Ein Mann will nach oben

Leon Otremba findet sich zu klein. Also lässt er sich die Oberschenkelknochen durchtrennen und verlängern. 1,83 Meter  misst er jetzt – doch das reicht ihm noch nicht

Text: Markus Sutera; Fotos: Thomas Pierot

Wie viele Zentimeter muss man wachsen, um glücklich zu sein? Der Mann, der nach der richtigen Antwort sucht, empfängt in einer Neubauwohnung bei Frankfurt, vierter Stock. Er trägt einen Undercut und eine umgedrehte schwarze Cap. Das Erste, was er wissen will: „Wie groß bist du?“ Und sofort nach der Antwort „So 1,90 Meter“ ist da dieser Anfangsverdacht: Aha, er vergleicht sich also immer noch. 

Leon Otremba ist ein 21-jähriger Mann, der Eltern hat, die hinter ihm stehen, eine Freundin, die sagt, dass sie ihn liebt, der englische Rapmusik mag, Fußball und Krafttraining. Ein von außen betrachtet zufriedener junger Mann, wäre da nicht diese Sache, die ihn quält, lange schon: seine Körpergröße. Die er nicht akzeptieren wollte.

Im Januar diesen Jahres entscheidet er sich für einen drastischen Schritt, einen Bruch, der mit viel Unsicherheit einhergeht, mit Schmerzen und Zweifeln: Er lässt sich die Oberschenkelknochen durchtrennen und verlängern und wächst quasi über Nacht von 1,72 auf nun 1,83 Meter. Doch das reicht ihm nicht, noch in diesem Herbst sind die Unterschenkel dran, sein Ziel: 1,90 Meter. Ein Wachstum von insgesamt achtzehn Zentimetern.

Leon hat zugestimmt, seine Geschichte zu erzählen, nicht anonym, sondern offen. Das ist ungewöhnlich, weil die meisten Patienten ihren Eingriff in aller Heimlichkeit durchführen lassen, aus Scham, Sorge – und weil sie auch davor nie damit hausieren gegangen sind, dass sie unter ihrer Körpergröße litten. Im Internet konnte man sich bereits ein Bild von Leon machen, bei Instagram, TikTok, wo Millionen Menschen seine Transformation verfolgen.

Ein kleiner Mann kann ein größerer werden. Aber wird er auch ein gesunder, ein glücklicher? Würden achtzehn Zentimeter wirklich seine Probleme lösen? Würde er sich davon erholen? Es sind Fragen, auf die ihn niemand vorbereitet hat.

Es gibt ein Foto von Leon, es steht hier in der Wohnung seines Vaters auf einer Kommode, darauf ist er mit Pausbäckchen und scheuem Blick zu sehen. Von der Bubihaftigkeit ist heute nichts mehr übrig, allein wegen der Tattoos auf seinen kräftigen Oberarmen und am Hals, die er sich mit sechzehn und achtzehn Jahren stechen ließ und über die er sagt: „Ich wollte zeigen: So schwach, wie ich aussehe, bin ich nicht.“

Schwach sein, weniger wert sein – diese Gefühle kommen früh in sein Leben, so schildert er es: Er fürchtet sich, kleiner zu werden als seine jüngere Schwester, blickt neidisch auf Mitschüler, die ihn überragen, die sagen: „Da kommt er ja, der Kleine!“, „Soll ich dir auf den Kopf spucken, Kurzer?“ Die Sprüche schluckt er, manchmal wehrt er sich, mit Worten und auch mal mit Fäusten. Trotzdem ist er kein Einzelgänger, hat Freunde, gehört dazu. Viermal die Woche trainiert er beim Karlsruher SC in der Fußballjugend. 

Mit vierzehn Jahren prognostiziert ihm ein Arzt anhand eines Röntgenbildes der Handwurzelknochen, wie groß er würde: 1,65 Meter, ein Schock – und der Beginn einer Zeit, in der sein Körper zu einem Feind wird, den Leon bekämpft: Er läuft auf der erhöhten Straßenseite, trägt Schuhe mit Absätzen, die ihn bis zu fünf Zentimeter größer erscheinen lassen. Doch das Einzige, was wächst, ist seine Wut auf die Welt. Er sagt: „Jedes Mal wenn ich die Schuhe auszog, wurde ich wieder mit der Realität konfrontiert. Es war wie ein schlechter Traum.“ 

Niederländer sind am größten

Es wird noch schlimmer: Seine erste Freundin verlässt ihn mit der Begründung, er sei zu klein. Also geht er bald seltener aus dem Haus, bleibt daheim, wenn Freunde feiern wollen. Sein neuer Zufluchtsort wird das Fitnessstudio, er drückt die Wut raus, wird breiter, aber nicht größer. Und doch überragt Leon seine Schwester, misst entgegen der ärztlichen Vorhersage bald 1,72 Meter. Zu klein, findet er.

