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N° 86, Müde

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Hasta la vista

Nach Jahrzehnten in den USA landen sie in einem Land, das ihre Heimat sein soll. Ohne Geld, ohne Unterkunft, ohne Plan, wie es weitergehen soll. Carlos Ruano weiß, wie das ist. Deshalb steht er jeden Tag am Flughafen von Guatemala-Stadt und hilft

Text und Fotos: Vanessa Leitschuh; erstmals veröffentlicht in DUMMY Nr. 80, „Brüche“, neu editiert 3/25

Die Warnweste gibt Sicherheit. Wenn du sie überstreifst, ist es, als würdest du deinem Gegenüber etwas von dem Druck auf seinen Schultern nehmen. Die Leute sehen die Weste und fühlen sich sicher. In einem Moment, in dem viele von ihnen genau das brauchen.

Carlos Ruano steht vor der Mauer, hinter der sich der Internationale Flughafen von Guatemala-Stadt erstreckt. Es ist ein Teil des Flughafens, den kein Tourist je zu Gesicht bekommt. Hier werden diejenigen ausgespuckt, deren Wege sich nicht mit denen der Reisenden kreuzen sollen. Denn hinter der Mauer liegt der „Salon für Migranten“, hier landen die Abschiebeflüge aus den USA oder Mexiko. Insgesamt fünfzehn in dieser Woche: zwölf aus den USA, drei aus Mexiko.

Hinter Carlos Ruano ziehen bunt bemalte Busse schwarze Rauchwolken hinter sich her. Die vierspurige Straße ähnelt einem Wimmelbild, überall Autos, Lärm, Abgase. Ein Krankenwagen hält, ein massives Tor öffnet sich. Carlos weiß, das bedeutet nichts Gutes. Er weiß, dass sich einige Menschen verletzen, wenn sie die Grenze überqueren, sie springen über Zäune, fallen von fahrenden Zügen. Letzte Woche hat er einen gesehen, der gerade seinen Arm verloren hatte.

Und obwohl hier vor der Mauer an der Avenida Hincapié in der 13. Zone von Guatemala-Stadt alles Schöne so weit weg scheint, sieht Carlos jeden Tag Momente des Glücks. Ein Bruder, der seine Schwester nach dreizehn Jahren in die Arme schließt. Eine Mutter, die nach der Hand ihres Sohnes greift. Tränen und Umarmungen, die nicht enden.

Es sind diese Momente, die ihn jeden Tag hierherkommen lassen. Und es ist die Erinnerung daran, wie er selbst vor zwei Jahren durch dieses Tor getreten ist. Sein erster Schritt in die Freiheit. Ein Schritt, den er nicht gewollt hatte.

Carlos Ruano (links) und Gustavo Juárez helfen einem Rückkehrer. Drei Jahre hat er in den USA als Dachdecker gearbeitet, dann wurde er dabei erwischt, wie er in der Öffentlichkeit Alkohol trank. Da er keine Papiere hatte, musste er das Land verlassen

Carlos Ruano war zehn Jahre alt, als er und sein Vater in einen Kleinbus gepfercht nach Norden fuhren. Seine Mutter lebte bereits in Los Angeles, nun sollten sie nachkommen, denn in ihrer Heimat Guatemala herrschte Bürgerkrieg. Fast zwei Wochen lang war der Bus ihr Zuhause, für sie und für dreißig, vielleicht vierzig andere. Nachts hielten sie manchmal vor einem Haus, dann krochen alle aus dem Bus, um einmal richtig zu schlafen. Im Morgengrauen ging es weiter, immer weiter nach Norden, über die Grenze von Guatemala nach Mexiko in die USA.

In Los Angeles gibt es viele wie ihn: heimlich Eingereiste ohne Papiere. Carlos Ruano wird älter, lernt, zu tätowieren und damit sein Geld zu verdienen. Aber es ist immer zu wenig. Seine Mutter kehrt nach Guatemala zurück. Er trifft seine Frau, mit neunzehn Jahren bekommen sie ihren ersten Sohn, dann eine Tochter und einen weiteren Sohn. Aber das Geld bleibt knapp.

Carlos Ruano beginnt, Autos zu knacken. Irgendwann wird er verhaftet. Einen Anwalt kann er sich nicht leisten, der Richter verhängt eine Geldstrafe, Geld, das er nicht hat. Dann geht alles sehr schnell: Sie sperren ihn ein, erklären ihm, er müsse das Land verlassen. Bis sie einen Abschiebeflug für ihn haben, sitzt er in einem Gefängnis außerhalb der Stadt. Sie nennen es Gewahrsam, aber er sitzt ein wie die anderen Kriminellen auch.

