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N° 86, Müde

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Die Unbeirrbare

Viele Frauen werden in ihrem häuslichen Umfeld verprügelt, vergewaltigt und getötet. Die Täter kommen oft davon – auch weil die Opfer sie nicht anzeigen. Die Anwältin Christina Clemm kämpft seit dreißig Jahren an zwei Fronten

Von Lisa Seelig; Foto: Alena Schmick; aus DUMMY Nr. 77 zum Thema „Privat“, Winter 22/23; neu editiert 7/24

Christina Clemm braucht kein Skript für ihr Plädoyer. Sie spricht von ihrer Mandantin, „unabhängig, kämpferisch, eigensinnig“. Erzählt von den körperlichen und seelischen Folgen der Tat. „Die Narben werden sie ein Leben lang an diese Tat erinnern.“ Das Einzige, was die Anwältin abliest, sind die Hassnachrichten, die Todeswünsche, die Verfluchungen des Täters. Ihre Stimme ist ruhig und eindringlich, klar und unbeirrt. Sie strahlt eine große Gelassenheit aus. Die Wärme, mit der sie ihrer Mandantin zur Seite steht, ist spürbar – obwohl diese Frau gar nicht anwesend ist.
Der Angeklagte sitzt Christina Clemm gegenüber. Ein kleiner, kräftiger Mann mit kahl geschorenem Schädel und akkurat gestutztem Bart, seine Augen starren ins Leere, manchmal fällt er in sich zusammen und verschwindet beinahe unter der Anklagebank. Währenddessen flirrt die Oktobersonne durch die Fenster des holzgetäfelten Saales im Kriminalgericht in Berlin-Moabit.
Bald wird Christina Clemm den Angeklagten vergessen haben. An die Gesichter der Täter erinnert sie sich nach den Prozessen nicht mehr, sagt sie. Obwohl sie im Gericht viel Zeit hat, sie zu studieren. „Ich versuche nachzuvollziehen, was da genau bei ihm passiert ist.“ Manchmal schreien die Männer die Anwältin an, manchmal drohen sie ihr.

Die Tat, die heute verhandelt wird, geschah im vergangenen Dezember: Er hat auf sie gewartet, oben vor der Wohnungstür. Hört, wie sie den Hausflur betritt, den Liftschalter drückt. Der Lift fährt nach unten, die Türen öffnen sich, er kommt auf sie zu. Mit einem Messer sticht er siebzehnmal zu, mit aller Kraft. Mit der anderen Hand prügelt er auf sie ein. Ihr Nasenbein birst, ein Schneidezahn bricht, er durchsticht die Lunge, zweimal. Er schaut zu, wie sie blutend zusammensackt. Und geht. So steht es im Polizeibericht. Zwanzig Minuten später spricht er in einem Video auf Facebook zu seinen Followern. „Ich habe sie getötet“, sagt er. „Ich habe sie getötet, damit es sich lohnt, ins Gefängnis zu gehen.“
Sie schleppt sich mit letzter Kraft auf die Straße, bricht dort zusammen. Eine Notoperation rettet ihr Leben. Eine Freundin kontaktiert Christina Clemm nach der Tat. Clemm lernt ihre Mandantin noch im Krankenhaus kennen.
 

„Ich übernehme aber zwischendurch wahnsinnig gern mal eine einvernehmliche Scheidung“

Christina Clemm arbeitet seit fast 30 Jahren als Anwältin. Sie hat in Freiburg Jura studiert, ihr Referendariat machte sie in Berlin. Schon als Studentin arbeitete sie bei einer Anwältin, die vor allem Frauen bei Sexualstrafdelikten betreute, und entwickelte früh Wut auf eine patriarchale Gesellschaft, die Frauen nicht schützt. Clemm ist ein hochpolitischer Mensch, sie kommt aus der autonomen Frauenbewegung und der Antifa, sie macht mithilfe von Twitter auf die Kämpfe der Frauen in Iran aufmerksam, ruft zu Demonstrationen auf. Sie vertrat Opfer in den NSU-Prozessen. Und sie vertritt Frauen und queere Menschen, die Gewalt in ihrer Beziehung erleben oder Opfer eines Sexualdelikts wurden, die verprügelt, vergewaltigt, jahrelang gequält wurden.  „Ich übernehme aber zwischendurch wahnsinnig gern mal eine einvernehmliche Scheidung“, sagt Clemm und lacht. Ein Ausgleich – damit das Schwere, Bedrückende, das Existenzielle auch mal außen vor bleibt.


