Ihr doof, wir gut
Unsere Gedanken zum neuen Heft kommen diesmal vom Filmregisseur Dietrich Brüggemann, der uns in einer Mail vorwarf, „herablassend und unterkomplex“ zu sein. Das wollten wir natürlich mal genauer wissen
Viele Jahre habe ich DUMMY gern gelesen. Deutsche Journalisten waren mir oft zu moralisierend und auf Zuspitzung bedacht, DUMMY war genau das nicht. Es war ein Spaziergang durch einen erstaunlichen Menschenzoo, durch eine Welt voller interessanter Phänomene, ohne Moral und ohne Zeigefinger. Dann aber schlich sich – vor allem in die Editorials – ein Ton ein, der mich irritierte. Da war genau dieses Zweiteilen der Menschheit in einen akzeptablen Teil und einen anderen, auf den man hinunterschaut und sich gleichzeitig gruselt.
Ist das nur so ein Gefühl? Oder kann ich das belegen? Ich will es zumindest versuchen. Nehmen wir mal das Heft 86 („Müde“). Dort steht: „Viele Menschen fühlen sich angesichts der großen Herausforderungen, vor denen unsere globalisierte Welt steht, einfach nur überfordert und erschöpft. Sie sehen im gesellschaftlichen Wandel eher Zumutung als Chance und sind bereit, die Demokratie herzuschenken und den schlichten Parolen rechter Populisten zu glauben. Gegen Wohnungsmangel helfen Abschiebungen, gegen den Klimawandel Atomkraftwerke, und die Wirtschaft kurbeln wir an, indem wir wieder Gas aus Russland beziehen und Frauen zurück in die Küche schicken. Natürlich möchte man da am liebsten die Augen schließen und diesen ganzen Irrsinn vergessen.“
Eine riesige Anhäufung schlichter Parolen, und so richtig diskursoffen) kann ich den Ton auch nicht finden
Mmmh. Es gibt da anscheinend eine Naturgewalt namens „gesellschaftlicher Wandel“. Die wird als bekannt vorausgesetzt. Dann gibt es viele Menschen, die sich damit überfordert sehen. Wer sind diese vielen Menschen? Vielleicht möchte der eine oder andere Leser hier die Hand heben und „Ich!“ rufen. Aber beim nächsten Satz wird er sich das anders überlegen, die Überforderten und Erschöpften wollen nämlich „die Demokratie herschenken“ und „schlichten Parolen“ glauben. Es folgt eine kurze Checkliste einiger Kernpositionen dieser Menschen: Abschiebungen, Atomkraftwerke, Gas aus Russland. Und abschließend wird der Wunsch formuliert, „diesen ganzen Irrsinn“ am liebsten zu vergessen. Es gibt also ein „Wir“, eine Gemeinschaft aus Schreiber und Leser, die „unsere globalisierte Welt“ aus der richtigen Perspektive sehen, und außerhalb dieses großen „Wir“ herrscht Irrsinn.
Ich habe bei diesen Zeilen erhebliche Bauchschmerzen, denn all das erscheint mir ironischerweise wie eine riesige Anhäufung schlichter Parolen, und so richtig demokratisch (sprich: diskursoffen) kann ich den Ton auch nicht finden. Im Gegenteil, er wirkt unangenehm autoritär, denn bei mir als Leser kommt an: Du denkst vielleicht insgeheim, Gas aus Russland wäre ganz gut und ein paar Abschiebungen mehr wären auch okay? Dann hast du den Boden der Demokratie im Grunde schon verlassen und bist Teil des Problems.
Wenn man aber die letzten Jahre nicht nur DUMMY gelesen hat, könnte einem aufgefallen sein, dass bei den genannten Themen durchaus kein breiter Konsens der Vernünftigen existiert, jenseits dessen es nur Irrsinn gibt. Ich bin nicht für Atomkraft, ich bin kein Fan von Putin, ich habe 2013, als noch niemand von Willkommenskultur sprach, warme Klamotten gesammelt und in Flüchtlingsunterkünfte gebracht – und trotzdem will ich mich der Möglichkeit öffnen, dass die Dinge sich entwickeln und ich auch mal falschliegen kann. Oder dass es zu einem Thema verschiedene Sichtweisen gibt, die einander widersprechen und trotzdem irgendwie stimmen. „Komplex“ heißt nämlich nicht „kompliziert“, sondern genau das. Was wäre denn, wenn Atomkraft – oh Gott! – wirklich besser wäre als ihr Ruf? Was wäre, wenn die Masseneinwanderung seit 2015 tatsächlich unterm Strich nicht so richtig gut gewesen wäre? Natürlich nicht für Journalisten aus der Mittelschicht, die sich bei dem Thema gern einen moralischen Heiligenschein aufsetzen, sondern für die unteren Bevölkerungsschichten (oft mit Migrationshintergrund), die sich dann mit ein paar Millionen Menschen mehr um Arbeitsplätze und Wohnraum kloppen müssen? Kann ich das von vornherein ausschließen?
All diese Standpunkte muss man nicht mögen, geschweige denn teilen, aber es sind legitime Positionen, mit denen man sich auseinandersetzen muss, auch wenn es wehtut. Einfach weil das demokratischer Alltag ist. Die Demokratie wird hier nicht „hergeschenkt“, sondern im Gegenteil genauso eingesetzt, wie sie gedacht ist. Natürlich ist es viel einfacher, sich und dem Leser auf die Schulter zu klopfen und zu sagen: Die sind doof, wir sind besser, doch mir erscheint das unterkomplex und herablassend, und damit schließt sich ein Kreis.
Die Haltung, mit der ein Magazin gemacht wird, zeigt sich im Editorial. Die Haltung, mit der DUMMY gemacht wird, zeigt sich aber auch darin, dass man mich gebeten hat, diesen Text zu schreiben. Da schließt sich auch ein Kreis, und vielleicht öffnet sich darüber hinaus ein neuer. Wer weiß.
Dietrich Brüggemann ist Filmregisseur und erhielt 2014 für den Spielfilm „Kreuzweg“ einen Silbernen Bären. Am Deutschen Theater inszenierte er 2017 den Monolog „Vater“, und als Musiker ist er Teil des Duos „Theodor Shitstorm“. Die von ihm mitinitiierte Corona-Protestaktion #allesdichtmachen sorgte im Jahr 2021 für Aufregung in der deutschen Öffentlichkeit.
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