Die Furcht deines Leibes

Über den Irrglauben, dass uns unsere Kinder immer ganz nah sind (und nah sein müssen)

Text: Paulina Czienskowski; Fotos: Amy Woodward; aus DUMMY N°82, „Fremde“, Frühjahr 2024

Dein Neugeborenes reckt seinen Kopf, so groß wie eine Apfelsine, immer weiter in Richtung deiner Brustwarzen. Es ist klein, gerade mal 3.000 Gramm schwer, und irgendwie ohne Gesicht, denkst du. In den vergangenen elf Stunden, seit es offiziell Mensch geworden ist, hatte es nur ein einziges Mal die Augen geöffnet, und doch weiß es genau, was es überleben lässt.

Und was ist mit dir? Was weißt du? Bruchstücke aus Erzählungen, auch aus Büchern. Müsstest du nicht genau wissen, wie du das Neugeborene jetzt ernährst, damit es nicht mehr als zehn Prozent seines Geburtsgewichts verliert? Wie du es anfasst, ohne es zu zerbrechen? Es wickelst, es in den Schlaf wiegst? Diesem Wesen möglichst nahekommst, das du ja eigentlich noch gar nicht kennst?

Laut Wissenschaft habt ihr, Mutter und Kind, in den vergangenen neun Monaten Körper in Körper Zellen ausgetauscht. Jahrzehntelang werden sie in euren Lungen und Herzen bleiben. Laut Aufklärung (Rousseau), Psychoanalyse (Freud) und Nationalsozialismus („Mutterkreuz“) ist die Mütterlichkeit ein Instinkt. Du wehrst dich gegen das Patriarchat, aber hier im Krankenhaus – offener Körper, offene Seele – bist du einfach nur erschöpft. 

So wie die fünfzig Zentimeter in deinen Armen, denen das Saugen schwerfällt. Die erste Milch wird aus deinen Brüsten gestrichen, dem Neugeborenen in den Mund geträufelt; goldgelbe Tropfen, die aus der Spritze im halb geöffneten Mäulchen landen. Du denkst an den fast nackten Igelsäugling, damals im Kindergarten. Vier Jahre alt musst du gewesen sein, als ihr ihn mit genau so einer Spritze gefüttert und ihn später in einem Waldstück wieder freigelassen habt. 

Du willst begreifen, was hier in den vergangenen Stunden passiert ist, nur bleibt kaum Zeit für Klarheit, kein Raum für eindeutige Gedanken. Immerhin hattest du eben noch etwas in deinem Bauch, jetzt liegt dieses Etwas atmend auf ihm. Und das da ist jetzt dein Kind, auch wenn du es nicht kennst. Und du kannst es nicht wieder freilassen wie ein Igelbaby.

Als die Eventualität auf einmal Realität wurde, kamen Tränen, dann Wut. Du freutest dich nicht – auch weil es alle von dir verlangten. Ungefragte Glückwünsche. Du warst appetitlos, aber musstest dich übergeben, wenn du nichts aßt. Das Fremde machte Angst und wuchs dennoch in dir. Du erfuhrst, dass dein Körper das Kind jederzeit abstoßen könne, bis zum Schluss der vierzig Wochen Schwangerschaft. Ein Immunsystem bekämpfe alle fremden Gewebe oder Körper, und dieser Organismus, der da in dir wuchs, war deinem Organismus fremd. Ein Körper in dir, der nicht deiner war.

Noch bevor du wusstest, wie er dein Leben verändern würde, bestimmte er dich. Dein Essen, deinen Schlaf, dein Denken. Deine Konturen wurden weich. Im Spiegel sahst du manchmal jemand anderen. Du erinnertest dich an Simone de Beauvoirs Buch „Das andere Geschlecht“ und last dort, dass der Fötus die Gebärende bereichere und verstümmele, Teil von ihr werde und Parasit sei, dass er sie besäße und sie ihn. Genau diese Ambivalenz spürtest auch du.