Eine Woche nach dem Plädoyer sitzt Klemm in ihrer Kanzlei in Kreuzberg, im vierten Stock eines grauen Mietshauses. Schlichter schwarzer Pullover, bequeme Schuhe. Auf den Schreibtischen ein Wust aus Akten und Papieren, auf dem kleinen Besprechungstisch eine Box Taschentücher – es wird viel geweint in diesem Raum. Der Lärm des Kottbusser Damms dringt durch die geöffneten Fenster, auf der Straße desolate Gestalten vorm Späti, türkische Supermärkte, Ein-Euro-Shops. Clemm kennt hier jede Menge Leute: „Ich liebe die Gegend.“
Besonders gefährlich sind verlassene Ehemänner oder Partner. Sie muss oft um das Leben von Mandantinnen fürchten, die sich getraut haben, aus einer gewalttätigen Beziehung zu fliehen. Daran, sagt sie, wird sie sich nie gewöhnen können.
 
Ihre Mandantin, deren Geschichte Clemm in ihrem Plädoyer im Moabiter Gericht erzählt, hat die Trennung von ihrem Partner fast nicht überlebt. Schon vor Monaten sagte sie aus, saß dabei in einem anderen Raum. Sie war nicht imstande, auf den Mann zu treffen, der ihr Leben beenden wollte, das viele Male angekündigt hat, der für immer Narben auf ihrem Körper und ihrer Seele hinterlassen hat – und damit prahlte, als er dachte, die Tat sei vollbracht. 
Womöglich vergisst Clemm die Gesichter der Täter, weil sich die Geschichten dahinter in ihrer tragischen Einzigartigkeit ähneln, sie verschmelzen zu einer bitteren Wahrheit: In Deutschland ist es Alltag, dass Frauen in ihrem privaten häuslichen Umfeld versehrt, verprügelt, vergewaltigt und getötet werden von ihren Partnern oder Ex-Partnern, ohne dass das einen großen Aufschrei erzeugen würde und ohne dass die meisten Täter ernsthafte Konsequenzen befürchten müssen. Christina Clemm macht das wütend. Und rastlos.
2023 wurden in Deutschland fast 168.000 Fälle von Partnerschaftsgewalt gemeldet, die meisten Opfer, mehr als achtzig Prozent, waren Frauen. Etwa jede vierte Frau in Deutschland erfährt mindestens einmal in ihrem Leben Gewalt durch ihren aktuellen oder ehemaligen Partner. Und laut einer großen EU-Studie aus dem Jahr 2014 meldeten sich nur vierzehn Prozent der Gewaltbetroffenen bei der Polizei. Hochgerechnet wären das also mehr als 850.000 Frauen, die jedes Jahr in Deutschland Opfer von häuslicher Gewalt werden. 97 Frauen jede Stunde. Jeden Tag versucht in Deutschland ein Mann, seine Partnerin oder Ex-Partnerin zu töten, jeden dritten Tag tut es einer. „Jeden zweieinhalbten“, präzisiert Clemm. In der Boulevardpresse ist dann oft von einem „Familiendrama“ oder einer „Eifersuchtstat“ zu lesen – und nicht von Femizid. Die Gewalt an Frauen wird immer noch romantisiert und verharmlost.

Was, wenn er nach einer harten Verurteilung erst recht auf Rache sinnt?

Viele Frauen, die bei ihr in die Kanzlei kommen, sorgen am Ende selbst dafür, dass es gar nicht erst zu einem Prozess kommt; sie tun alles dafür, dass die Täter nicht oder nicht so hart bestraft werden, wie es das Strafrecht eigentlich vorsieht. 
„Ich kann gar nicht mehr zählen, wie oft meine Mandantinnen schon Strafanträge zurückgenommen haben, wie oft sie von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht haben, um doch nicht gegen ihre Partner oder Ex-Partner aussagen zu müssen.“ Die Frauen bitten sie dann, das Verfahren irgendwie zu beenden, ohne dass die Täter bestraft werden. Denn irgendwann überkommt viele Angst: Was, wenn er seinen Job verliert? Was, wenn er eine hohe Geldstrafe bekommt? Was, wenn er nach einer harten Verurteilung erst recht auf Rache sinnt? „Nein, das kann ich ihm nicht antun. Dann bringt er mich wirklich um“ – das hat Clemm schon oft von Frauen gehört, die zu ihren prügelnden Partnern zurückkehrten. Er wird sich ändern, jetzt glaube ich es wirklich, sagen sie. Clemm lächelt sie an, wünscht viel Glück und sagt den Frauen, dass sie sich nicht dafür schämen müssen, wenn sie in ein paar Wochen oder Monaten wieder zu ihr kommen. 
 