Aber wann ist ein Mann eigentlich klein, wann groß? Es hilft ein Blick auf Durchschnittsgrößen: In den Niederlanden, dem größten Volk der Welt, sind Männer durchschnittlich 1,83 Meter, in den USA 1,77, in Japan 1,72 und in Deutschland 1,80.

Groß sein gilt als erstrebenswertes Ideal, vor allem bei Männern. Im Job und in der Liebe wird bevorzugt, wer groß ist – das belegen Studien seit Jahren: Die meisten Frauen wollen einen größeren Partner, egal wie charmant, gebildet und humorvoll er auftritt. Größere Männer sind überdurchschnittlich oft in leitenden Funktionen, weil man zu ihnen aufschaut, buchstäblich.

Groß sein bedeutet wichtig sein. Und gegen seine Größe ist man machtlos. Das glaubt auch Leon lange. Bis er den Satz „Wie werde ich größer?“ googelt und von einer Beinverlängerung liest. Plötzlich schaut er abends nicht mehr Netflix, sondern Videos, die Männer auf Krücken zeigen. Er will wissen, wie so ein Eingriff abläuft, will verstehen, wie es sich anfühlt, wenn man sich die Beine verlängern lässt.

Nur an den Narben ist zu sehen, dass es einen Eingriff gab

Er stößt auf eine Klinik in der Türkei. Ihm imponiert, wie unverklemmt die Patienten reden, ihn beeindruckt, wie offen der Arzt erzählt, und das hilft ihm, sich zu öffnen.

Seine Eltern leben getrennt. Die Mutter sagt: Sei froh, dass du gesund bist. Der Vater sagt erst mal nichts. Beide glauben an eine Phase, die vorübergehen wird.

In Deutschland bieten nur wenige Zentren eine kosmetische Verlängerung der Beine an. Wie viele Menschen sich dafür entscheiden, ist nicht bekannt. Aber nicht nur Männer begäben sich unters Messer, betont der Berufsverband der Deutschen Chirurgen auf Anfrage. 

„LiveLifeTaller“ heißt die Einrichtung in der Türkei, die Leons Interesse geweckt hat. Sie führt nach eigenen Angaben jährlich über 500 Beinverlängerungen durch, Menschen reisen aus den USA, arabischen und asiatischen Staaten nach Istanbul. 

Im Herbst vergangenen Jahres fliegt Leon für einen ersten Besuch in die Türkei. Er lernt Physiotherapeuten kennen, Ernährungsberater, den behandelnden Arzt. Er sieht Frauen und Männer, in Rollstühlen sitzend oder an Gehhilfen humpelnd. Er trifft jene, die sagen, der Eingriff habe ihr Leben wieder lebenswert gemacht, und jene, die sagen, sie würden es nie wieder tun. 

Dabei immer an seiner Seite: Thorsten Otremba, 54 Jahre, 1,82 Meter, trainierter Oberkörper, schmale Brille, Personalberater, Papa. Er sagt, jetzt mit am Esstisch sitzend: „Die Reise hatte nur einen Zweck: Leon diese Idee austreiben.“ Bilder als Abschreckung – darauf setzte er. Doch die Gespräche und Eindrücke lassen seine Sorgen schrumpfen.

