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N° 84, Nerven

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Heute ein Häuptling

Mehr cultural appropriation geht eigentlich nicht – und dennoch handelt es sich bei den Indianisten aus dem wilden Osten um ein ziemlich nettes Völkchen

Oliver Gehrs

Ob Erich Honecker wirklich heimlich eine Lederjacke anzog und auf dem Klo West-Radio hörte, wie es ihm Udo Lindenberg in seinem Lied „Sonderzug nach Pankow“ unterstellte, mag man zu Recht bezweifeln. Mit dem Etikett „Oberindianer“ für den Staatsratsvorsitzenden aber hatte Lindenberg ins Schwarze getroffen. Denn unter den siebzehn Millionen DDR-Bürgern, die Häuptling Honi fremdbestimmen ließ, gab es Tausende, die mit Federschmuck und Wildlederwams dem tristen DDR-Alltag zu entkommen versuchten. Schon 1958 gründeten sich die ersten ostdeutschen „Stämme“ – zum Beispiel die „Interessensgemeinschaft der Mandan-Indianer“, deren Mitglieder sich bis heute in der Prärie rund um Leipzig zum Bogenschießen, Tanzen und Kochen über dem offenen Feuer treffen.

Waren die Ossis gar das verschollene Brudervolk?

Es gibt ja die dollsten Theorien, wenn es um den Eskapismus in der DDR-Diktatur geht – vom überbordenden Sexleben über den Boom der Freikörperkultur bis hin zum manischen Sammeln leerer West-Zigarettenpackungen –, beim Thema Indianerspiel drängt sich dieses Deutungsmuster allerdings besonders auf: Denn war die DDR nicht ebenfalls eine Art Reservat, bevölkert von Menschen, die von großer Freiheit allenfalls träumen konnten? Als geknechteter DDR-Mensch Verbundenheit und Solidarität mit anderen systemisch Unterdrückten aufzubringen war recht naheliegend. Manche, die besonders tief in die Mystik der American Natives abtauchten, vermuteten sogar, dass die Ostdeutschen das in manchen indianischen Legenden erwähnte weiße Brudervolk seien, das als verschollen gilt.

Adlerfedern von der Cröllwitzer Pute

Bis zur Wende entstanden im Osten Deutschlands mehr als fünfzig Gruppen, die sich in ihrer Freizeit dem Leben und der Kultur der nordamerikanischen Ureinwohner widmeten – und das mit unfassbarer Akribie. In stundenlanger Handarbeit wurden Perlen auf Hemden genäht, in Kursen Tanzrituale eingeübt und mangels echter Adlerfedern schon mal die schwarz-weiße Cröllwitzer Pute gerupft.
Zum Boom der indigenen Kultur dürften sowohl die in der DDR beliebten Bücher der Historikerin und Schriftstellerin Liselotte Welskopf-Henrich beigetragen haben als auch deren DEFA-Verfilmungen – darunter die erstaunlich komplexe Ethno-Schnulze „Die Söhne der Großen Bärin“ mit dem DDR-Star Gojko Mitić. Die Werke von Karl May wiederum, den schon die „Dresdner Volksstimme“ „als übelsten literarischen Giftmischer“ schmähte, waren vielen Indianistenfreunden zu schablonenhaft. Auch das zeigt: Die Indianistik ostdeutscher Prägung war in Sachen Ernsthaftigkeit der westdeutschen Winnetou-Welle bei weitem überlegen. Und während sich ahnungslose Hippies in der Bundesrepublik von Werbeagenturen ausgedachte Indianerweisheiten an den VW Bulli klebten („Erst wenn der letzte Baum gerodet …“), büffelte man im Osten indigene Dialekte, um aus Originalquellen Inspiration zu schöpfen.

