Die Monddiebe
Polen leidet unter zu viel Geschwisterliebe. Oder: Warum ein Land zerstört wird.
Von Thomas Dudek
Vor langer Zeit lebten in dem Dorf Zapiecek die Brüder Jacek und Placek: süße Zwillinge mit blonden Haaren, die vor lauter Faulheit nichts mit ihrem Leben anzufangen wussten. Und so beschlossen die zwei Nichtsnutze, den Mond zu stehlen. „Da der Mond so golden ist. Und da Gold sehr wertvoll ist, werden wir in unfassbarem Reichtum leben“, sagten sie sich und begaben sich auf die Reise zu dem verheißungsvollen Himmelskörper.
Eine Diebestour, die jedoch nicht mit dem Raub des Mondes endete, sondern mit dem Diebstahl von Polens Zukunft: Über vier Jahrzehnte nach dem Kinderfilm „Über zwei solche, die den Mond stahlen“ griffen die Zwillinge Kaczyński nach den wichtigsten Staatsämtern in Polen. Jacek alias Jarosław wurde Präsident und Placek, der im wahren Leben Lech hieß, ein Jahr später Ministerpräsident. „Über zwei solche, die die Macht stahlen“, heißt es seit 2005 bei vielen ihrer Landsleute.
Der Kinderfilm hieß in der DDR „Die zwei Monddiebe“ und erfreute sich großer Beliebtheit. Für eine ganze Generation, die in den 60er- und frühen 70er-Jahren geboren wurde, war der regelmäßig im Fernsehen ausgestrahlte Film ein fester Bestandteil ihrer Kindheit – wie die tschechischen Märchenfilme. Es war wahrscheinlich auch das erste und das letzte Mal, dass sich ganze Familien Lech und Jarosław Kaczyński über eine Stunde anschauen konnten, ohne sich lauthals gegenseitig zu beschimpfen. Die beiden Monddiebe haben die polnische Gesellschaft gespalten.
Jarosław und Jacek Kurski, ebenfalls zwei Brüder, stehen für diese Gesellschaft, für pro und kontra Kaczyński. In den 80er-Jahren waren sie noch gemeinsam in der polnischen Opposition tätig, weshalb Jarosław 1983 sogar zwei Monate ins Gefängnis musste. Beide schrieben in dieser Zeit für oppositionelle Zeitschriften. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus im Jahr 1989 landeten beide im Politikapparat. Jarosław wurde kurzfristig Sprecher des zum Präsidenten gewählten Solidarność-Führers Lech Wałęsa, sein Bruder Jacek engagierte sich in verschiedenen konservativen Parteien.
Heute trennen beide Welten voneinander, obwohl ihre Warschauer Büros gerade mal vier Kilometer voneinander entfernt sind. Während der älteste Kurski-Bruder seit 2007 stellvertretender Redakteur der liberalen „Gazeta Wyborcza“ ist, die in der Kaczyński-Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) eine Gefahr für die polnische Demokratie sieht, baut der Jüngere seit Januar als Intendant der Telewizja Polska das öffentlich-rechtliche Fernsehen im Sinne der neuen Regierung zu einer „nationalen Anstalt“ um. Nicht das erste Mal, dass die nationalkonservative Partei sich daranmacht, die politischen Fundamente des Landes neu zu gießen. Bereits 2005 begannen die Kaczyński-Zwillinge und ihre Anhänger, das 1989 entstandene postkommunistische Polen und sein angeblich korruptes System zu ersetzen. Auch damals waren die politischen Voraussetzungen für ihren Staatsumbau gegeben. Zuerst gewann der PiS-Kandidat Lech Kaczyński die Präsidentschaftswahlen, wenige Wochen später gewann die von seinem Bruder geführte Partei die Parlamentswahlen.
Der damalige Wahlerfolg war aber nicht nur ein Sieg der Kaczyńskis und ihrer PiS, sondern auch ein ganz persönlicher Triumph von Jacek Kurski, dessen Skrupellosigkeit ihn zum besten Wahlkämpfer der Kaczyńskis machte. „Aus gut informierten Kreisen an der Küste hört man, dass sich der Opa von Donald Tusk freiwillig zur Wehrmacht gemeldet haben soll“, sagte er nur wenige Tage vor dem entscheidenden zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen in einem Interview für das Wochenmagazin „Angora“. Eine Lüge, die ihre Wirkung nicht verfehlte. Tusk, heutiger EU-Ratspräsident, musste sich im entscheidenden Urnengang seinem Widersacher Lech Kaczyński geschlagen geben.