Im Gefängnis trifft er Edgar Hernandez, einen Mann mit grauem Zopf. Auch er kam in den Achtzigerjahren aus Guatemala mit einem Bus nach Los Angeles. Sie spielen Karten oder Domino, manchmal trinken sie heimlich zusammen. Dann, nach einem Monat, die Nachricht: Ein Platz im Flugzeug ist frei, Carlos wird abgeschoben. Da ist er 51 Jahre alt. Vier Jahrzehnte, fast sein ganzes Leben, hat Carlos Ruano in Los Angeles verbracht. Seine drei Kinder und vier Enkel leben dort. Doch er sitzt nun im Flugzeug nach Guatemala-Stadt, Handschellen an Händen und Füßen, keine Schnürsenkel in den Schuhen – so will es das Polizeiprotokoll, die Abgeschobenen könnten sich erhängen. Er müsse in Guatemala vorsichtig sein, haben ihm die Leute gesagt. Carlos selbst hat kaum Erinnerungen an das Land, in das sie ihn bringen, kennt es eigentlich nur aus dem Fernsehen in den USA. 

In Guatemala gelandet, nehmen sie ihm die Handschellen ab. Er kann sich frei bewegen – und jetzt? Er hat kein Geld, keinen Ausweis, kein Telefon. Er weiß nicht, wo er heute Nacht schlafen soll. Dann spricht ihn ein Mann an: „Kann ich dir helfen?“ Der Mann ist groß, trägt eine blau-gelbe Warnweste und redet Englisch mit ihm. „Ich weiß, was in dir vorgeht.“ Diese Worte, so wird Carlos es später beschreiben, haben ihm Frieden gegeben. Der Fremde bietet ihm einen Schlafplatz an. Zwei Nächte bleibt Carlos Ruano im Haus von Gustavo Juárez, dann holt ihn seine Mutter ab. Sie lebt vier Autostunden entfernt in der Stadt Xela. Sie wiederzusehen, nach all den Jahren, das Gefühl kann Carlos nur schwer erklären. Den ganzen Weg nach Hause drückt sie seine Hand so fest, dass es schmerzt.

Drei Monate später kehrt Carlos Ruano zurück. Er zieht wieder zu Gustavo Juárez und schließt sich der Gruppe an, die Gustavo 2014 gegründet hat: die „Asociación de Retornados Guatemaltecos“, die Vereinigung guatemaltekischer Rückkehrer.

Gustavo, kam als Kind nach Los Angeles, wohnte dort 33 Jahre und musste dann drei Töchter zurücklassen

Die ARG, wie sie sich nennen, hilft Abgeschobenen beim Neuanfang. Jeden Tag streifen sie ihre Westen über und stehen am Flughafen, auf der anderen Seite der Mauer. Denn ab hier sind die Rückkehrer auf sich gestellt, wissen oft nicht, wohin, und wenn doch, dann nicht, wie sie dort hinkommen. Gustavo Juárez hat sich deshalb vor einem Jahr ein Auto gekauft, einen alten Nissan Versa, mit dem er die Ankommenden zu einer Busstation oder zu Bekannten fährt. Auch sein Haus in der Nähe des Flughafens stellt er bereit, wenn es nötig ist: „Es ist eine Zuflucht. Sie sind ein paar Monate hier, finden einen Job und suchen sich eine eigene Bleibe.“

In den Hochzeiten bestand die „Asociación de Retornados Guatemaltecos“ aus dreißig Mitgliedern. Doch einige haben es zurück in die USA geschafft, andere eine Arbeit gefunden, mit der sie Geld verdienen. Denn die ARG finanziert sich über Spenden, vor allem von US-Organisationen, die etwa die Büromiete decken. Die Mitglieder selbst erhalten kein Gehalt, nur eine kleine Aufwandsentschädigung, die für die Miete reicht, aber kaum für mehr. Deshalb stehen die Männer heute nur noch zu viert am Flughafen, mit denen, die im Büro arbeiten, sind sie zu siebt.

Vier Männer zwischen dreiundfünfzig und sechzig Jahren, die wissen, wie es sich anfühlt. Sie lebten im Land der unbegrenzten Möglichkeiten – und mussten gehen. Weil sie zum Beispiel betrunken Auto fuhren oder in eine Schlägerei geraten waren. Gustavo, der als Kind nach Los Angeles kam und nach 33 Jahren drei Töchter zurückließ. José, der 23 Jahre in Massachusetts und Boston lebte, eine große Familie gründete, in Guatemala plötzlich allein war und Gott fand. Martín, der nach 28 Jahren aus dem Land seiner Träume ausgewiesen wurde und seinen sechsjährigen Enkel nur von Instagram-Fotos kennt. Und Carlos, der als Letzter zur Gruppe stieß und Englisch mit amerikanischem Akzent spricht.

Carlos steht breitbeinig an die Mauer gelehnt, die Hände in der Jeans, weiße Reeboks, Cap, die Warnweste über einem Heineken-Shirt, neben ihm Gustavo. Martín Velásquez stößt gerade zu den beiden. Der Wind pfeift, die Straße dröhnt. Carlos hält sich ein Ohr zu, als ein Lastwagen vorbeidonnert. Es ist elf Uhr, der Flug aus Texas müsste vor einer Stunde angekommen sein. Mittwochs landen die „special flights“, erklärt Gustavo. Darin sitzen diejenigen, die länger in den Staaten gelebt haben als in Guatemala, die ihr Geburtsland kaum kennen, weil sie meist als Kinder in die USA kamen.