Man fragt sich, ob es nicht furchtbar frustrierend und deprimierend ist, immer wieder dabei zusehen zu müssen, wie die Frauen zurück in die Hölle gehen? „Gesamtgesellschaftlich gesehen ist die Situation zum Verzweifeln. Ich bin nur nicht der Typ dafür.“ Clemm sagt das mit einem herausfordernden Lächeln. Sie ist voller Energie, will Dinge anpacken, sie will streiten, laut werden. Und deshalb vertritt sie nicht nur Betroffene im Gerichtssaal, sondern reist durchs Land, diskutiert auf Podien, demonstriert, postet auf Twitter, hält Vorträge, schult Richterinnen, Sozialarbeiter und Polizisten und liest aus ihrem Buch „AktenEinsicht. Geschichten von Frauen und Gewalt“. Ein Vortrag, den sie seit vielen Jahren hält, trägt den Titel: „Nur weil er seine Frau schlägt, ist er noch lange kein schlechter Vater“. Vor einem Jahr erschien ihr Buch „Gegen Frauenhass“.
 
Diese unfassbare Gewalt und diese Ungerechtigkeit, man fragt sich, wie sie damit jeden Tag klarkommt. „Was soll ich denn anderes machen, als damit umzugehen“, sagt sie. Die heikelsten Fälle sind für Clemm jene an der Schnittstelle von Straf- und Familienrecht. Wenn ein Mann seine Partnerin misshandelt und es nach einer Trennung um die Frage geht: Was passiert mit den gemeinsamen Kindern? In Deutschland wird der Gewaltschutz regelmäßig ausgehöhlt zugunsten des Umgangsrechts des Vaters mit seinen Kindern. Weil viele Verfahrensbeteiligte der Meinung sind, das Wichtigste sei es, den Kindern ein Leben mit beiden Elternteilen zu ermöglichen. Clemm gelingt es dann kaum, ihre Mandantinnen vor dem gewalttätigen Ex-Partner zu schützen. Es gelingt nicht, wenn das Gericht zunächst den sogenannten begleiteten Umgang anordnet, die Mutter also die Kinder zu einer Institution bringen muss, wo der Vater mit ihnen unter Aufsicht Zeit verbringt; und erst recht dann nicht, wenn danach unbegleiteter Umgang angeordnet wird: Der Ex-Partner hat wieder Zugriff auf die Frau, sie ist ihm weitgehend schutzlos ausgeliefert – genau wie die Kinder. Nicht jeder Mann, der seine Partnerin misshandelt hat, macht vor den Kindern halt.

„Ich fürchte den Tag, an dem das Telefon klingelt und jemand sagt: Sie ist tot.“

Während dieser Verfahren erlebt Clemm die bedrückendsten Momente ihrer Arbeit. Ihre Stimme wird leiser, tastender, wenn sie davon erzählt. „Ich fürchte den Tag, an dem das Telefon klingelt und jemand sagt: Sie ist tot.“ Bei einem ihrer jüngsten Fälle wäre es fast so weit gewesen. Der Mann stand bereits vor der Haustür, er hatte den geheimen Aufenthaltsort ihrer Mandantin herausgefunden und versuchte, in die Wohnung zu gelangen. Die Polizei kam gerade noch rechtzeitig.
Clemm kann ihren Mandantinnen nicht geben, was sie bräuchten, um ohne den gewalttätigen Partner zu leben: eine Arbeitsstelle, bezahlbaren Wohnraum, psychische Gesundheit, die Kraft, allein für die Kinder zu sorgen, manchmal eine neue Identität.

Es ist bisher nicht vorgesehen, den Frauen ein zuverlässiges Netz zu bieten, das sie nach der Flucht aus der gewalttätigen Beziehung auffangen könnte. In Deutschland, einem der reichsten Länder der Welt, gibt es nicht genug Plätze in Frauenhäusern. „Ich kann verstehen, wenn Frauen sagen: Ich gehe wieder zurück, dann bekomme ich wenigstens mit, was er mit den Kindern macht“, sagt Clemm. Eine Mandantin, die sie mehrere Jahre begleitet hat, ist immer wieder mit den Kindern umgezogen, hat sich versteckt, hat gemeinsam mit Clemm Verfahren um Verfahren eröffnet. Er fand sie immer wieder. Bis sie irgendwann sagte, dann gehe ich eben zurück. Dann muss er mich eben umbringen. 
Trägt sie all diese Geschichten mit nach Hause? „Sie können sich nicht vorstellen, was für ein wunderbarer Ausgleich Englischvokabeln sind.“ Clemm hat drei Kinder im Teenageralter – wenn sie abends nach Hause kommt, dann kann sie sehr gut umschwenken aufs Vokabelabfragen. Oder aufs Ausgehen mit Freunden und Lesungen, Konzerte, Theater.