Mit dem „Opa aus der Wehrmacht“, der sich in Wirklichkeit nicht freiwillig gemeldet hatte, sondern als Kaschube 1944 zwangsrekrutiert wurde und nach zwei Monaten desertierte, um sich den polnischen Streitkräften im Westen anzuschließen, begannen auch die offenen Feindseligkeiten, die die polnische Politik bis heute bestimmen. Nicht wenige sprechen von einem „polnisch-polnischen Krieg“, in dem Jacek Kurski kräftig mitmischt. „Ich werde der Bullterrier der Kaczyńskis sein. Ich werde sie nicht enttäuschen“, sagte er 2005.
Jacek Kurski hielt sein Wort. Donald Tusk und seiner Bürgerplattform warf er vor, ihren Wahlkampf mit illegal abgezweigten Geldern finanziert zu haben. Eine Aussage, für die er sich öffentlich entschuldigen musste. Selbst vor der Zeitung seines älteren Bruders machte er nicht halt und behauptete in einer Talkshow, diese attackiere nur deshalb die PiS und die Brüder Kaczyński, weil für bestimmte Werbepartner die Politik der nationalkonservativen Partei eine Gefahr darstelle – obwohl dieselben Unternehmen nachweislich auch in anderen Blättern Anzeigen schalteten. Als ihn mehrere Journalisten fragten, weshalb er die Sache mit dem Großvater von Tusk überhaupt in die Welt gesetzt habe, soll Jacek Kurski nur entgegnet haben: „Die Sache mit der Wehrmacht ist Quatsch. Doch wir ziehen das durch, da es einem das dumme Volk schon abnimmt.“
„Warum hältst du an diesem verfickten Kurski fest?“, fragte Donald Tusk 2005 seinen Kontrahenten Lech Kaczyński. Die Antwort: „Er mag verfickt sein, aber ich will ihn lieber auf meiner Seite haben.“
Um den Fanatismus von Jacek Kurski zu verstehen, muss man weit zurückblicken: 1989 einigten sich Vertreter der Solidarność und der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PZPR), auf halbwegs freie Wahlen. Der am 4. Juni 1989 stattgefundene Urnengang entwickelte sich für das kommunistische Regime zum Todesstoß. Obwohl 65 Prozent der Parlamentssitze der PZPR vorbehalten waren, war der Erfolg der Opposition so deutlich, dass bereits im August 1989 mit Tadeusz Mazowiecki ein Vertreter der Opposition mit der Regierungsbildung beauftragt wurde. Mit dem Niedergang der Vereinigten Arbeiterpartei, die sich im Januar 1990 auflöste, kamen auch die ersten Spannungen und Konflikte innerhalb der Solidarność zum Vorschein. Während sich Mazowiecki, der zum liberalen Flügel der Opposition gehörte, für einen Schlussstrich aussprach, forderte der konservative Teil eine Abrechnung mit den einstigen kommunistischen Machthabern und ihren Helfershelfern. Zum endgültigen Knall kam es 1992. Damals stellte die Regierung des ehemaligen Solidarność-Mannes Jan Olszewski Listen mit den Namen von insgesamt 66 Regierungsmitgliedern vor, die während der Volksrepublik als informelle Mitarbeiter des kommunistischen Sicherheitsdienstes tätig gewesen waren – darunter auch Lech Wałęsa, der damalige Staatspräsident und einstige Gewerkschaftsführer, der für viele Polen heute nur noch IM Bolek ist.
Die Veröffentlichung löste in der damals noch jungen Demokratie ein politisches Erdbeben aus. Noch in der Nacht vom 4. auf den 5. Juni 1992 sprach das Parlament auf Initiative von Präsident Wałęsa der Regierung Olszewski das Misstrauen aus. Eine Entscheidung, die für Jarosław und Lech Kaczyński sowie den damals jungen Jacek Kurski der endgültige Beweis dafür war, dass am Runden Tisch keine politische Wende eingeleitet worden war, sondern nur die Aufteilung des Staates zwischen kommunistischen Eliten und einzelnen Vertretern der Solidarność. Während Jacek Kurski mit „Die nächtliche Abwahl“ einen Dokumentarfilm über den Sturz der Regierung Olszewski drehte, verstanden es die Kaczyński-Brüder, allen voran Jarosław, aus dem Mythos politisches Kapital zu schlagen. Begünstigt durch Korruptionsskandale, die ganze Parteien in die Versenkung stießen und in die ehemalige Vertreter des kommunistischen Regimes verwickelt waren, wuchs bei den Bürgern, die mit den Folgen der wirtschaftlichen Transformation zu kämpfen hatten, die Wut. „Nicht für so ein Polen haben wir in der Solidarność gekämpft“, war von den Zwillingen bei jeder Gelegenheit über Jahre zu hören. „Eine Radikalisierung der Wendeverlierer“, bezeichnete die polnische Soziologin Maria Jarosz damals die Kaczyński-Politik, die dazu führte, dass die von ihm und seinem Bruder 2001 gegründete Partei bereits vier Jahre später zur stärksten Kraft im Sejm gewählt wurde.