Mit Carlos, Gustavo und Martín warten etwa fünfzig Menschen auf dem kleinen Platz vor der Mauer. Einige Frauen tragen die traditionellen Blusen und Röcke der Maya. Ein Kind liegt in eine Decke gewickelt auf dem Boden. Eine Frau hält einen Luftballon mit der Aufschrift „Bienvenidos“. Alle warten darauf, dass sich die Tür öffnet und sie ihre Verwandten und Freunde in die Arme schließen können. Dreißig Minuten. Vierzig. Fünfzig. Eine Lautsprecherdurchsage ertönt. Gustavo hebt den Daumen in Carlos’ Richtung. Es geht los. Die Tür geht auf und die Menge erwacht. Als hätte jemand die Welt auf doppelte Geschwindigkeit geschaltet, rufen Stimmen durcheinander, springen Wartende auf, einige halten ihre Smartphone-Kamera auf die Ankommenden. Etwa hundert Menschen treten heraus, in der Hand einen Sack mit Habseligkeiten, an den Füßen Schuhe ohne Schnürsenkel. Carlos, Gustavo und Martín bleiben ruhig. In ihren Westen wirken sie wie ein Ruhepol im Chaos und warten geduldig darauf, angesprochen zu werden.

Sie beantworten Fragen, lassen die Rückkehrer telefonieren oder notieren ihre Namen auf Klemmbretter. Denn die Arbeit der ARG endet nicht hier am Flughafen, sie helfen den Abgeschobenen auch bei Behördengängen oder der Job- und Wohnungssuche. 

In Guatemala lebt etwa die Hälfte der Bevölkerung unter der Armutsgrenze von zwei Dollar pro Tag. Jeder sechste Guatemalteke wandert in die USA aus. Gewalt, Armut und Korruption treiben sie auf gefährlichen Routen in den Norden. Hinzu kommen diejenigen, die vor dem Klimawandel fliehen, weil sie von der Landwirtschaft leben und Wetterextreme in dem mittelamerikanischen Land zu Dürren und Überflutungen führen.

Für viele von ihnen endet der amerikanische Traum mit der Abschiebung. Die Grenzpolizei der US-Einwanderungsbehörde hat 2023 mehr als 142.850 Einwanderer in 180 Länder abgeschoben. Nach Mexiko war Guatemala in den letzten drei Jahren das Land mit den meisten Abgeschobenen. Tausende Menschen landen jährlich mit einem Abschiebeflug hier in Guatemala-Stadt. Eine Flasche Wasser und ein kaltes Sandwich bekommen sie von der Regierung. Dann sind sie allein. 

Es ist 15.30 Uhr. Der letzte Flug des Tages ist aus Arizona gelandet. Ein Mann mit grauem Zopf und grauem Sweater tritt aus der Tür: Edgar Hernandez, der Mann, mit dem Carlos im Gefängnis oft Karten spielte. Ein Wiedererkennen. Sie lachen, klatschen sich ab. 

Edgar, der in Wirklichkeit anders heißt, wuchs im Osten Guatemalas auf, nahe der Grenze zu Honduras, in der Stadt Chiquimula. Als junger Mann ging er mit seiner Mutter und seiner Schwester in die USA, vierzehn Jahre lebte er in Los Angeles – bis er ins Gefängnis kam, für 26 Jahre. „Ich habe jemanden getötet. Er hat schlimme Dinge getan.“ Heute ist er 62 und wieder ein freier Mann. Was macht er als Erstes in Freiheit? Er greift nach einer Papiertüte und sammelt den Müll ein, den die Wartenden den Tag über hinterlassen haben. Leere Becher von Wendy’s, Wasserflaschen, Doritos-Tüten, Trinkpäckchen. Wie fühlt sich Freiheit an, Edgar? „Glücklich. Ich bin glücklich. Ich weiß, wo ich hier unterkomme, aber alles ist anders. Chiquimula war einmal eine schöne Stadt, heute ist sie gefährlich.”

Es ist siebzehn Uhr. Carlos wirft sich auf die Rückbank des Nissan, er streckt Arme und Beine von sich, seine Körperspannung reicht gerade noch zum Halten der Cola, die Gustavo ihm mitgebracht hat. Seit sieben Uhr hat er nichts gegessen, kaum getrunken. „Wer hilft den Leuten, wenn ich gehe?“, fragt er. Und: „Erst sorgen wir dafür, dass sie es sicher nach Hause schaffen, dann sind wir an der Reihe.“

Die Westen liegen im Kofferraum, während sie Edgar Hernandez und einen zweiten Rückkehrer in ein billiges Hotel bringen. In Gustavos Haus ist gerade kein Platz für weitere Abgeschobene. In ein paar Wochen wird Edgars Familie aus den USA zu Besuch kommen. Sie werden auf der anderen Seite des Flughafens landen, auf der Seite, deren Gänge Fotos bunter Mayatrachten und spuckender Vulkane säumen. Bevor sie sich auf den Weg nach Chiquimula machen, werden sie Gustavo und Carlos besuchen. Sie wollen Danke sagen.

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