 
„Wir müssen uns als Gesellschaft mit der Frage konfrontieren, warum so viele Männer so gewalttätig sind“, schrieb Clemm schon im November 2022 auf Twitter. „Es ist wohl schlicht zu anerkannt, dass Frauenkörper und Körper von queeren Menschen benutzt, versehrt, fremdbestimmt und vernichtet werden dürfen. Sonst würde es doch mehr Bemühungen gegen geschlechtsspezifische Gewalt geben. Überall.“
Nach 30 Jahren hat sich Clemm an das Grauen gewöhnt, mit dem sie im Gerichtssaal tagtäglich konfrontiert ist. In einem ihrer ersten Prozesse als junge Anwältin vertrat sie die Kinder einer Frau, die von ihrem ehemaligen Partner getötet worden war. Der Gerichtsmediziner sprach wortreich über die Todesursache, zeigte den blutdurchtränkten Mantel, den das Opfer bei der Tat trug, und wandte sich an Clemm: Junge Frau, stehen Sie doch mal auf! Sie sollte den Mantel anziehen. Da stand sie also, und der Mediziner simulierte die Tat, ihr wurde schummerig. Heute, in ihrem Büro, schüttelt sie sich amüsiert, wenn sie an diese absurde Situation zurückdenkt. Manchmal bleibt nur noch Lachen.
Gewöhnt hat sie sich an vieles, abstumpfen will sie nicht. Es wäre nicht gut, sagt sie, wenn sie die Dinge nicht mehr berühren würden. Besonders schwer ist es, wenn sie Angehörige von Opfern vertritt, die getötet wurden. „Weil es ja nicht mehr gut werden kann. Und keine Zukunft gibt.“
 
Clemm sagt, sie will den Menschen, die sie vertritt, nicht nur zu ihrem Recht verhelfen; sie will sie so gut wie möglich durch eine existenzielle Phase in ihrem Leben begleiten. Dabei geht es nicht nur um rechtliche Fragen. Wenn die Mandantinnen sichtbar verletzt sind – wollen sie die Narben im Gesicht überschminken, oder sollen sie alle im Gerichtssaal sehen? Will die Frau, deren Mann ihr alle Zähne ausgeschlagen hat und deren Gebiss ständig herausfällt, dass man vor Gericht sieht, wie versehrt sie ist? Oder behält sie ihre Würde, indem genau das nicht sichtbar wird? „Das Tolle an meinem Beruf ist, miterleben zu dürfen, wie Frauen auf beeindruckende Weise ihr Leben nach so einer schweren Tat meistern. Manchen begegne ich Jahre später und sehe, dass sie es geschafft haben.“
Und so wird in Clemms Büro nicht nur geweint, sondern auch viel gelacht. Wenn die Frauen bei ihr sitzen und sich fragen: Wie kann es sein, dass ich mich so unfassbar oft habe grün und blau schlagen lassen? „Das ist so krass und oft nur noch absurd. Und dann lachen wir gemeinsam.“ Das Lachen der Verzweifelten, das Lachen der Erleichterten.
Manchmal, sagt sie, sei ihr auch im Gerichtssaal zum Weinen oder körperlich übel. Sie lässt beides nicht mehr zu. „Es geht nicht um mich.“ 
Das Urteil in Moabit wird drei Wochen nach Clemms Plädoyer gesprochen: dreizehn Jahre Haft wegen versuchten Mordes. Der Täter zeigt keinerlei Reue. Clemm ruft ihre Mandantin sofort nach der Verhandlung an. Dreizehn Jahre Ruhe ­– wenn man das so nennen kann. Vor Gericht hatte die Frau von ihrer großen Angst erzählt: ihrer Angst, ihr Ex-Freund werde seine Tat vollenden, sobald er wieder frei ist.
 

 
Menschen, die Gewalt durch einen Partner oder Ex-Partner erleben oder bedroht werden, können sich an das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ wenden. Unter der Telefonnummer 08000 116 016 und via Onlineberatung (www.hilfetelefon.de) werden Betroffene anonym und kostenlos unterstützt, 365 Tage im Jahr rund um die Uhr.
Die Initiative „Gewaltfrei für die Zukunft“ arbeitet gerade an einer App, die schon bald Betroffenen dabei helfen soll, einer gewalttätigen Beziehung zu entfliehen: www.gewaltfrei-in-die-zukunft.de/app

 
 

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