Der Papa ist immer an seiner Seite

Überhaupt habe er viel lernen müssen. Heute wisse er: „Es geht um ein anderes Wachsen, ein inneres, ein mentales, für einen Menschen, der sich minderwertig gefühlt hat.“

Und dass es die Zeit gebraucht habe und auch die Verzweiflung, sonst wäre Leon diesen Weg nicht gegangen – aber wie toll, dass er ihn gegangen ist. Er lächelt. Hat es eine Rolle gespielt, dass er, der Vater, größer war als sein Sohn? „Natürlich“, sagt er. Leon habe zu ihm hochgeschaut, sich verglichen, aber er könne ausschließen, dass seine Art des Umgangs mit seinem Sohn die Probleme verstärkt habe. Stattdessen habe er Denkanstöße gegeben, Risiken abgewogen. „Aber wenn du spürst, wie unglücklich dein Sohn jeden Tag aufwacht, wird es deine Pflicht, ihm zu helfen.“ 

Monate vergehen, in denen Leon spart und auf Reisen verzichtet. Neben der Ausbildung als Sport- und Fitnesskaufmann kellnert er. In dieser Zeit lernt er seine heutige Freundin kennen, sie ist kleiner als er. Beim ersten Treffen erzählt Leon, was er vorhat. Sie hört ihm zu, rät ihm ab. Als sie wenig später ein Paar werden, sagt sie: Ich liebe dich, wie du bist. Egal, ob mit 1,72 oder 1,83 oder 1,90. Leon hätte nun sagen können: So bin ich und damit lebe ich. Nur: So einfach ist es nicht. Er hatte das Gefühl, es würde immer schlimmer. Er war überzeugt: Sein Leiden wird erst kleiner, wenn er größer wird. 

35.000 Euro verlangt die Klinik für beide Oberschenkel, etwa halb so viel wie in Deutschland. Sein Vater übernimmt die Hälfte, und Leon verspricht, das Geld irgendwann zurückzuzahlen. Im Januar diesen Jahres fliegen Vater und Sohn erneut nach Istanbul, schlendern am Bosporus entlang, Leon hört motivierende Songs, sie heißen „Beast Mode“ oder „Keep going“. 

Am Tag vor seiner Operation macht er etwas Ungewöhnliches, er lädt ein Video bei Instagram hoch: „Hey Leute, heute melde ich mich das erste Mal bei euch, denn ich möchte euch an meiner ganz persönlichen Reise teilhaben lassen – der Verwirklichung meines großen Traumes, ein größerer Mann zu werden.“ 

Die meisten halten ihren Eingriff geheim, weihen nicht mal ihr engstes Umfeld ein. Leon, der davor nicht auf Instagram gepostet hat, macht seinen Schritt öffentlich, er sagt: „Ich habe schon daran gedacht, dass das Video viral gehen könnte.“ Was darauf nicht zu sehen ist: dass er Angst hat. Als er am nächsten Morgen in den OP-Kittel schlüpft, sind ihm all die Dinge bewusst, die passieren könnten: Narkosezwischenfälle, Blutungen, Entzündungen. Und mit kaputten Beinen könnte er auch seinen Job als Fitnesskaufmann vergessen. 

Bei der mehrstündigen Operation wird der Oberschenkelknochen in jedem Bein durchtrennt und ein verlängerbarer Nagel eingesetzt. Als Leon mittags wieder zu sich kommt, so erzählt er es, schießt der Schmerz durch seinen Körper – und ihm dieser Gedanke durch den Kopf: Was habe ich nur getan? Sein Körper rebelliert, tagelang. Er hat starken Schwindel, Fieber, erbricht. Nach vier Tagen steht er zum ersten Mal auf seinen Beinen, gestützt. Er muss das Gehen wieder lernen. 

Sein Vater verbringt diese Zeit im selben Zimmer. Er erinnert sich, wie Leon dalag, einbandagiert, auf den Oberschenkeln blaue Kühlpads, darunter Metallgestelle, die aus seinen Beinen herausragten, immerzu wimmernd. Manchmal, erzählt er, saßen sie beide einfach nur da, umarmten sich. Mutter, Schwester und Freundin kommen, Leon macht Physiotherapie, schluckt Tabletten gegen die Schmerzen: Tramadol, Paracetamol, Voltaren, Lyrica. Und findet kaum Schlaf. „Ich bin paranoid geworden, habe geglaubt, bei meiner OP sei was schiefgegangen“, sagt er.  

Die Verfahren zur Beinverlängerung sind unterschiedlich. Leon hat sich für eine Haltevorrichtung entschieden, die über Schrauben mit dem Nagel im Bein verbunden ist. Über einen Inbusschlüssel schraubt er daran und streckt so seine Oberschenkelknochen um einen Millimeter pro Tag. Sehnen, Muskel und Gewebe werden gedehnt, die Knochen wachsen später zusammen. 

