Und, wie bin ich so?

Lesen Sie diese Geschichte bitte nicht. Sie handelt nur von mir und was andere über mich denken

Von Jörg Schindler; Fotos: Kai Ziegner (aus DUMMY „Ich“; 2006)


Ich wollte diesen Text nicht schreiben, sondern habe mich breitschlagen lassen.
Ich bin einfach zu gutmütig.
Oder eben bescheuert.
So geht es schon mal los.
Dieses Selbstporträt

Ich bin 39 Jahre alt, gebürtiger Darmstädter und absolut gewöhnlich.
Ich werde sie in den nächsten acht Minuten durch diesen Text begleiten.
Ich weiß, was Sie jetzt denken. Was glaubt der denn, wer er ist? Hält sich offenbar für was Besonderes? Steht wohl gern im Rampenlicht? Das ist, mit Verlaub, nicht ganz korrekt. Um genau zu sein, stand ich in meinem Leben exakt einmal im Rampenlicht. Das war, als wir in der sechsten Klasse „Ben liebt Anna“ spielten, ich aufgrund meines annähernd albanischen Aussehens den türkischen Vater von Anna gab, als es drauf ankam, aber nicht den Hauch einer Ahnung hatte, was ich sagen sollte, weshalb ich kurzerhand „Scheiße“ murmelte und tief lila anlief. Im Grunde habe ich mich davon bis heute nicht erholt.
Wieso also das Ganze?
Tja, wenn ich’s wüsste.
Wahrscheinlich, weil ich nicht Nein sagen kann. Wahrscheinlich, weil es irgendeiner ja tun muss.
Wahrscheinlich, weil ich bescheuert bin.
Aber jetzt greife ich vorweg.
Wie bin ich also?
Und vor allem: was?
„Du“, sagt die Bekannte H., „bist ein eher ruhiger Typ.“
„Du“, sagt der Bekannte T.,, „bist zurückhaltend.“
„Er“, sagt Hochzeitsgast P., „ist eher still.“
„Sie“, sagt Stammwirtin A., „sind ein schüchterner Typ.“
„Sie“, sagt meine Friseurin, „sind ein ruhiger Kunde.“
Nanu – wie bin ich denn so geworden?
Man muss dazu wissen, dass ich in meiner Heimat im Südhessischen und dort vor allem in meinem früheren Tennisclub über Jahre hinweg einen gewissen, nun ja, unschmeichelhaften Ruf hatte.

