Im Sog
Wie fühlt es sich an, wenn man die Nerven verliert? Unser Autor leidet seit mehr als einem Jahr an einer schweren Depression – und fragt sich immer wieder, warum er eigentlich noch am Leben ist
Von Bruno Track
Wenn es kommt, fühlt es sich so an, als wäre mein Leben eine Brausetablette, die sich langsam in einem Glas Wasser auflöst und nichts übrig lässt außer einem bitteren Beigeschmack.
Wenn es kommt, dann bin ich felsenfest davon überzeugt, dass meine gesamte Existenz ein einziger schlechter Witz ist, über den niemand lachen kann.
Wenn es kommt, dann fühle ich mich wie ein Versager. Wie ein erbärmlicher Verlierer, der im großen Jump’n’run-Spiel des Lebens nach den ersten Leveln in den Abgrund gestürzt ist und keine Herzen mehr übrig hat. Game over. Und keine Reset-Taste.
Wenn es kommt, wird mein Körper schwer und meine Bewegungen zähflüssig, als bestünde ich nicht aus Fleisch und Knochen, sondern aus einer harzigen Masse, die nach verpassten Chancen und Perspektivlosigkeit stinkt.
Wenn es da ist, wenn ich die Nerven verliere, dann erscheinen mir heiße Duschen und sinnlose Masturbation als einzige Möglichkeiten, wenigstens für ein paar Minuten dem Horror meines Seins zu entfliehen.
Ich bin jetzt 40 Jahre alt. Und seit mehr als zwölf Monaten gefangen in mir selbst, eingesperrt und regelmäßig gefoltert von einer Krankheit, die mit der lapidaren Bezeichnung „schwere Depression“ nicht mal ansatzweise die Detailtiefe beschreibt, mit der sich dieses Monster in meinen Kopf und meine Seele gefressen hat. Wenn es da ist, so wie jetzt, dann erscheint alles wie eine einzige große Tragödie.
Immerhin: Ich habe sehr viel gelernt im vergangenen Jahr. Ich weiß jetzt, was es für Spätfolgen haben kann, wenn sowohl die Mutter als auch der Vater depressiv sind oder waren. Ich kann inzwischen ziemlich gut nachvollziehen, warum ich es nie geschafft habe, dauerhaft in meinen Beziehungen glücklich zu sein, warum ich es stattdessen geschafft habe, dass am Ende alle unglücklich waren. Es ist nicht gerade förderlich, in einer Familie aufzuwachsen, in der Mama und Papa unzufrieden mit sich und dem Leben sind, das sie gemeinsam führen. Und nach Jahren der heftigen Konflikte eine Trennung vollziehen, die auch fast 25 Jahre später nicht überwunden ist. Ich habe verstanden, dass es nicht gesund war, als Teenager zu glauben, den Vaterersatz für meine beiden traurigen Geschwister und den Partnerersatz für meine verzweifelte Mutter mimen zu müssen. Ich kenne jetzt die Stärken, vor allem aber die Schwächen meiner Eltern. Und ich würde meine Wut, meinen Frust, mein Nicht-Akzeptieren dieser Ungerechtigkeiten während meines Heranwachsens gern herausschreien, sie in diese Zeilen kotzen, jeden Buchstaben mit der geballten Faust in die Tastatur schlagen. Aber ich tue es nicht. Weil es mir nicht richtig vorkommt.
Vor vier Jahren hat sich mein Vater von uns Kindern verabschiedet. Er ist nicht etwa gestorben, er will nur einfach keinen Kontakt mehr
Wenn es kommt, dann denke ich, dass ich der schlechteste Autor dieses Planeten bin. Dann frage ich mich, warum ausgerechnet ich auf die Idee gekommen bin, damit mein Geld zu verdienen.
