Ganz Ohr
Wechseln Sie das Zugabteil, weil Sie die Geräusche der Mitfahrenden aggressiv machen? Können Sie das Geschmatze oder Atmen Ihrer Mitmenschen nicht ertragen? Willkommen bei den Misophonikern
Von Eva Goldschald; Foto: Felicia Marcelli
„Meine Mama und ich haben einen Deal: Wenn wir gemeinsam Auto fahren, muss immer eine von uns auf der Rückbank sitzen. Sitzt sie neben mir, ertrage ich ihr lautes Atmen nicht.“ Für Lilly ist das nichts Ungewöhnliches. Sobald es um sie herum zu viel menschelt, wird es für die 25-Jährige unerträglich. Dann spürt sie nur noch Anspannung, Ekel, Ärger oder Wut. Zum ersten Mal fiel ihr das auf, als sie neun Jahre alt war und sich ihre Eltern trennten. In der neuen Wohnung ihres Vaters teilte sich Lilly eine Schlafcouch mit der Schwester. „Ihre Atemgeräusche haben mich so wütend gemacht, dass ich nicht schlafen konnte. Atemgeräusche waren mein erster richtiger Trigger.“
Lilly leidet an Misophonie. Herausgefunden hat sie das vor zehn Jahren. Der Begriff setzt sich aus den griechischen Wörtern „Miso“ (Hass) und „Phonia“ (Geräusche) zusammen. Misophonie heißt also nichts anderes als Hass auf Geräusche. Atmen, Schmatzen oder Nasehochziehen lösen bei den Betroffenen so starke Aggressionen und Beklemmungen aus, dass sie sich abrupt zurückziehen oder sich, in weiser Voraussicht, mit Kopfhörern schützen müssen. Ein Zustand, der weit mehr umfasst als das unangenehme Gefühl, das jeder kennt, wenn jemand mit Fingernägeln an der Tafel kratzt.
Es gibt ziemlich viele Geräusche, die Misophoniker verrückt machen. Dabei kommt es nicht mal darauf an, wie laut oder leise sie sind – manchmal sind gerade die, die man so eben hört, die nervigsten: Menschen, die auf Smartphones oder Computern herumtippen, tropfende Wasserhähne, ein dumpfer Beat von einer weit entfernten Party. Kurioserweise stören sich die wenigsten Misophoniker an Geräuschen, die Tiere von sich geben. Eine Betroffene erzählt, dass sie es liebt, wenn ihr Pferd schmatzt, lautes Kauen bei Menschen aber keine Sekunde aushält. Auch Lilly hat kein Problem damit, wenn sie ihren Hund sich lecken hört.
Auf Misophonie DE, einer privaten Facebook-Gruppe, tauschen sich fast 4.000 Betroffene aus. Sie geben sich Tipps für die besten Noise-Cancelling-Kopfhörer und schildern ihre Erlebnisse. „Gestern hat mir mein Bruder ein Video geschickt, in dem meine Mutter dasitzt und ein Brot isst. Ich bekomme diese Bilder und Geräusche nicht mehr aus meinem Kopf. Habe mir vor Wut so fest in den Arm gebissen, dass es wehtat“, schreibt einer. In den Kommentaren darunter: Verständnis für den Betroffenen und Empörung über das Verhalten des Bruders. Ein anderer beschwert sich über seinen Kollegen, weil er es kaum erträgt, diesen kauen zu hören, und Mordfantasien bekommt. Eine schreibt, dass sie generell Hass gegen Menschen und Dinge entwickelt, die Lärm verursachen: Nachbarn, Flugzeuge oder Autos. Weil auch die besten Kopfhörer nichts brachten, fing sie eine Therapie an – bislang ohne Erfolg.
Manchmal hilft es, sich in den Arm zu beißen
Laut Studien an Universitäten in Großbritannien, den USA und Deutschland stören sich zwischen fünf und knapp achtzehn Prozent der Menschen im Alltag so sehr an Geräuschen, dass sie sich befangen und hilflos fühlen. In Deutschland sollen es rund fünf Prozent der Bevölkerung sein. Nicht so wenig, und dennoch gibt es meistens wenig Verständnis für dieses Leiden. Eher gelten die Betroffenen oft als überempfindliche Nörgler. So erlebt es auch Pauline. In der Facebook-Gruppe schreibt sie: „Ich leide seit Jahren an meiner Misophonie, besonders aber daran, dass das niemand kennt und darauf Rücksicht nimmt. Wenn man sagt, dass einen ein Geräusch triggert, wird es oft erst recht und noch lauter wiederholt.“
Im Jahr 2001 bezeichneten die Neurowissenschaftler Dr. Pawel Jastreboff und Dr. Margaret Jastreboff die Symptome erstmals als Misophonie, die Audiologin Marsha Johnson dagegen sprach von „selektiver Geräuschintoleranz“. Eine Definition, die viele Betroffene passender finden, weil es oft um spezifische Geräusche geht. In einem ist sich die Wissenschaft aber einig: Misophonie ist keine Krankheit, sondern eine Störung.