Freundin M. schwört noch heute, ich sei der einzige
Mensch, den sie jemals Wände hat hoch laufen sehen. Von
Spiderman vielleicht mal abgesehen. Nur dass der stets im
Dienst des Edlen, Hilfreichen, Guten handelte. Ich eher im
Auftrag meiner ungeheuren Wut. Sie müssen das, bitteschön,
verstehen: Stellen Sie sich vor, Sie zwirbeln einen 1-
a-Aufschlag direkt ins Eck, huschen mit katzenhafter
Eleganz vor ans Netz, sehen den Return kommen, genau,
ganz genau dahin, wo Sie ihn haben wollen, Sie holen aus
– und schaufeln den Flugball gefühlte sieben Meter ins
Aus. Wie soll man sich denn sonst abreagieren? Hmm?
Gut, ich hätte auch meine Schläger zertrümmern können
wie mein großes Vorbild John McEnroe. Aber was das
wieder gekostet hätte.
„SCHREIB RUHIG,
DASS DU CHOLERISCH BIST“
Bitte, ich will mich hier nicht cholerischer machen, als ich
bin („Doch, das bist du“, ruft meine Schwester, „schreib
ruhig auf, dass du cholerisch bist“. Andererseits ist meine
Schwester so befangen, wie man nur sein kann, seit ich sie
als Kind gelegentlich verprügelte und seit ich einst, mit
erhobenen Fäusten, ihren bereits erwachsenen Freund zum
Duell herausforderte). Aber man sollte vielleicht doch
erwähnen, dass alle oben genannten Personen nie das
Vergnügen hatten, mit mir Auto zu fahren. Zumindest
nicht mit mir am Steuer. Womöglich – nein, ich würde
sogar sagen: wahrscheinlich würden sie mich anschließend
nicht mehr als „ruhig“ beschreiben. Zumindest nicht mehr
uneingeschränkt.
Menschen, die mich etwas besser kennen, fällt folglich
auch spontan anderes zu mir ein. Menschen zum Beispiel
wie Kollege K., der mich für „schroff, aber irgendwie auch
süß“ hält. Menschen wie Ex-Freundin U., die mich einen
„Heißsporn“ nennt und schon vor Jahren, in trauter
Sterndeuterrunde, darauf gewettet hätte, ich sei „Löwe,
Aszendent Löwe“. Tja nu, sagt dazu Freund K., dass ich
„nicht gerade ein Phlegmatiker“, sondern eher ein
Hitzkopf sei, läge gewissermaßen auf der Hand.
Andererseits, sagt K., und holt dann aus zu einem jener
kleinen Stegreifreferate, für die ich ihn seit jeher schätze,
definiert im Vorüberreden den feinen Unterschied zwischen
Talent, Neigung und Disposition, fügt hier ein
Quäntchen Tiefgründigkeit, dort eine Prise
Kümmerdimension ein und schlussfolgert letztendlich:
„Du kommt zwohundertfuffzig Jahre zu spät – du wärst
eine sehr gute Besetzung für Sturm und Drang gewesen.“
Schönen Dank.
Und was lernen wir daraus? Dass man selbst schuld ist,
wenn man Menschen fragt, was sie von einem halten. Ich
hätte es wissen können. Ich hab das nämlich schon mal
getan. Ist ein Vierteljahrhundert her. Und unsagbar peinlich.
Damals, wir Jungs waren ganz dicht dran am
Stimmbruch und „Blues tanzen“ der Höhepunkt pubertärer
Erotik, habe ich mich das erste Mal ganz weit vor
gewagt auf brüchiges Eis. Wir waren in der Skifreizeit,
Kleines Walsertal, Hirschegg, hatten den Schlafraum mit
einem Universum-Kassettenrecorder und drei Taschenlampen
zur schummrigen Tanzspelunke umfunktioniert,
als ich nur noch auf den richtigen Song wartete, um das
Mädchen meines Herzens zum Tanz aufzufordern. Bei
„Bright Eyes“ bekam ich weiche Knie, bei „Waiting for a
girl like you“ setzte der Herzschlag aus, bei „Maybe“ – ich
weiß bis heute nicht, wer das gesungen hat – kehrte ich
alle kläglichen Restbestände meines Mutes zusammen, forderte
stammelnd die brünette D. aus der Parallelklasse auf
und fragte sie nach nicht mal eineinhalb Umdrehungen
und vor lauter Aufregung so laut, dass es mehr oder weniger
jeder Umstehende, bis auf den halbtauben U., hören
konnte: „Wwiefinndstndumich?“ Die Antwort hing
danach noch etwa 23 Jahre, goldgerahmt, vor meinem geistigen