Wie besessen Jarosław von dieser angeblichen Verflechtung zwischen organisierter Kriminalität, ehemaligen Kommunisten und Wirtschaftseliten war, zeigte seine einjährige Amtszeit als Ministerpräsident. Als er 2006 das Amt von Kazimierz Marcinkiewicz übernahm, gehörten wegen angeblicher Korruption überführte politische Gegner zu den alltäglichen Nachrichten. Selbst vor seinem Koalitionspartner, Andrzej Lepper von der Samoobrona, machte er nicht halt und brachte so die eigene Regierung zum Sturz. Bei den daraus resultierenden Neuwahlen siegte die Bürgerplattform von Donald Tusk.
Am 10. April 2010 ereignete sich eine Tragödie, die das politische Denken von Jarosław Kaczyński weiter radikalisierte und auch seine öffentliche Rolle veränderte. Denn mit dem Flugzeugunglück von Smolensk verlor Jarosław nicht nur seinen Bruder und engsten Ansprechpartner, sondern vor allem auch seinen politischen Kompagnon, mit dem er sich perfekt ergänzte. Während Jarosław als grober Rhetoriker bekannt war, galt Lech als der versöhnlichere der beiden Brüder, der dadurch wie geschaffen war für die wichtigsten Staatsämter.
Wie einsam es um ihn wurde, musste Jarosław auch politisch erfahren. 2010 bemühte er sich vergeblich um das Amt des polnischen Präsidenten. Bei den Parlamentswahlen 2011, bei denen er auch als Spitzenkandidat seiner Partei antrat, wurde Tusks Bürgerplattform als erste polnische Regierungspartei überhaupt im Amt bestätigt.
Dass Jarosław Kaczyński aber immer noch politisches Gespür hat und aus seinen Fehlern lernt, zeigten die Wahlen 2015. Nicht er selbst trat gegen Bronisław Komorowski an, sondern der bis dahin relativ unbekannte Andrzej Duda. Bei den Parlamentswahlen war Beata Szydło die Spitzenkandidatin, während sich Kaczyński wieder im Hintergrund hielt. Der Parteivorsitzende, wie Jarosław Kaczyński in Polen allgemein genannt wird, vermied auch das Thema Smolensk. Viele Polen finden die Verschwörungstheorien, denen zufolge der Absturz von Lech Kaczyński von Russland betrieben wurde, nur noch ermüdend. Im Präsidentschaftswahlkampf agierte Jacek Kurski als persönlicher Berater von Andrzej Duda.
Dass Jarosław Kaczyński jedoch im Hintergrund die Fäden zieht, wurde allen klar, als die PiS das Kabinett vorstellte. Die Namen der zukünftigen Minister wurden ausgerechnet zu dem Zeitpunkt vorgestellt, als die designierte Regierungschefin im Urlaub weilte. Und dass auch sie jederzeit von ihm abberufen werden kann, machte Kaczyński jüngst in einem Interview deutlich. „Beata Szydło als Ministerpräsidentin ist ein Experiment“, gab er offen zu. Nicht vergessen hat Jarosław auch seinen Bruder. Als am 10. April mit allem möglichen Pomp der sechste Jahrestag des Unglücks von Smolensk begangen wurde, sagte Kaczyński, dass nun „die Zeit gekommen ist, zu der die Wahrheit das Licht der Welt erblickt“. Nicht wenige empfanden dies als eine offene Drohung.
Ein Gefühl, das viele Polen seit Monaten auf die Straßen treibt, um gegen die radikalen Veränderungen zu protestieren. Bei einer dieser Demonstrationen trat auch Jarosław Kurski ans Mikrofon. Was ungewöhnlich ist. Obwohl er als stellvertretender Chefredakteur der regierungskritischen „Gazeta Wyborcza“ für Titelgeschichten mitverantwortlich war, in denen sein Bruder Jacek beispielsweise als „Lügenbold“ bezeichnet wurde, hat er es bisher doch immer vermieden, sich öffentlich zu seinem Bruder zu äußern. „Wenn die Familie an Feiertagen zusammenkommt, wird das Thema Politik gemieden, damit es zu keinem Streit kommt“, erklärte die Mutter der Kurski-Brüder, die selber für die PiS im polnischen Senat saß, einst in einem Interview.
Doch diesmal konnte er nicht anders und sagte nur einen kurzen Satz, der in Polen wegen seiner Deutlichkeit für Schlagzeilen sorgte. „Nicht alle Kurskis sind für die Katz.“