Es hat mir nicht geschadet …
Wirklich nicht? Eine Tochter, die ein bisschen besser ist als ihre (Raben-)Mutter, denkt über ihre Kindheit nach – und darüber, was die Gewalt von damals heute bedeutet
Von Jacinta Nandi; Foto: Jeremy McManus
Ich hasse es, wenn Deutsche über ihre Kindheit lästern. Sie machen es – wie auch so viele andere Sachen – total falsch.
Sie sagen Sachen wie: Als ich aufs Gymnasium ging, musste ich mir mein Frühstück selbst machen, weil meine Mutter immer bis sieben im Bett blieb, ich aber um fünf nach sieben aus dem Haus musste.
Ich gucke sie dann an und denke: Ey, ich habe mir seit der fucking Grundschule allein Frühstück gemacht, und es hat mir nicht geschadet. Denn sogar wenn deine Mama schon wach sein würde, muss sie dir kein Frühstück machen. Denn wenn du klug genug bist fürs Gymnasium, bist du auch klug genug, um einen Toaster zu bedienen: Hier der Toaster, da das Messer, Butter im Kühlschrank – was ist daran so schwer?
Meine Kindheit in den Achtziger- und Neunzigerjahren sah so aus: viel TV, eine Schaukel im Garten und hin und wieder ein wenig Gewalt. Einmal forderte mich meine Mama auf, meinem Bruder einen Stift wegzunehmen. Sie war am Kochen, ich half ihr, und mein kleiner, viel jüngerer Bruder krakelte mit einem Kugelschreiber auf unserem Küchentisch herum. Aber seine kleine, dicke, feuchte Hand klebte stur an dem Stift. Also musste ich ein bisschen Gewalt anwenden, um den Stift aus seinen dicken Fingern zu befreien – und dann heulte er.
Am Ende unseres Kampfs schlug sie mir noch mal auf den Kopf, extra, ein letztes Mal, um den Streit zu beenden
Meine Mama, die eigentlich gerade das Essen auf den Tisch stellen wollte, setzte den Kochtopf wieder auf den Herd und schlug mir ins Gesicht. Erklärend fügte sie hinzu: „I saw the look on your face and I saw how much you enjoyed hurting him.“ Später, als ich schon im Bett lag, schlich meine Mama in mein Zimmer und entschuldigte sich bei mir. „Ich wollte nie wie mein eigener Papa werden“, sagte sie. „Ein falscher Gesichtsausdruck am Küchentisch, und sofort wurde zugeschlagen. Eigentlich will ich doch das Gegenteil von ihm sein.“ Ich akzeptierte ihre Entschuldigung sofort. Es waren die Neunziger.
Ein anderes Mal stritten meine Mutter und ich uns in der Küche so doll, dass sie mich am Ende schüttelte und gegen den Kühlschrank drückte. Damals gab es die japanische Aufräumexpertin Marie Kondo noch nicht – vielleicht war sie nicht mal geboren –, und oben auf unserem Kühlschrank standen sehr viele Dinge herum. Hauptsächlich Flaschen, glaube ich. Und als mich meine Mama so doll schüttelte, flogen all die Dinge vom Kühlschrank auf ihren Kopf. Erschrocken ließ sie von mir ab, setzte sich an den Küchentisch und fing an zu heulen. Ich beruhigte sie, umarmte sie, tröstete sie. Doch am Ende schlug sie mir noch mal auf den Kopf, extra, ein letztes Mal, um den Streit zu beenden.
Ich erinnere mich auch, dass meine Mutter einmal Jeans von mir zusammen mit etwas Rotem in die Waschmaschine gesteckt hat. Meine Jeans kamen danach pink aus der Maschine. Ich war fünfzehn und bin ausgerastet wie ein psychisch gestörtes Kleinkind, ich schimpfte und wütete und rief immer wieder. „MY ONLY ACCEPTABLE PAIR OF JEANS AND YOU FUCKING RUINED THEM.“ Mein Papa, der all das mitbekam, war natürlich total auf der Seite meiner Mutter und sagte zu mir: „Hör mal zu, junge Dame, vielleicht solltest du Verantwortung für deine eigene Wäsche übernehmen.“ Doch meine Mama versuchte mich zu beruhigen und sagte: „Ich weiß, wie du dich fühlst. Ich hatte auch nur einen akzeptablen Rock außer meiner Schuluniform, und als ein Junge zu mir sagte, dass mein Po darin dick aussah, hatte ich gar nichts mehr.“
Ich hörte auf zu randalieren und flüsterte: „Kaufst du mir eine neue Jeans?“
Meine Mama antwortete ganz sanft: „Nein, du musst trotzdem bis Weihnachten warten. Aber du sollst wissen, es tut mir leid.“
An einem Wochenende – es war in den Achtzigern – schmeckte einmal beim Frühstück die Milch auf meinem Müsli so merkwürdig.
„Mama“, sagte ich, „die Milch schmeckt komisch.“
Meine Mama lachte mich an, wie eine Hexe, mein Blut wurde kalt.
„Was ist denn los mit der Milch?“, fragte ich.
„Das ist meine Muttermilch“, sagte sie immer noch lachend.