Auge. Sie lautete: „Ganz nett.“ Damals schwor ich
mir, mich am nächsten Tag aus dem Sessellift zu stürzen.
Im Grunde nahm das nicht immer reibungslose Verhältnis
zwischen den Frauen und mir in dieser entwürdigenden
Winternacht seinen schaurigen Anfang. Seltsamerweise
kann aber nur noch ich mich daran erinnern. „Ach wirklich“,
meinte L., als ich sie jüngst am Telefon auf diesen
entscheidenden Wendepunkt in meinem Leben ansprach.
Sie hatte keine Ahnung mehr: nicht von „Maybe“, nicht
von unserem stelzigen Pas de deux, nicht von meiner subtilen
Anbaggerei. Offen gestanden: Ich bin nicht mal
sicher, ob sie genau wusste, wer sie da, fast auf den Tag
genau 20 Jahre nach dem Abi, behelligt.
Nie wieder habe ich seither Menschen vorsätzlich nach
ihrer Meinung über mich gefragt. Bis zu dieser Geschichte,
aus der Sie hoffentlich längst ausgestiegen sind. Ich würde
es Ihnen nicht verdenken. In den letzten Wochen jedenfalls
habe ich meinen Schweinehund notgedrungen Gassi
geführt und mehr oder weniger jeden, der im Weg stand,
um eine persönliche Auskunft gebeten. Und was soll ich
sagen? Ich habe tatsächlich noch etwas u?ber mich gelernt.
Neulich zum Beispiel, im Zug nach Köln, saß mir drei
Stunden lang eine blasse junge Frau mit Blümchenshirt
und Brille gegenüber und blätterte in DIN-A3-Kopien von
irgendwelchen altertümlichen Schriften. Vermutlich Buchhändlerin.
Oder Archivarin. Ich hätte beim besten Willen
nicht sagen können, ob sie mich überhaupt zur Kenntnis
genommen hatte. Bekam sie mit, worüber ich mit meiner
Freundin sprach? Sah sie, dass ich wie immer unrasiert
war? Und dass unter den Härchen ein fieser Pickel heran
wuchs, was alle zehn Jahre mal passiert und natürlich ausgerechnet
jetzt, da wir zu einer Hochzeit fuhren, wieder
passieren musste? Fand sie es seltsam, dass einer wie ich
Harry Potter liest? ( Ja, ich weiß, das ist entsetzlich uncool,
aber bitte, ich musste über die ersten Teile schreiben, und
jetzt wollte ich auch wissen, wie’s ausgeht…). Dachte sie
überhaupt irgendetwas über mich? Am Ende habe ich sie
gefragt. Und sie konnte verblüffend detailliert antworten:
Sie hielt mich für
„unaufdringlich“,
„verständnisvoll“ und
„sportlich“
ICH WIRKE VIEL RUHIGER,
ALS ICH DACHTE
und schätzte mich auf „Ende 30“ (was unverschämt ist, ich
bin zwar Ende 30, möchte aber doch bitteschön auf Mitte
30 geschätzt werden – für irgendwas muss es ja wohl gut
sein, dass man zeitlebens keine Drogen genommen hat!).
Außerdem waren ihr meine „markanten Augenbrauen“
aufgefallen (die in der Mitte zusammengewachsen sind).
Sie vermutete, dass ich beruflich „irgendwas mit
Menschen“ mache und das sogar – ha! – „in führender
Funktion“. Und außerdem hielt sie mich für „angenehm
ruhig“. Schon wieder. Ein Eindruck übrigens, der sich auch
später auf der Hochzeit wiederholte (da war ich allerdings
schlecht gelaunt).
Kurzum: Ich wirke offenbar viel in-mich-gekehrter, als ich
gedacht hätte. Interessant für einen, der mal dachte, er sei
so etwas wie ein Duracell-Kaninchen: fluffig, hektisch,
nimmermüd. Man lernt nie aus.
Merken Sie was: Über Äußerlichkeiten hab ich bis hierhin
noch gar nichts geschrieben. Ich würde es auch gerne
dabei belassen, möchte aber doch wenigstens betonen,
dass ich offenbar auch gar keine sooo große Nase habe,
wie ich immer befürchtete. Den Rest können Sie dann ja
selbst beurteilen – wenn wir uns mal kennen lernen. Bis
dahin empfehle ich mich.
Ihr Jörg Schindler
PS. Meine Schwester sagt übrigens, ich sähe aus „wie
eine Mischung aus Dieter Nuhr und Keanu Reeves“.
Und wenn Sie mich jetzt nicht mögen, dann weiß ich es auch nicht.

Zum Heft