Dampf nicht zu Hause ab, sondern im Boxsportverein, wo er sich laut Trainer verantwortungsbewusst auch mal um die Kleineren kümmere.
Dieser Luka kann stundenlang mit dem Bus oder der U-Bahn fahren, weil er dort ganz bei sich ist: wenn der Bus ruckelt, wenn die U-Bahn-Türen mit einem Piepen öffnen und schließen, wenn die S-Bahn beschleunigt und abbremst. Als er noch ziemlich klein war, ist Marc jeden Sonntag ganz früh mit ihm eine Stunde lang Bus durch Hamburg gefahren – weil es ihm so gut gefiel, aber auch, damit die anderen mal ausschlafen konnten und nicht von Luka geweckt wurden. Noch heute spielt Luka an der X-Box lieber einen Bus-Simulator als – wie die meisten Gleichaltrigen – irgendwelche Ballerspiele. Lieber will er gemütlich mit dem Flixbus durch Europa cruisen als im virtuellen Raum Menschen abschießen.
Klingt doch alles gut, klingt doch nicht so, als sei alles verloren.
Ist aber leider nur ein kleiner Ausschnitt im Leben eines, Vorsicht Modewort: Systemsprengers.
In Wirklichkeit sind die Pflegeltern ziemlich am Ende ihrer Kräfte, man kann auch sagen: seelisch wundgerieben. Marc noch ein bisschen mehr als Tina. Dabei könnte das Leben so schön sein. Tina ist jetzt 59, Marc 50, beide wirken aber wie dynamische Mittvierziger. Sie haben sichere und gut bezahlte Jobs in der Finanzwirtschaft, die sie auch oft von zu Hause aus erledigen. Anders könnten sie die zig Therapien und Gespräche mit den Lehrern auch gar nicht in ihrem Alltag unterbringen. Aber: die große Dachgeschosswohnung, die beiden Autos, die drei Urlaube im Jahr, was nutzt das alles, wenn der Traum vom schönen Familienleben jeden Morgen schon vor sieben endet – wenn Luka eskalationsbereit aus dem Bett springt.
Marc, eigentlich eher der Typ in sich ruhender Sportsfreund, scheint sich mittlerweile in einer Art innerer Immigration zu befinden. Wenn ihn Luka mal wieder einen langweiligen alten Mann mit grauen Haaren nennt, der nichts kapiere, hört er gar nicht mehr hin. Er schimpft auch nie zurück wie Tina, und zeigt auch sonst weniger Emotion. „Ich hätte es nie für möglich gehalten, aber mittlerweile kann ich mir auch vorstellen, ohne Luka zu leben“, sagt er. Er habe ihn sehr lieb, aber so könne es nicht weitergehen, das sei kein Familienleben. „Nur möchte ich nicht, dass er auf der Straße landet“.
Tina kämpft noch, wohl weil sie es nicht anders kennt. Sie ist keine, die aufgibt, hat sie nie getan. In einem der vielen familientherapeutischen Gutachten steht, dass ihre Beziehung zu Luka bereits „sado-masochistische Züge“ annimmt. Sie mit ihrem sturen Glauben, ihm ihre Wertvorstellungen doch noch nahe bringen zu können, er zunehmend mit dem Verhalten eines Liebhabers ihr gegenüber, der sich von seiner Frau mal verschmäht, mal angezogen fühlt. Tatsächlich hat Luka Tina schon mit zehn Jahren gefragt, welche Stellung ihre liebste sei. Fazit der Therapeuten: Sie müsste mal lockerlassen und Marc übernehmen lassen. Aber, wie schon gesagt: Marc kann leider nicht mehr.
Es gibt natürlich auch Ratschläge von außen, von den wenigen Freunden, die sie noch haben. Gebt ihn doch endlich weg, sagen die einen, es reiche doch jetzt wirklich. Sie hätten doch alles versucht. Andere empfehlen: Lasst ihn doch einfach machen. Lasst ihn doch vorm Smartphone oder der Playstation vergammeln. Ein ähnlicher Tipp kam neulich auch vom Jugendamt. Tina und Marc sollten sich doch mal zurücklehnen und Luka eine Zeit lang nicht mit Regeln kommen – und gucken, was passiert. „Paradoxe Intervention“
heißt das im Jugendamtssprech. Haben die beiden dann tatsächlich brav versucht.