Ich hasse den Satz „Es hat mir nicht geschadet“. Ich bin das Gegenteil von den Menschen, die diesen Satz sagen
Meine Kindheit hört sich schräg an? Vielleicht, aber oft machte ich auch ganz normale Dinge wie alle anderen Kinder. In meinen Schulferien wollte ich zum Beispiel mal einer Lehrerin, die in unserem Viertel lebte, einen Klingelstreich spielen. Na ja, ich wollte es nicht wirklich – einige Kinder aus meiner Klasse wollten das machen, und ich war dabei. Wir standen vor dem Haus der Lehrerin und beobachteten es. Wir wollten wissen, ob sie zu Hause war oder nicht. Ein Fenster stand offen und ein Licht brannte. Die Lehrerin, die nur unsere dunklen Gestalten sah, dachte, wir wollten einbrechen und ihren Laptop klauen. Sie rief die Polizei, und als die nicht kam, rief sie unsere Eltern an. Alle Kinder wurden danach mit Hausarrest bestraft. Nur ich nicht.
Ich erzählte meiner Mama eine besondere Geschichte; dass wir nämlich die Lehrerin vermisst hätten. Sechs Ferienwochen, ohne sie zu sehen! Sie sei doch unsere Lieblingslehrerin! Wir hätten geglaubt, dass sie uns nach dem Klingelstreich eine Tasse Tee anbieten und von ihrem Sommerurlaub berichten würde. Am Tag darauf rief meine Mama die Lehrerin an, und ich hörte sie am Telefon sagen: „Haben Sie jemals überlegt, dass Sie sich vielleicht einfach den falschen Job ausgesucht haben?“
Jahre später, ich hatte mittlerweile selbst Kinder, war ich mal in den Ferien mit meinem jüngsten Sohn am Strand von Arnside, einem kleinen englischen Ort. Dort kann man wunderbar mit den Füßen auf dem matschigen Sand rumtrampeln, bis der ganz weich und wackelig wird. Wir beide springen also rum, rennen weg und schreien, bis ein Mann aus Nordengland zu mir kommt und mich ermahnt: „Das ist gefährlich!“, sagt er. „Die Warnschilder sind nicht umsonst aufgestellt worden.“
Mein Sohn antwortet ihm: „Meine Mama hat ein inneres Kind.“
Der Mann guckt mich missbilligend an.
„Du kommst aus London, oder?“, fragt er.
„Aus London und Berlin“, antworte ich.
„Ja“, sagt er. „So siehst du aus.“
„Ich werde aufpassen“, erklärt mein kleiner Sohn, „dass das innere Kind meiner Mutter nicht ertrinkt.“
Der Sand unter uns ist nass und schwer, manchmal fast schwarz, wie dicker Rübensaft. Man kann seinen ganzen Fuß reinstecken und dann wieder rausholen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieser Sand meinen ganzen Körper verschlucken kann, aber ich glaube dem Mann, dass es gefährlich ist. Und doch macht es so viel Spaß, seine Füße ganz tief in den Sand zu bohren.
„Ich werde meiner Mama nicht erlauben, ihr inneres Kind ertrinken zu lassen“, sagt mein Sohn noch einmal vor sich hin.
Bin ich eine schlechte Mama? Definitiv. War meine Mama eine schlechte Mama? Ja. Aber meine Mama ist auch die beste Mutter gewesen, die ich mir vorstellen konnte. Habe ich ihr vergeben für das bisschen Gewalt? Wahrscheinlich ja. Mehr oder weniger. Denn sie wollte ja eigentlich das Gegenteil von ihrem Vater sein, und so muss ich heute nicht das Gegenteil von ihr sein, nur eine bessere Version von ihr.
„Kannst du dich noch erinnern, wie du mir als Teenagerin mal Weihnachten ins Gesicht gespuckt hast?“, fragte sie mich einmal zu Weihnachten.
„Warum habe ich das getan?“, wollte ich wissen.
„Wahrscheinlich wollte ich, dass du Kartoffeln schälst oder so was“, sagte sie.
„Kannst du dich erinnern, dass ich ein Küchenmesser geholt habe?“, fragte ich.
„Oh, hör auf“, sagte sie. „Du warst so eine melodramatische Teenagerin. Ich wusste immer, du wirst nichts Schlimmes mit dem Messer anstellen.“
„Ja“, sagte ich.
„Wir haben es überlebt, oder?“
„Ja, wir haben es überlebt.“
Ich hasse den Satz „Es hat mir nicht geschadet“. Ich bin das Gegenteil von den Menschen, die diesen Satz sagen. Aber das bisschen Gewalt hat mir auch nicht nur geschadet, es hat mich auch geformt, es ist ein Teil von mir. Ein Riss in der Genetik, wie ein Riss in der Wand. Wenn Wasser durch den Riss fließt, entsteht ein Schaden, ein Wasserschaden in mir. Ich kann diesen Schaden nicht reparieren, kann die Risse in den Wänden nicht kaschieren, ich bin der Schaden, der Schaden gehört zu mir. Und dazu die Wahrheit, dass meine Mama eigentlich das Gegenteil ihres Vaters gewesen ist. Eigentlich.
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