In deinem Fruchtwasser schwamm wer, breitete sich rücksichtslos aus wie eine Riesenseerose im Amazonas

Du warst nun Wirt für etwas dir Unbekanntes. Mit dem Unterschied, dass sich ein Wirt nicht entscheiden kann, so wie du. Würde alles gut gehen, würdest du dem eigenen Leben ein fremdes zufügen, für das dein Körper extra ein Organ entstehen ließ. Die Plazenta nährte das Wesen, das spätere Kind, in dir. Diese Ausschließlichkeit überforderte dich, weil du gar nicht wusstest, wie sie sich anfühlen könnte, und sie faszinierte dich. Plötzlich glaubtest du zu wissen, Anfang und Ende des Menschen nie näher gewesen zu sein. Dem Tod für das Leben, das du hattest, und dem Leben eines nie vorher dagewesenen Wesens.

Du sahst dich belagert von etwas, das fremd, aber dein eigenes war. Oder vielmehr: als das gesehen werden musste. Das Gesetz, die Gesellschaft, sie erwarteten es von dir, auch du selbst. Du warst erleichtert, als du jeden Glückwunsch annehmen konntest, als du nicht mehr irritiertest und dachtest: Wenn es da ist, dann wird schon eintreten, was Erfüllung bedeutet. Oder?

Die Tritte eines Fremden in deinem Bauch, vielleicht bereiteten sie dich vor, erinnerten dich wortlos. Gerade eben noch viel Schwarz auf dem Ultraschall, dann schon ein kleiner Kopf, an den Armen Hände und Fingernägel. In deinem Fruchtwasser schwamm wer, breitete sich rücksichtslos aus wie eine Riesenseerose im Amazonas. Ob man das je begreifen könne, fragtest du die Ärztin, während sie den Schallkopf in deine fest gewordene Bauchdecke drückte.

Nach fast 280 Tagen kam dein Schrei ums Leben, danach folgte der erlösende Schrei deines Kindes. Du erinnerst dich an die Worte der Philosophin Luce Irigaray, dass man in der Schwangerschaft nicht zwischen Mutter und Kind unterscheiden könne. Das Durchtrennen der Nabelschnur veränderte nichts – und doch alles. Da ist nun ein fertiger Leib, den du nie vorher gesehen hast, aber ab der ersten Sekunde an dich schmiegen sollst, seine Brust auf deiner spüren, ihn wärmen. Der unregelmäßige Schlag des walnussgroßen Herzens soll dich nicht sorgen, sondern glücklich, der Geruch seiner dünnen Haut süchtig machen. Hoffend, dass dein Kind dich überleben wird; und du alles, was nun folgt.

Bei WhatsApp liest du: „Viel Spaß beim Kennenlernen“, und dann wird klar: Das Kind, das in dir wuchs, ist jeden Tag, jede Minute ein anderes. Alles scheint pausenlos im Wandel. Und wenn du gerade verstanden hast, wie „das alles“ geht, hältst du im nächsten Moment schon wieder ein fremdes Wesen in deinen Händen. Es verändert sich, verschiebt sich.

Die Autorin Joan Didion schreibt davon, wie abhängig Eltern davon seien, dass ihre Kinder auf sie angewiesen bleiben. Du fragst dich: Um das Fremdsein nie wieder zu spüren? Um im Sinne patriarchaler Narrative nicht zu enttäuschen? Um dich der Selbst-Implosion durch Scham zu entziehen, kein symbiotisches Gebilde abzugeben mit deinem Kind. Es ist doch deins! Du bist doch die Mutter! 

Die sich verändernden Neuronen in deinem Gehirn machen deine Gedanken zu einem Schlachtfeld. Überall fängst du Dinge an, gehst über zu anderen, bevor du etwas abgeschlossen hast. In Memes siehst du Wohnungen von Eltern, die im Chaos versinken, weil die ganze Aufmerksamkeit für ein einziges Lebewesen draufgeht. Du hörst es, noch bevor es zu schreien beginnt. Du schläfst anders, träumst nicht mehr, aber dein Kind neben dir ist zugedeckt, hat Schnuller, Platz, Ruhe. Eine Langzeitstudie vergleicht die Umwälzungen im Hirn einer jungen Mutter mit denen einer Pubertierenden.