Der Irokese als Bilderbuchsozialist

So viel Empathie für die vom Klassenfeind dezimierten Völker – das hätte eigentlich voll auf der Linie des Staatsapparates sein können. Doch stattdessen erkannte das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) selbst im folkloristischen Treiben Systemkritik und staatsfeindliche Bestrebungen. Menschen mit allzu großen Träumen und dem Wunsch, sich jenseits der DDR-Strukturen in großen Gruppen zusammenzutun, waren per se suspekt – zudem streuten fantasiebegabte Spitzel Gerüchte von Gruppensex beim Powwow. Da half den Indianistenfreunden nicht mal, dass einer der Säulenheiligen des Sozialismus schon früh die Irokesen zu vorbildlichen Sozialisten gekürt hatte. „Die Haushaltung ist kommunistisch, der Boden Stammbesitz“, so Friedrich Engels über die nordamerikanischen Ureinwohner.
Man sei ein „politisch unausgereifter und von Wunschvorstellungen geprägter Mensch“ – das lasen nach der Wende manche Indianisten in ihrer Stasiakte, die etwa „IM Inka“ anlegte, der einen Stamm im Zuge der „Operation Tomahawk“ unterwandert hatte. Selbst vor peinlichen Vorschlägen schreckte das MfS nicht zurück. Wie wäre es denn, so wurde manchem Häuptling hinterbracht, wenn man auf die Kostüme sibirischer Felljäger umstiege … Reichlich Mützen für diese Umerziehungsmaßnahme hätten die Russen liefern können.

Zu viel Staatskritik in der Schwitzhütte war nicht erwünscht

Die Stasi hatte die Gefahr, die von ihren Untertanen im Lendenschurz ausging, wieder mal maßlos überschätzt. Denn die meisten Indianisten waren vollends zufrieden, in den Great Plains von Thüringen oder Sachsen um das Lagerfeuer herumzutanzen. Ein Aufstand wurde nirgends geplant, der Checkpoint Charlie sollte nicht zum Wounded Knee des geteilten Deutschlands werden. Im Gegenteil: Zuweilen führte zu viel staatskritischer Defätismus zu deutlichen Verstimmungen bei den Reinigungsritualen in den Schwitzhütten. Dem Drang nach dem großen Ausbruch begegnete man mit schamanistischer Einkehr und Erleuchtung.
Auch deshalb war die Bewegung nicht obsolet, als die Wende kam. Man traf sich einfach weiter zu den Powwos oder zur einmal im Jahr in Ostdeutschland stattfindenden Indian Week mit bis zu 800 Teilnehmerinnen und Teilnehmern und 300 Tipis. Naturnähe, Zusammenhalt und Spiritismus – das alles half natürlich auch gegen den seelenlosen Turbokapitalismus. Die plötzliche Reisefreiheit nutzten manche für einen Trip zu den echten Indigenen, deren trister, von Armut und Alkoholismus geprägter Alltag dann manchem Heimkehrer den Spaß am Hobby verdarb.

Rauchsignale …

Kritisch beäugt werden die Indianisten heute nicht mehr von offiziellen Organen, dafür aber von Menschen, die in jedem Ausbruch aus der eigenen Kultur eine übergriffige Geste sehen. Die berühmt-berüchtigte cultural appropriation eben. Die hat manchen ostdeutschen Stamm vorsichtig werden lassen. Als Tanzeinlage zu Stadtfesten wird man eh schon länger nicht mehr eingeladen, und auch sonst wird der Rahmen der Treffen immer privater, bei der Indian Week sind Journalistinnen und Journalisten gar nicht erwünscht. Dass der Fotograf Jascha Fibich für seine Abschlussarbeit an der Bauhaus-Uni in Weimar überhaupt die Bilder auf diesen Seiten schießen konnte, verdankt er Freunden und Bekannten, die ihn mit der Szene vertraut machten und mit ins Tipi nahmen. Eine Woche lang lebte er im „Wilden Westen im Osten“, so der Titel seiner Fotoarbeit, in der Tracht eines Mohawk. Währenddessen konnte er beobachten, dass sich die Indianisten im Umgang mit der Kritik an ihrem Tun einen gewissen Stoizismus bewahrt haben, der schon im Umgang mit den Dogmatikern in der DDR gute Dienste geleistet hatte.

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