Die schlimmsten Dick-Pics der Welt

Bekenntnisse einer alleinerziehenden Mutter

Von Jacint Nandi; Illustration: Frank Höhne

(Aus DUMMY Nr.72, „Allein“, 2021)

„Ich habe so viel Mitleid mit euch!“, bricht es aus meiner Freundin Alicia heraus. „Mit dir. Mit euch. Ich würde mich umbringen, wenn ich alleinerziehend wäre. Das ist das Einsamste, was ich mir vorstellen kann.“ 
„Okay“, sage ich. 
„Ich könnte das nicht!“, sagt sie, schließt ihre Augen und schüttelt dabei den Kopf. 
„Okay“, sage ich noch mal. Ich weiß nicht so richtig, was ich antworten soll. 
Meine Freundin Alicia. Sie ist gerade 31 geworden, hat zwei Kinder, der Mann macht … was eigentlich? Irgendwas mit Computern? Programmierer vielleicht? Kundenbetreuung bei der Bank? Bei der Telekom? Irgendwas macht er, das weiß ich. Irgendetwas Langweiliges, und zwar Vollzeit. Alicia wollte Schauspielerin werden – eigentlich ist sie Schauspielerin –, aber jetzt arbeitet sie als englischsprachige Kitaerzieherin. Sie ist voll hübsch, ihr Vater ist Professor, nicht in Harvard, aber in so einer ähnlich renommierten Uni. Ein gemeinsamer Kumpel hat mir mal erklärt, dass ihr Papa eine Berühmtheit sei bei all denen, die klug sind und aus den Staaten kommen. Meine Freundin Alicia. Würde sich umbringen. Wenn sie alleinerziehend wäre. Okay. 
„Bist du schockiert?“, fragt sie. 
„Nein?“, antworte ich. Genervt, denke ich. Alicia, ich bin 
genervt. 
„Ich könnte die Einsamkeit nicht ertragen“, sagt sie. 
„So einsam bin ich doch gar nicht“, insistiere ich. 
„Ich bin oft allein mit den Kindern“, erzählt sie. „Niko hat einen anstrengenden Job und auch viele Hobbys. Ich bin oft allein. 
Aber ich bin nie allein. Weißt du, was ich meine? Ich würde mich sofort umbringen!“ 
„Gemeinsam mit den Kindern?“, frage ich höflich. Was soll der Scheiß?, denke ich: Immer wenn ich vorbeikomme, ist Alicia allein mit ihren zwei sehr nervigen Kindern, und bis jetzt hat sie es doch geschafft, sich nicht umzubringen. Ihr Mann arbeitet entweder oder ist im Fitnessstudio. Ich hoffe sehr, dass er fremdfickt, und dann kann Alicia sich ihr Mitleid in den Arsch stecken. Ihr Mitleid und ihre selbstzufriedenen Suizidfantasien. Steck’s dir in deinen Arsch, Alicia – wie ein Zäpfchen voller Herablassung. 
„Wen rufst du denn an, wenn der Hausmeister gemein zu dir ist?“, fragt sie. „Ich rufe immer sofort Niko an. Und heule und heule! Und er beruhigt mich. Wenn ich ihn nicht hätte … ich könnte nicht überleben.“ 
„Mein Hausmeister ist immer sehr nett zu mir“, sage ich. „Du musst einen Push-up-BH tragen und ein Top, dann sind sogar deutsche Hausmeister nett.“ 
Eigentlich hatte ich vor, nach Hause zu gehen und zu arbeiten, aber das Gespräch mit Alicia hat mich so traurig gemacht, dass ich dann doch zu einer Pyjamaparty gehe, zu der eine Deutschrussin eingeladen hat. Dort sitzen ungefähr tausend Alleinerziehende und dreitausend Kinder herum, und die Deutschrussin, die ich kaum kenne, schickt immer wieder eine von uns zum Späti, um Sekt zu kaufen. Die Mädels reden darüber, wie es ist, bei Tinder zu sein als Alleinerziehende, und was es bedeutet, wenn man das im Profil angibt. Schlimm ist das – und die Qualität der Dick Pics sinkt deutlich. Alle Mädels auf der Party haben ihre hässlichsten Dick Pics auf ihren Handys gespeichert, und wir reichen die rum wie Wissenschaftlerinnen, die neues Material gekriegt haben nach langem Warten. Manche der Dick Pics sind so hässlich, man kann kaum an die Evolution glauben. 
„Warum machen Männer immer so hässliche Dick Pics?“, 
frage ich. 
„Ich weiß, warum“, sagt Libby, eine Britin. „Sie haben nicht den weiblichen Blick auf die Welt. Deswegen wissen sie nicht, was hübsch ist und was hässlich. Guck dir das hier an.“ 
Sie zeigt mir das hässlichste Dick Pic, das ich je in meinem Leben gesehen habe. Ich kann es nicht beschreiben, so hässlich ist es. Der Schwanz ist nicht klein – die Größe ist nicht das Problem –, aber so wütend rot, und die Behaarung sieht aus wie Puppenhaare. O mein Gott, er tut mir leid. Jemand sollte wirklich einen Onlinekurs anbieten. Attraktive Penisbilder gestalten. 
Die Mädels erzählen traurige Geschichten von dummen, hässlichen Männern, manche arm, manche reich, ab und zu normal, aber alle dumm, alle hässlich, und alle behandeln Frauen scheiße, weil sie alleinerziehend sind. Einer Alleinerziehenden ist sofort nach dem Sex ein Taxi gerufen worden. Einer ist beim ersten Date gesagt worden, dass Alleinerziehende keinen Mann haben, weil sie zu promisk, zu feministisch und oft auch zu dick sind. Aber die Deutschrussin erzählt auch lustige Geschichten. Einmal ist ein Typ im Bett neben ihr eingeschlafen, nachdem er gekommen ist, obwohl sie noch nicht „fertig“ war – ich liebe es, dass für die russischen Menschen der Sex erst vorbei ist, nachdem die Frau gekommen ist –, und sie hat ihm, während er schlief, seine Armbanduhr geklaut. „Und niemand brauchte mir ein Taxi zu bestellen“, sagt sie. „Ich habe eine App.“ 
Eine junge Deutsche, die ich kaum kenne, sagt leise, schüchtern: „Männer wollen keine echte Beziehung haben mit Alleinerziehenden. Deswegen muss man lügen und dann erst beim dritten Date die Kinder erwähnen.“ 
„Aber wenn du die Kinder verschweigst, halten sie dich für eine Psychopathin, oder?“, frage ich. 
„Du musst doch die Kinder nicht erwähnen! Ich hatte mal einen Typen bei mir, dem ich erzählt habe, ich passe manchmal auf meinen Neffen auf – deswegen das viele Spielzeug. Das geht den doch gar nichts an. Sie sollen so wenig wie möglich wissen, die Kerle. So wenig wie möglich. Falls du jemals eine Uhr klauen musst oder so was …“ 
Vielleicht hat Alicia doch recht, denke ich. Vielleicht ist das Dasein von uns Alleinerziehenden das Einsamste, das man sich überhaupt vorstellen kann. Eines der Kinder kommt weinend in die Küche, die Deutschrussin beruhigt es und bringt es wieder zu den anderen Kindern. Warte mal, denke ich, als ich mir noch etwas Sekt einschenke. Hat Alicia nicht neulich erzählt, dass Niko seine Uhr im Fitnessstudio verloren hat? Vielleicht gibt es überall auf dieser Erde nur Einsamkeit, und unser ganzes Leben ist lediglich der verzweifelte Versuch, uns davon abzulenken.

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