Manchmal wirst auch du zum Kind, nur darfst du nichts auf den Boden schmeißen. Du denkst: Ich war mir nie näher und nie fremder

Der Eintritt des Fremden verändert auch Begriffe: von Zeit und Nacht, von Arbeit und Freundschaft, von Leben und Tod. Dawar eine Ordnung, die so nicht mehr gilt. Hier das Danach, dort das Davor, und immer deine Zerrissenheit zwischen diesen beiden Polen. Die Wehmut nach dem, was war, und der Gedanke daran, dass nichts mehr so wird, wie es war. Auch weil du plötzlich Sachen fühlst, von denen du vorher nicht wusstest, dass es sie gibt.

Die Monate vergehen, und mehr und mehr beginnst du, dich selbst in deinem Kind zu sehen, als wäre es mit Spiegelfolie umkleidet. Du siehst dich als Mutter, aber auch dich als Kind. Du siehst in ihm deine Eltern, siehst, was dir passiert ist, was versäumt wurde. Alter Schmerz tut weh, vor den Augen siehst du Bilder, von denen du nicht weißt, ob sie echt sind. Da sind deine Vergangenheit, deine Geschichte, fast greifbar, weil dein Kind dich erinnert. Und manchmal wirst auch du zum Kind, nur darfst du nichts auf den Boden schmeißen. Du denkst: Ich war mir nie näher und nie fremder.

Als dein Kind dich ein erstes Mal ablehnt, bist du so traurig, dass du seinen Blick meidest. Du sanktionierst dein Kind, weil es dich verletzt. Aber es ist zwei Jahre alt und hat noch nicht die Fähigkeit, empathisch zu sein. Das weißt du, du hast darüber ja gelesen. Es will dich nicht verletzen, und du versuchst, dir einzureden, dein Kind könne sich nur abwenden, weil es sich so sicher mit dir sei. Und trotzdem kannst du mit der Fremde zwischen euch nicht umgehen. Warst du doch zu selbstbezogen, zu stimmungsschwankend?

Du beobachtest Menschen und denkst, sie alle waren mal ein Klumpen, ein Embryo, ein Fötus, ein Neugeborenes, ein Säugling, ein Kind, ein Teenager. Die Erkenntnis ist so banal, dass es dir peinlich ist, dass sie dich so umhaut. Aber sie rührt dich, weil du daran denken musst, wie verletzlich jeder Mensch ist, wenn es doch heißt: Jedes Kind sei in seinem Selbstwert abhängig von seinen Eltern, auch mit achtzig noch. 

In einer Tierdoku siehst du eine Elefantenmama, die bei ihrem Jungen bleibt, bis sein Herz ein letztes Mal schlägt. Dir kommen die Tränen. So nah wie jetzt wird dir dein Kind bleiben, denkst du, die Ablehnung nur eine Phase sein. Doch da draußen schütteln Teenager ständig die Hand der Mutter ab. Du müsstest besser als alle anderen wissen, dass die Phasen der Entfremdung auch bleiben können. Und gerade deshalb hast du immer gesagt, bei dir wird es anders sein. Zwischen dir und deinem Kind wird keine Fremde existieren, weil ihr enttäuscht seid, nicht verzeihen könnt, es nicht besser konntet, Erwartungen habt, kollidierende politische Ansichten, große Egos, falsche Vorstellungen. Keine Fremde, die Worte und Umarmungen nicht mehr zulässt.Und dann fällt dir wieder Joan Didion ein, die beschreibt, wie uns unsere Kinder „unbekannter bleiben als ihren entferntesten Freunden; so wie wir für sie ähnlich undurchsichtig bleiben“. Wie tragisch, denkst du, wiederholt sich die anfängliche Fremde also einfach wieder. Sie verändert sich, verschiebt sich, aber sie bleibt. Vielleicht, denkst du, stopft man einander zu voll, verkennt in Momenten, dass der Beginn von Körper in Körper nicht bedeuten muss, für immer verbunden zu bleiben, als du auf einmal wieder das freigelassene Igelbaby vor dir siehst.

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