Wenn es kommt, dann glaube ich, dass ich keine Freunde habe. Und sage gleichzeitig Termine mit meinen Freunden ab und antworte nicht auf Nachrichten, weil ich mich stattdessen lieber in meinem Schlammloch aus hilfloser Verzweiflung, quälendem Selbsthass und groteskem Selbstmitleid suhle.
Wenn es kommt, dann sehe ich keine Hoffnung mehr. Und das Licht am Ende des Tunnels entpuppt sich als heranrasender Zug, vollbeladen mit all meinen Fehlern und falschen Entscheidungen, den zerbrochenen Beziehungen, den Dingen, die ich nie getan oder erlebt oder erschaffen habe, weil ich dafür zu feige oder zu bequem oder beides war. Ein Zug, bereit, mich zu zermalmen.
Wenn es da ist, habe ich schon oft an Suizid gedacht. Habe im Internet nach den sanftesten Selbsttötungsmethoden gesucht. Und die Gedanken dann doch wieder verworfen. Nicht weil mir mein Leben als ausreichend wertvoll erschien. Sondern weil ich das meiner Familie und meinen Freunden nicht antun möchte.
Depressionen können durch traumatische Erlebnisse ausgelöst werden. Das Ende einer Beziehung. Oder der Verlust eines geliebten Menschen. Vor knapp vier Jahren hat sich mein Vater von uns Kindern verabschiedet. Er ließ uns das über eine E-Mail und SMS-Nachrichten seiner neuen Frau wissen. Er sei psychisch erkrankt und benötige nun dringend Abstand von uns. Ich habe das bis heute nicht ganz verstanden, auch weil der Kontakt zu ihm und speziell seiner Frau schon immer recht kompliziert war, um es vorsichtig auszudrücken. Weil meine Schwester Angst davor hatte, dass sich unser Vater etwas antun könne, schlichen wir damals gemeinsam über einen Feldweg, um in der Nähe seines Hauses einen Blick auf ihn zu erhaschen. Niemand wird verstehen, warum wir nicht einfach an seiner Haustür geklingelt haben. Wir verstehen es selbst nicht.
In den vergangenen vier Jahren habe ich meinen Vater nur wenige Male gesehen. Einmal bei seinem Therapeuten, was darin gipfelte, dass er mir mit zitterndem Gesicht und auf mich gerichtetem Zeigefinger mitteilte, dass er sich, wenn er wählen müsste, für seine Frau und gegen seine Kinder entscheiden würde. Allerdings habe ich nie eine solche Entscheidung gefordert. Ein andermal saß er in meinem Büro. Ich wollte mit ihm brechen, um mich so von der ganzen Scheiße zu befreien, die er und seine Krankheit mir aufgeladen hatten. Und vorher wollte ich ihm meine Meinung sagen. Nach zwanzig Minuten stand er auf und ging. Ein sichtlich gealterter, gebrochener Vater. Mit einem sichtlich gealterten, gebrochenen Sohn. Wenige Wochen bevor ich diesen Text schrieb, hatte er mir ein Paket mit alten Alben und Kinderfotos von uns zugeschickt. Er hat sie aussortiert wie alte Schallplatten. Und doch will ich immer noch versuchen zu verstehen. Ihn, seine Krankheit. Weil es mir sinnvoller erscheint, als meinen Vater zu hassen.
Heute will die Frau, die in mir mal die große Liebe ihres Lebens sah, nichts mehr von mir wissen
Vor zwei Jahren habe ich mich von meiner Frau getrennt. Während unserer Beziehung bin ich regelmäßig fremdgegangen. Als das herauskam, haben wir es noch einmal versucht. Fast zwei Jahre lang. Dann bin ich gegangen, weil ich es nicht mehr ausgehalten habe. Während sie geweint hat, bin ich mit dem Fahrrad und einer großen Tasche auf dem Rücken weggefahren. Ich fühlte mich befreit wie seit Jahren nicht mehr. Kurz darauf fing ich wieder an zu kiffen und zu tindern. Nur drei Wochen später war ich neu verknallt. Mit dieser Frau bin ich auf einer rosaroten Wolke aus Hanf und Sex und großen Gefühlen so hoch geflogen, dass mir irgendwann die Flügel abgefackelt sind. Auf meinem Sinkflug habe ich feststellen müssen, dass die großen Gefühle abhandengekommen waren. Das hat mir den Rest gegeben. Und ihr irgendwann auch. Heute will diese Frau, die in mir mal die große Liebe ihres Lebens sah, nichts mehr von mir wissen.