Für Lilly sind nicht nur Atemgeräusche unerträglich, sondern auch Husten, Nasehochziehen, Schmatzen oder Kaugummikauen. Wenn sie das hört, wird sie aggressiv und panisch. Am liebsten würde sie ihre Wut rausschreien. Sie kann die Situationen nur schwer fassen und anderen begreiflich machen, denn die meisten können diese starken Emotionen einfach nicht nachvollziehen. „Für mich ist es nicht nur nervig oder störend, es belastet mich tatsächlich. Ich entwickle eine so starke Energie und weiß gar nicht, wohin damit.“ Um sich abzulenken, hat sich die 25-Jährige früher die Fingernägel in den Arm gekrallt. Eine Möglichkeit, das Geräusch zu ertragen, weil sie sich auf den Schmerz fokussierte. Vor allem Situationen, in denen Lilly ohnehin angespannt ist, verstärken die Misophonie. Ihre beste und auch beinahe einzige Strategie dagegen sind geräuschunterdrückende Kopfhörer. Zum Schlafen neben ihrem Freund trägt sie Ohropax. Ohne würde es nur gehen, wenn sie vor ihm einschlafen würde. Das passiert aber selten. „Ich bin in einer permanenten Lauerstellung und rechne ständig damit, dass ich gleich seinen Atem hören werde.“
Am meisten triggern Lilly und andere Misophoniker die Geräusche nahestehender Personen – jene, denen sie emotional stark verbunden sind, Lebenspartner, Geschwister oder enge Freunde. Mit diesen Menschen verbringt man die meiste Zeit. Zeit, um störende Geräusche wahrzunehmen – und zu studieren. Lilly konnte nicht verstehen, wieso sie so eine Aggression gegenüber Familienmitgliedern entwickelte, zu denen sie doch ein enges und gutes Verhältnis hatte. „Es ging so weit, dass ich meine Mama bei einem gemeinsamen Theaterbesuch fragte, ob wir uns bitte auseinandersetzen können, weil ich ihre Atemgeräusche nicht ertragen konnte. Zusätzlich zum Trigger kam dann ein enormes Schuldgefühl, obwohl meine Mutter mir nicht böse war.“ Auf so viel Verständnis wie in ihrer Familie stößt Lilly jedoch nicht immer. Eine Freundin reagierte gekränkt. Was das für eine Freundschaft wäre, bei der man nicht einmal nebeneinander schlafen könne. „Sorry, dass ich atme, um zu überleben“, sagte die Freundin nur.
Einmal brachte sie das Klappern von Opas Gebiss zum Kotzen
Misophonie soll, so die Expertenmeinung, durch Konditionierung entstehen. Das Unterbewusstsein verknüpft eine körperliche Anspannung, die durch Stress ausgelöst wird, mit einem davon unabhängigen Geräusch. Das ist bloßer Zufall, und doch nimmt die Person den Stress und das Geräusch gleichzeitig wahr und bringt beides miteinander in Verbindung. Wann immer das Geräusch dann später zu hören ist, reagiert der Körper mit einem Reflex, den das Gehirn als Angriff von außen interpretiert. Das kann dazu führen, dass sich Menschen beim Hören von Schmatzgeräuschen übergeben müssen. So wie Denise. Mit Anfang zwanzig bekam sie die Diagnose Misophonie. Geräusche beim Essen oder Trinken lösen bei ihr Schmerzen in den Zähnen und Ohren aus, ihr Magen verkrampft. Zum ersten Mal spürte sie das mit zwölf Jahren beim Weihnachtsessen der Familie. Das klappernde Gebiss ihres Opas stresste Denise so sehr, dass sie vom Tisch aufstehen musste und schließlich kotzend vor der Toilettenschüssel kauerte. Mit der Zeit hat die 28-Jährige Ticks entwickelt, die dem Tourettesyndrom ähneln. Sie neigt ihren Kopf abrupt zur Seite oder kneift sich reflexartig in den Oberschenkel, sobald sie einen Trigger wahrnimmt. Mit ihrem Freund hat sie in ihrer Wohnung Soundanlagen installiert, die unangenehme Geräusche übertönen. „Musik stresst mich gar nicht“, sagt sie.
„Es ist viel mehr als das weit verbreitete Gänsehaut-Gefühl, wenn jemand mit einem Messer über einen Teller kratzt“, sagt Patrick Crauser. Bei Triggergeräuschen schlägt das Herz eines Misophonikers schneller, die Muskeln verspannen, manche reagieren mit Schweißausbrüchen und wollen einfach nur aus der Situation fliehen. Betroffene haben keine Kontrolle über die Geräusche, das versetzt sie in Panik. „Misophonie ist definitiv mehr als bloß Genervtsein.“ Seit 2019 unterstützt Crauser Menschen, die wie er an Misophonie leiden. Er bietet im Internet eine Austauschplattform für Betroffene und deren Angehörige an, hat zwei Bücher geschrieben und hilft in Einzelcoachings Misophonikern durch den Alltag. Wichtig sei es, anderen Menschen zu vermitteln, was einen Misophoniker genau stört, und gleichzeitig Strategien zu entwickeln, wie man diese Trigger umgehen kann. Neben Kopfhörern sollen Atemübungen wirken. Viele ahmten auch Geräusche nach und äßen zum Beispiel selbst, wenn jemand neben ihnen isst. „Am wichtigsten ist es aber, nett zu sich selbst zu sein, sich keine Vorwürfe zu machen und mit anderen Betroffenen zu sprechen. Und wenn es gar nicht klappt, einfach zu verschwinden“, sagt Patrick Crauser.
Tipps, die auch Lilly etwas geholfen haben. Für Familie und Freunde hat sie Verhaltensregeln aufgestellt. Kein Kaugummikauen, wenn sie in der Nähe ist, kein Nasehochziehen – und es akzeptieren, wenn sie gehen muss. In all diesen Momenten weiß sie, wie irrational und unverhältnismäßig ihre Reaktionen im Verhältnis zum Geräusch sind. Deshalb meidet sie manche Situationen. Sie will nicht, dass andere Leute ihretwegen ihr Verhalten ändern müssen. Extrem wäre es, sich menschlichen Geräuschen einfach nicht auszusetzen. „Das würde mich sehr unglücklich machen.“ Gleichzeitig frage sie sich immerzu, „was das für eine Quatschstörung ist, dass mich genau das nervt, was einen Menschen menschlich macht. Das ist doch völlig absurd.“
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