Videos davon postet Leon auf Instagram und TikTok. Er führt dabei so routiniert durch seinen Körper wie ein Makler durch sein bestes Objekt – auf Englisch, weil er will, dass es Menschen aus aller Welt verstehen. Mit den Zentimetern wächst die Zahl seiner Follower, auf TikTok werden manche seiner Videos mehr als 20 Millionen Mal aufgerufen. 

In den Kommentaren darunter kritisieren viele das gesundheitliche Risiko und dass es keine Garantie gebe, mit dem Ergebnis zufrieden zu sein. „Du wirst es für immer bereuen“, schreibt ein User, ein anderer fragt: „Gibt es überhaupt jemanden, der danach wieder normal gehen konnte?“ Leon sagt, es gebe immer Leute, die vorschnell urteilten, ihn störe das nicht. Nur selten rechtfertigt er sich, schreibt dann: „Nach 3–12 Monaten wird alles wieder wie vorher sein, nur dass man größer ist …“ 

Vorfreude auf das Leben danach

Der Eingriff führt später womöglich zu ungleichen Proportionen. Arme, Rumpf und Füße bleiben gleich, nur das Bein wird verlängert, das kann eigenartig aussehen. Normalerweise ist die Spannweite der Arme mit der Körperlänge identisch. Bei Leon könnte am Ende ein Verhältnis von etwa 175 (Armspannbreite) zu 190 Zentimeter (Körperlänge) stehen. Medizinisch möglich, aber wie sich das in Jahrzehnten auf den Körper auswirkt, weiß man nicht. 

Leon sagt, er empfinde keine Momente der Reue. Stattdessen sind da Momente des Glücks: Das erste Mal Schuhe mit flachen Sohlen tragen. Das erste Mal ohne Krücken gehen. Das erste Mal neben Papa stehen. Leon habe sich verändert, erzählt sein Vater, er sei gelöster, strahle ganz anders. 

Fragt man Leon nach einem Zwischenfazit, sagt er: „Der psychische Schmerz davor war schlimmer als die Schmerzen nach der Operation.“ Und: „Ich bin nicht mehr mein eigener Feind.“ Glaubt man ihm, fehlten elf Zentimeter zum Glück. Er misst jetzt 1,83 Meter, drei Zentimeter mehr als der Durchschnitt deutscher Männer, ein Zentimeter mehr als sein Vater. Leon könnte zufrieden sein, es dabei belassen. Stattdessen will er weiter wachsen, auf 1,90 Meter. So hat er es sich vorgenommen. Und so steht es auf seinem TikTok-Profil.

Leon investiert mittlerweile vier bis sechs Stunden pro Tag in die App. Sein Ziel sei es, sich als Mensch offen und nahbar zu zeigen, aber vielleicht auch bald als Influencer damit Geld zu verdienen. Neulich hätten im Frankfurter Europa-Park einige junge Leute nach einem Bild mit ihm gefragt, andere hätten ihn heimlich fotografiert. Sicher ist: Er genießt die Aufmerksamkeit.  Aber was, wenn die Transformation im echten Leben beendet ist, wenn es kein Projekt mehr gibt? Leon hat darauf noch keine Antwort. Mal sagt er, er wolle mit dem „Schönheitsding“ abschließen, mal sagt er, er wolle andere Menschen als Mentor auf ihrem Weg begleiten. Wie genau, das wisse er noch nicht, er habe ja noch einiges vor. 

Jetzt im September sollen die Unterschenkel folgen, das bedeutet wohl wieder: drei Monate Klinik, Hunderte Tage Schmerzen, mehrere Jahre nicht richtig laufen können. Leon verdrängt diese Gedanken, spürt Vorfreude auf das Leben danach. Er sagt: „Ich werde immer dastehen wie der Verrückte, der groß werden wollte. Aber das ist mein Traum.“ 

Ende 2024 sollen die Nägel in den Ober- und Unterschenkeln entfernt werden, wenn auch der letzte Millimeter Knochen hinterhergewachsen ist, so der Plan. Wenn wirklich alles vorbei ist, will Leon seinen Führerschein machen, seine Ausbildung fortsetzen, mit seiner Freundin zusammenziehen. Und, ganz wichtig: einen Personalausweis beantragen. Mit der neuen Größe darin.

Ein großer Schritt ist gemacht: Aber die Zeit bis zur nächsten Operationen ist nicht lang
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