Im Januar vor einem Jahr hat sich mein bester Freund das Leben genommen. Fünf Jahre zuvor war er innerhalb von wenigen Monaten in einer psychiatrischen Klinik gelandet, in der letzten Nacht vor seiner Entlassung hatte er sich in seiner Angst und Verzweiflung dazu entschlossen, aus dem Fenster seines Zimmers im zweiten Stock zu springen. In den fünf Jahren nach diesem Sprung hat er ein physisches Wunder vollbracht und wieder laufen gelernt. Daran hat er mich und uns teilhaben lassen. Nicht aber an der Brüchigkeit seiner Psyche. Am 17. Januar 2023 ist er in sein Auto gestiegen und hat auf freier Strecke einen Unfall gebaut. Er starb an den Folgen seiner Verletzungen. Kurz dachten wir tatsächlich an einen Unfall. Dann wurden Abschiedsbriefe gefunden. Mir hat er keinen geschrieben. Von mir hat er sich nicht verabschiedet. Das zu schreiben, mir darüber Gedanken zu machen, tut so weh, wie ich mich dafür schäme, so egoistisch zu denken.
Wenn es kommt, dann fühle ich mich wie der einsamste Mensch der Welt. Dann frage ich mich, warum ich keine eigene Familie habe, keine feste Clique, keinen Freundeskreis, mit dem ich regelmäßig in den Urlaub fahre.
Wenn es kommt, sehe ich bei Instagram oder X nur berufliche und private Erfolgsgeschichten und schreie innerlich vor Schmerz, weil ich so ein Loser bin.
Wenn es kommt, bin ich taub und blind für Menschen, die ich eigentlich gernhabe. Bin ich zerfressen von Neid und Missgunst, als ob ich so etwas wie Mitgefühl oder Freude für andere nie gekannt habe.
Wenn es kommt, denke ich daran, was ich alles nicht schaffe. Eine Familie haben. Eine Familie ernähren. Ein Haus bauen. Ein Haus finanzieren. Ein Auto reparieren. Meine Unterlagen im Griff haben. Eine Party veranstalten. Auf Festivals gehen. Glücklich sein. Zufriedenheit spüren. Mit einem schönen Gefühl aufwachen. Sich stark fühlen. Emphatisch sein. Sich selbst verwirklichen. Abenteuer erleben. Zu wissen, was ich möchte. Zu wissen, wer ich bin. Mutig sein. Mich um die Altersvorsorge kümmern. Auf meine Gesundheit achten. Leidenschaft zu spüren. Leidenschaft zu leben. Zu lieben. Zu leben.
Wenn es kommt, weine ich und schlage meinen Kopf unter der Dusche gegen die Kacheln.
Wenn es kommt, ist das Leben nicht mehr lebenswert.
Wenn es da ist, fühlt sich jeder Tag so an, als müsste ich sterben.
Alles wird eins, und das schmeckt wie das Ende der Welt
Ich bin seit über einem Jahr in Therapie, zweimal die Woche Psychoanalyse. Ich nehme zwei verschiedene Antidepressiva. Ich war acht Wochen lang in einer Klinik. Ich habe mit dem Kiffen aufgehört und akzeptiert, dass ich eine Abhängigkeit entwickelt habe. Ich weiß jetzt, dass ich das Monster schon mein halbes Leben mit mir herumtrage, vielleicht sogar schon immer. Und dass dieses Monster nur darauf gewartet hat, auszubrechen, mich aufzubrechen, aus mir herausgewürgt zu werden, um meinen Geist und meine Seele mit einer Pampe aus Angst und Hass und Verzweiflung zu verkleben. Ich habe gelernt, dass mir dieses Monster beigebracht hat, mit einem inneren Baseballschläger all das zu zerschlagen, was andere im Laufe der Jahre behutsam aufbauen. Beziehungen. Lebensentwürfe. Freundschaften. Karrierepläne.