Und was passierte?
Am ersten Abend kam Luka gar nicht mehr nach Hause, oder sagen wir: für einen Dreizehnjährigen sehr spät.
Am zweiten Tag fing er an, Vapes zu rauchen und sie an andere Kinder zu verkaufen.
Am dritten Tag rief abends die Polizei an, man könne Luka bei Karstadt abholen, da habe er ein Ladekabel fürs iPhone geklaut.
Die „Paradoxe Intervention“ lief also suboptimal.
Die Ratlosigkeit bei Tina und Marc ist nun so groß wie nie. In ein paar Wochen kommt Luka aus der Tagesklinik, was familienintern als seine „letzte Chance auf Veränderung“ gilt. Dann brauchen sie wahrscheinlich eine neue Schule, in der alten geht es nicht mehr weiter, sie wollen Luka dort nicht mehr. Ein neuer Sportverein wäre auch gut, mit dem Boxen hat Luka leider aufgehört, nachdem sich seine Peergroup im Verein aufgelöst hat. Leichtathletik wäre vielleicht was. Laufen bis zum Umfallen – oder wenigstens, bis er keine Kraft mehr hat, andere zu nerven.
Pflegevater Marc bekam prompt einen Anruf, dass er Luka sofort abholen müsse, sonst übernehme das die Polizei. „So viele Mädchen“, sagt Luka rückblickend, „ist doch klar, wenn die Jungs rübergehen.“
Nochmal zurück zu Luka: Er zeigt jetzt Videos von einem Musikfestival, backstage. Einer vom Jugendamt habe ihn mitgenommen, weil er wusste, dass sich Luka für Tontechnik interessiert und zu Hause mit Technobeats herumexperimentiert. Die wummern jetzt aus seinem i-Phone, auf dem schon wieder ein neues Filmchen läuft. Großer Kameraschwenk über das tanzende Publikum, dann Zoom auf die Lasershow am Sommerhimmel. Von ihm? Na klar, sagt Luka.
Es piept. Ein Mädchen schickt eine Nachricht. Nicht seine Freundin, sondern eine Vierzehnjährige, mit der er vergangene Woche im Ferien-Camp in Schleswig-Holstein war – zum Segeln und Englischlernen. Dreizehn Mädchen waren da und nur zwei Jungen, wobei – vielleicht in diesem Zusammenhang nicht unerheblich – Luka mit seinem dunklen Oberlippenflaum und der Zahnspange deutlich älter als dreizehn aussieht.
Die Kids benannten sich im Camp nach Küchengeräten – Luka war „the knife“. Und wenn „the knife“ nachts zu den Mädchen kam, gab es natürlich ein großes Hallo, aber eben auch großen Ärger mit den Betreuern. Pflegevater Marc bekam prompt einen Anruf, dass er Luka sofort abholen müsse, sonst übernehme das die Polizei. „So viele Mädchen“, sagt Luka rückblickend, „ist doch klar, wenn die Jungs rübergehen.“ Auch wieder wahr.
Aber, oh boy: Ein paar Regeln müssen doch sein. Sonst klappt doch nix. Kein Unterricht, kein Miteinander, kein Familienleben. Warum bloß macht er es sich selbst so schwer? Und allen anderen?
Warum kann er nicht verstehen, dass seine Pflegeeltern nicht wollen, dass er den ganzen Tag vor dem Handy herumhängt? Warum nicht, dass es die alte Frau im dritten Stock nervt, wenn er zwei Stockwerke über ihr die Musik so laut macht, dass die Wände wackeln?
„Man will mir alles verbieten, was mir Spaß macht. WEIL es mir Spaß macht.“ So sieht er das. Normaler Denkfehler eines Frühpubertisten, könnte man denken. Aber so einfach ist es bei Luka leider nicht.
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