Wenn es da ist, dann will ich den Baseballschläger nehmen und mal wieder alles zerschlagen. Meinen Job. Meine neue Beziehung. Alles.
Meine neue Freundin hat mich inmitten der Scherbenhaufen meines Lebens kennengelernt. Ihr Leben ist stabil, sie ist stabil. Sie ist ein außergewöhnlicher Mensch. Mit einem depressiven Menschen im nahen Umfeld hatte sie bis dahin keine Erfahrungen. Jetzt ist sie eine Expertin darin, wie es ist, mit einem psychisch kranken Menschen zusammen zu sein. Ich habe sie gebeten, ihre Gedanken und Erfahrungen aufzuschreiben.
„Meine anfängliche Annahme, ich könne Sicherheit und Stabilität bieten, ein Rettungsanker sein, wie er immer sagte, ihm einfach zuhören, ihn aufbauen und da sein und die Depression dadurch wegzaubern, funktionierte nicht“, schreibt sie. „Naiv war das. Man fühlt sich zeitweise überfordert und unglücklich. Unglücklich, weil das dem Mann passiert, in den man sich verliebt hat, unglücklich darüber, dass man nicht helfen kann, wie man es möchte, und der andere leidet, unglücklich, weil man doch eigentlich mit diesem Mann diese wunderschöne verliebte Beziehung führen wollte, die man sich erhofft hat.“
Wenn es kommt, dann werte ich nicht nur mich, sondern auch die wichtigen Menschen in meinem Leben herab. Dann wird aus einer vermeintlich falschen Essgewohnheit ein triftiger Trennungsgrund. Sauge ich unbewusst das Selbstvertrauen aus einem Menschen, der mir sein Vertrauen geschenkt hat.
Diese Krankheit macht aus Sonne Dunkelheit und aus Freude Trauer. Sie überzieht alles Spannende und Schöne und Aufregende in dieser Welt mit einer monotonen Gleichgültigkeit, lässt Interesse, Spaß und Aufregung ausbleichen, sorgt dafür, dass die eigene Existenz zu einem kümmerlichen Istzustand verkommt und sich die Gedanken zwischen Sinnlosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Hadern mit der Vergangenheit und Angst abwechseln. Sie sorgt dafür, dass du nicht mehr unterscheiden kannst zwischen dem, was du bist und fühlst, und dem, was dich die Depression sein und fühlen lässt. Alles wird eins, und das schmeckt wie das Ende der Welt.
Aber noch bin ich hier. Und das werte ich als Erfolg. Noch habe ich alle Möglichkeiten. Sagt man mir jedenfalls, glauben tue ich es nicht. Irgendwann werde ich all den lieben Menschen ehrlich dafür danken können, dass sie mich nicht aufgegeben haben. Meiner Familie. Meinen Freunden. Meiner Freundin.
Irgendwann wird diese Krankheit meinen Geist verlassen. Wird sie meiner Seele wieder Luft zum Atmen geben. Sagt man mir jedenfalls.
Wenn es geht, dann ist der Mut zurück, tatsächlich auch daran zu glauben.
Wenn Sie darüber nachdenken, sich das Leben zu nehmen, oder gefährdete Menschen kennen, sollten Sie umgehend Hilfe in
Anspruch nehmen. Eine erste Anlaufstelle kann die kostenlose Telefonseelsorge sein. Sie erreichen sie rund um die Uhr unter: 0800 1110 111 oder 0800 1110 222